May Wonder oder Schneekugelgedanken

Geschrieben von Kendra Black

Alles begann damit, dass unsere Eltern sich (und uns Kinder gleich mit) voneinander trennten. Zugegeben, DAS war nicht ganz der Anfang vom ganzen Pech in meinem Leben. Also von vorne: Meine Granny erzählt immer wieder gern die Geschichte, wie ich mit vier Jahren aufs Dach ihres Nachbarn stieg, um meinen darauf folgenden Sturz im Misthaufen abzufangen... Im Grunde hatte ich Glück gehabt, aber worauf ich hinaus will ist: Ich hatte das Pech, den Haufen mit Kuhscheiße überhaupt in Anspruch nehmen zu müssen. Pannen dieser Art zogen sich seitdem durch die danach kommenden acht Jahre meines Lebens. Bis die Pannen sich entschieden, zu Mutanten zu werden und sich Zähne, Klauen, Borsten und grüne Warzen wachsen zu lassen. Ich brach auf dem Bürgersteig zusammen. Kreislauf, sagten die Ärzte. Unglücklicherweise hing mein linkes Bein auf die Fahrbahn. Und unglücklicherweise übersah dies der Fahrer eines dunkelgrünen Volvos... Das Bein wurde abgenommen und durch eine Protese ersetzt. Ihr könnt ruhig starren. Ich bin es gewohnt.

Tja, und dann, dann kam die Trennung. Zwischen diesen beiden durchaus traumatischen, Ereignissen lernte ich alles neu: Fahrradfahren, mit meinen Brüdern um die Wette laufen, Weitsprung, Tanzen (wenn auch ungelenk), Seilhüpfen, einfach alles. Rob hat gesagt, ich sähe aus wie eine Piratin. Ich glaub, er hat es damals nicht wirklich geschnallt. Was er aber merkte war, dass unsere Eltern begannen, sich entweder anzuschreien oder anzuschweigen. Abends drang kein leises Lachen mehr aus dem Wohnzimmer, das uns Geschwister einschlafen ließ. Etwas hatte sich verändert. Vielleicht schon vor langer Zeit, wir hatten es nur nicht bemerkt... Es dauerte lange, bis Mum und Dad uns alles erklärten. Zwei mal zwölf Monate, um genau zu sein. 730 Tage Hagel- , Graupel- und Regenwetter. Wir konnten uns so viel anziehen wie wir wollten, die Kälte spürten wir trotzdem. Fakt war: Mum hatte Affairen mit ihrer Chefin gehabt. Dad konnte es nicht fassen, denn er und Mum waren seit der Abschlussklasse ein Paar.

Wir saßen im Wohnzimmer. "Wisst ihr," sagte Mum, "Ich habe mich erst jetzt wirklich gefunden. Bisher wusste ich nicht wer ich bin, doch nun hab ich entdeckt, dass mir all die Jahre etwas gefehlt hat." Sie warf Dad einen kurzen Blick zu, doch er erwiederte ihn nicht. In seinen Augen stand der Schmerz geschrieben, den ich fühlte. Ich hatte in Dad schon immer lesen können und ich wusste, dass es Mum genauso ging. Aber sie verschloss sich dagegen, gegen die Liebe, die noch immer aus seinem Blick sprach.  "Und was wird aus uns?", Joshuas Stimme war rau und ich spürte seine Wut, aber vorallem seine Trauer. "Was habt ihr euch für uns ausgedacht? Ein Internat? Dürfen wir uns dann entscheiden bei wem wir die Ferien verbringen?" Seine Stimme war immer lauter geworden, triefte vor Zynismus.

Unsere Eltern schwiegen für einen Moment, dann räusperte sich Dad und ergriff, zum ersten Mal in unserem familiären Debattierclub, das Wort: "Josh und May, ihr werdet bei mir leben, und Rob, du..." , seine Stimme drohte zu brechen, "du wirst bei Mum wohnen." "Nein!", Robert hatte bisher auf dem Fensterbrett gesessen und in den Garten gestarrt. Er war sonderbar, man wusste nie, was er alles mithörte und verstand. "Nein!" wiederholte Rob und stand nun mit geballten Fäusten vor uns. Seine Augen blitzten. "Ich will bei Josh und May bleiben!" "Ach, Süßer", Mum seufzte, "Cassy hat ein großes Haus mit Garten und einen Labrador. Es wird dir gefallen..." Sie wollte auf ihn zugehen um ihn zu drücken, doch ich war schneller. Ich zog Robert in meine Arme und mit aufs Sofa. Doch nun stand Joshua in Kampfposition; ich hatte zu spät bemerkt, dass er aufgesprungen war, um die Katastrophe zu verhindern. "Was?", zischte er, "Du nimmst ihn mit zu deiner... zu deiner LESBE ?!?" Das letzte Wort schoss er wie einen Pfeil und es durchborte Mum unaufhaltsam. Volltreffer, dachte ich. "Ja", ihre stimme zitterte als sie antwortete, "ich werde mit Robert zu Cassandra ziehen." Wie es weiter ging kann man sich vorstellen: Josh stürmte aus dem Raum, Mum ging in die Küche zum Abwasch und mischte Tränen mit Spülmittel, Dad fuhr ohne ein Wort zur Spätschicht ins Krankenhaus, Rob saß wieder auf der Fensterbank und unterhielt sich mit den Spatzen in einer Sprache, die niemand von uns anderen je verstehen würde. Und ich, May, zweitältestes Kind von Modesty und Neil Wonder, saß immer noch auf der Couch. Meine Gedanken wirbelten herum wie in einer Schneekugel und ich konnte keinen von ihnen zufassenkriegen. Ich weiß nicht wie lange diese, mir fremde, May dort saß, ich weiß nur, dass irgendwann das Wort "Dinner" herüberschallte.

Wir zogen in der letzten Woche der Sommerferien um. Das Haus war verkauft, alle Kisten gepackt und die Scheidung geregelt worden. Wir verabschiedeten uns von unserem alten Zuhause. Dad streckte Mum die Hand hin, doch diese beachtete sie gar nicht und umarmte ihn. Robert kam zu mir, er weinte noch nicht, doch seine Sommersprossen wirkten blass und seine Augen hatten ihr Leuchten verloren. Er drückte mir eine Zeichnung in die Hand, unter der in sorgfältiger Schreibschrift stand: May und Robbie beim Taubenfüttern. Ich spürte wie mein T-Shirt nass wurde, aber da seins auch nicht trocken blieb, waren wir quitt. Durch Mums Umarmung konnte ich sehen, wie Josh Rob in die Luft warf wie früher und Dad, wie immer in diesen Momenten, "Seid vorsichtig, Jungs!" warnte. Ich musste lächeln und die Tränen liefen in meine Mundwinkel. Es kamen noch weitere Szenen des Abschieds und dann, dann war es besiegelt. Von nun an begann ein neuer Abschnitt. Ein neues Kapitel. Ein neuer Akt. Wir stiegen in die Autos und fuhren auf der Hauptstraße in unterschiedliche Richtungen davon.

Zu dieser Geschichte gibt es 11 Kommentare

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Lola B. – 4. April 2019

Ich finde, dass du wirklich unglaublich gut schreiben kannst. Immer wenn ich deine Geschichten lese überkommt ich ein schönes Gefühl, dass mich sonst nur überkommt wenn ich Bücher von Cornelia Funke lese. LG, Lola B.

Arya – 5. Januar 2019

OMG wie kannst du so gut schreiben ??? Es ist echt super!!!

Elea – 16. September 2018

Wunderschön geschrieben!!! Und sehr traurig.

Helena – 6. Januar 2017

Oh Gott, du wirst wahrscheinlich Schriftstellerin, Kendra . So gut würde ich auch gern schreiben können.

Katharina – 5. Januar 2017

Schön geschrieben

Kendra Black – 3. Januar 2017

Hey Waldelfe, ich weiß noch nicht wann ich zu einer Fortsetzung komme, habe aber schon echt viele Ideen im Kopf...

Waldelfe – 3. Januar 2017

Super Geschichte! Wann kommt die Fortsetzung?

Ellen – 3. Januar 2017

Wow, deine Geschichte hat mich ehrlich berührt, ich hatte Tränen in den Augen. Sehr gefühlsvoll und super geschrieben!

Linnea – 3. Januar 2017

Bitteschön, Kendra Black! LG, Linnea

kendra black – 2. Januar 2017

Danke Linnea! hab mich total über deinen Kommentar gefreut )

Linnea – 1. Januar 2016

Ich finde diese Geschichte sehr traurig. Ich könnte mir nie vorstellen, von geliebten Menschen getrennt zu werden, mit denen man so lange zusammengelebt hat und verwandt ist. Ich bewundere May, dass sie ohne tausend Tränen sagt, ein neues Kapitel würde beginnen. Das könnte ich bestimmt nicht. Außerdem mag ich deinen Schreibstil