Bilder und Geschichten, die uns alle verbinden

Kurz vor der großen Reckless-Premiere im September 2010 hatte Cornelia alle Hände voll zu tun. Trotzdem hat sie in ihrem Lieblingshotel in London gerne auf Michaels neugierige Fragen geantwortet.

Michael: Liebe Cornelia, heute stellst du dein neues Buch vor: Reckless. Wie geht es dir an so einem Tag, bist du sehr aufgeregt?

Cornelia: Eigentlich ist das meist nicht allzu schlimm, aber diesmal bin ich schon sehr aufgeregt. Es ist alles etwas anders als sonst: so viele Länder, so viele Kinder, die an so vielen Orten zusehen. Eine ganz neue Welt, die anders schmeckt als die Tintenwelt. Das erste Buch, an dem ich mit jemandem gearbeitet habe. Das erste Buch, für das ich ein Kostüm auf der Bühne tragen werde! Ja, ich bin wirklich aufgeregt.

Michael: Du hast sehr lange an der Geschichte gearbeitet. Welche Stelle magst du ganz besonders? Welche, findest du, hast du besonders gut hinbekommen? Denn es ist doch beim Schreiben bestimmt so wie beim Lesen: Es gibt Stellen in der Geschichte, die man lieber mag als andere, oder?

Cornelia: Ja, das ist allerdings so. Ich glaube, eins meiner Lieblingskapitel ist das, in dem Will den Stein flüstern hört. Aber ich liebe auch das Kapitel mit Chanute, die Szenen am Hexenhaus und ....man sieht schon, es ist NICHT leicht zu sagen, welche Stellen ich am liebsten mag.

Michael: Stimmt es, dass man manchmal gerade die Stellen mag, mit denen man beim Schreiben die größten Probleme und Mühe hatte? Und: Welche ist das bei Reckless, welche hat dir großes Kopfzerbrechen bereitet?

Cornelia: Ja, auch das ist wahr. Weil man an den Kapiteln, die es einem schwer machen, oft am härtesten arbeitet. Bei Reckless hat mir und Lionel der Anfang das größte Kopfzerbrechen gemacht. Wie viel verraten wir? Fangen wir mit dem erwachsenen Jacob an oder doch besser mit dem Kind? Wie viel zeigen wir von der Spiegelwelt? Wie folgt Clara Will? Undsoweiterundsoweiterundsoweiter. Ich habe sehr viele Fassungen geschrieben, aber nun liebe ich den Anfang sehr.

Michael: Gibt es etwas an der Geschichte, das du nicht magst, das dich ärgert? Sind zum Beispiel manche Figuren so dickköpfig, dass sie nicht tun wollen, was du möchtest, oder passieren Sachen, die du dir ganz anders erhofft hast? Hast du etwas nicht so hinbekommen, wie du es ursprünglich wolltest?

Cornelia: Nein, eigentlich habe ich all das beseitigt, womit ich nicht zufrieden war. Und die Figuren haben mir zwar sehr oft nicht gleich verraten, wo es hin geht, aber hatte ich das erst einmal herausgefunden, haben sie es mir sehr leicht gemacht. Clara war die Figur, über die Lionel und ich uns am meisten den Kopf zerbrochen haben, denn wir wollten nicht, dass sie nur die klassische weibliche Reisebegleiterin ist, wie man ihnen gerade im Film so oft begegnet — Dekoration, aber nicht mehr. Viele Märchen sind ja über die Jahrhunderte so bearbeitet worden, dass die Frauen immer hilfloser und dümmer wurden. Das sollte bei uns natürlich nicht passieren.

Michael: Hast du ein Lieblingsmärchen? Hast du früher eines gehabt, und ist es heute ein anderes?

Cornelia: Mein Lieblingsmärchen ist wohl das mit den sieben Brüdern, die sich in Schwäne verwandeln und von ihrer Schwester gerettet werden. Aber im Kopf steckt mir am hartnäckigsten die Gänsemagd, in der die Heldin erleben muss, dass ihrem Lieblinsgpferd Falada der Kopf abgeschlagen und an das Tor genagelt wird, durch das sie jeden Morgen die Gänse treiben muss. Ich fand das als Kind entsetzlich traurig.

Michael: Jacob, sagst du, liebt die Angst. Wie kann das denn gehen, dass jemand die Angst liebt? Die Angst ist doch zum Fürchten.

Cornelia: Ich habe von meinem Sohn gelernt, dass man die Angst auch lieben kann. Er macht Überschläge vom Dach meines Schreibhauses oder vom Balkon, und als ich ihn mal gefragt habe, ob er denn überhaupt keine Angst hat, hat er geantwortet: 'Natürlich, aber deshalb mach ich es doch gerade.' Ben hat wohl eher den Grund, dass er es liebt, die Angst zu besiegen und den Rausch zu spüren, den das bringt. Jacob kennt das sicher auch, aber er benutzt die Angst auch, um andere Gefühle zu übertönen.

Michael: Auf dem Papier hast du ja mit all deinen Figuren zu tun, mit Jacob und Kamien, mit Chanute und dem Schneider und Fuchs und Valiant, mit Will und der dunklen Fee... Aber das ist "nur" das Papier. Vor welchen deiner Figuren fürchtest du dich, welchen würdest du in Wirklichkeit lieber nicht begegnen? Du sagst, du bist alle auch immer selbst ein Stück weit. Das heißt aber nix. Denn man kann sich manchmal doch auch vor sich selbst fürchten.

Cornelia: Ja, das stimmt. Aber bei Reckless möchte ich wohl nur dem Schneider nicht begegnen. Alle anderen sind ja nicht nur gut oder böse. Die Rote Fee würde ich auch nicht gern treffen, aber das hat den Grund, dass ich sie nicht besonders mag.

Michael: Als du die Tintentrilogie geschrieben hast — Tintenherz, Tintenblut und Tintentod -, da gab es Leute, die du dir vorgestellt hast, die deiner Fantasie als Vorlage dienten, zum Beispiel Schauspieler wie Brendan Fraser für die Figur von Mo. Bei wem hast du dich diesmal bedient, wer war für die Personen in Reckless Anregung und Vorbild für deine Vorstellungskraft?

Cornelia: Bei Reckless war das nicht nötig. Nur bei Clara habe ich mir manchmal die Tochter einer schottischen Freundin vorgestellt, aber ich habe ihr dunkles Haar blond gefärbt, weil die Feen schon dunkel waren und auch sonst einiges anders gemacht. Alle anderen Figuren stellten sich sehr lebhaft auch ohne Vorbild ein. Und weder Lionel noch ich wüssten, wen wir für die Rollen in einem Film casten würden.

Michael: Kannst du die Goyl leiden?

Cornelia: Ja. Ich mag sie sogar sehr, vielleicht weil ich schnell Mitgefühl mit denen habe, die unterdrückt oder gejagt werden. Vermutlich würde ich sie, wäre ich die Kaiserin, auch bekämpfen, aber ich bin gern in Kami'ens Haut geschlüpft und konnte leichter mit ihm mitfühlen als mit der Kaiserin und seinen anderen menschlichen Gegnern.

Michael: Hast du eine Ahnung, wieso die dunkle Fee ihren Fluch in die Welt hinter dem Spiegel gebracht hat? Die Menschen in Reckless verwandeln sich, ihnen wächst das steinerne Fleisch, wenn ein Goyl sie im Kampf verletzt. Das ist der Fluch der dunklen Fee.

Cornelia: Ich bin nicht sicher. Vielleicht um den Jadegoyl damit zu erschaffen, weil sie wusste, dass nur er ihren Geliebten retten kann. Aber vielleicht war ein weiterer Grund tatsächlich der, den Hentzau annimmt: dass sie Kami'en dadurch Söhne schenken wollte.

Michael: Würdest du selbst gerne die Welt hinter dem Spiegel besuchen oder dort leben? Und wenn ja: Wer würdest du gerne sein, eine Fee oder Fuchs oder die Kaiserin oder...?

Cornelia: Ja, eine Weile würde ich gern dort sein. Eine Weile — nicht für immer. Und ich glaube, ich wäre am liebsten Fuchs.

Michael: Wer hat dir früher Märchen erzählt oder vorgelesen?

Cornelia: Eine zerkratzte Langspielplatte. Ich erinnere mich, dass ich sie oft im Bett gehört habe. Meine Großmutter hat uns immer Geschichten erzählt, aber die hatte sie sich selbst ausgedacht, oder es waren Varianten eines Buches, das sie wohl als Kind gelesen hatte. Ob meine Eltern vorgelesen haben, weiß ich gar nicht mehr. Ich erinnere mich an all die Spaziergänge zur Stadtbücherei, die ich mit meinem Vater gemacht habe und an die Berge von Büchern, die wir zurück brachten. Ich erinnere mich auch daran, dass meine Eltern mir zwei wunderbare (und riesige) Bücher geschenkt haben, in denen es um Tiere und Naturwunder ging — die habe ich immer noch. Außerdem hatte ich zwei Märchenbücher mit Bildern eines tschechischen Illustrators, die ich mir stundenlang angesehen habe. Aber die Grimmschen Märchen kamen wohl wirklich meist von der zerkratzten Platte.

Michael: Hast du dich gegruselt?

Cornelia: Ja, sicher. Als Kind nimmt man die Welt ja sehr ernst und begreift schnell, dass sie ein sehr gefährlicher Ort sein kann. Wenn ich als Kind im Dunklen aufstehen musste, sprang ich zum Beispiel immer so weit aus dem Bett, dass, wer immer darunter liegt, meine Beine nicht packen kann.

Michael: Fürchtest du dich beim Schreiben manchmal so wie man sich beim Lesen fürchtet, wie man gespannt ist, wie es weiter geht, wie man es gleichzeitig wissen will und auch wieder nicht?

Cornelia: Ja, das kommt vor. Aber es fühlt sich ganz anders an. Weil man selbst verantwortlich für das ist, was geschehen wird. Also mischt sich in das Gruseln eine ganze Portion Berechnung und Lust darauf, es gut zu machen — und man hat ein schlechtes Gewissen, wenn man seinen Figuren etwas Schlimmes antut oder ihnen das Herz bricht. Jacob hat mir das Letztere sehr übel genommen.

Michael: Wenn Jacob Sachen macht wie mit dem Schneider zu kämpfen, ist dann vorher klar, wer gewinnt?

Cornelia: In dem Fall ja, weil ich meinen Helden noch nicht verlieren wollte. Aber es ist keineswegs klar, wie er das ganze übersteht, und wenn ich anfange, die Szene zu schreiben, stecke ich so sehr in seiner Haut, dass ich nicht immer sicher bin, ob ich es überlebe.

Michael: Im Buch steht unter dem Titel Reckless — Steinernes Fleisch ein Hinweis: "Gefunden und erzählt von Cornelia Funke und Lionel Wigram". Wer ist Lionel Wigram, und wie findet und erzählt man zusammen eine Geschichte? Wie habt ihr das gemacht?

Cornelia: Lionel macht eigentlich Filme, zum Beispiel die Harry-Potter-Filme und zur Zeit arbeitet er an einem über Sherlock Holmes. Als wir uns kennenlernten, hatte Lionel eine Idee, die er gern mit mir entwickeln wollte. Wir schrieben sogar ein Drehbuch zusammen. Dabei merkten wir, dass wir unglaublich gut gemeinsam Geschichten spinnen können und- wir fanden die Idee über die Welt, aus der später die Spiegelwelt wurde. Als ich mich entschloss, diese Welt für ein Buch zu erkunden, fragte ich Lionel, ob er daran in irgendeiner Form mitarbeiten wollte. Sicher!, sagte er. Wenn du dir das vorstellen kannst. Also beschlossen wir gemeinsam, es zu versuchen, und es wurde ein großes Abenteuer. Wir trafen uns viele Monate lang jeden Tag und füllten unsere Welt mit Figuren und Landschaften. Wir lachten und stritten über Ideen, zerpflückten die des anderen und bauten zusammen neue. Es war wunderbar. Als dächte man plötzlich mit zwei Köpfen. Irgendwann begann ich dann, das aufzuschreiben, was wir uns ausgedacht hatten. Das tat ich auf Deutsch, und da Lionel Engländer ist, kam mein Cousin Oliver ins Spiel, der auch schon den Herrn der Diebe ins Englische übersetzt hat. Oliver hat jede Fassung der Geschichte übersetzt (und bei mir sind das immer mindestens vier) und Lionel und ich haben uns immer wieder zusammengesetzt und verbessert und geändert, bis wir schließlich die Geschichte hatten, die wir für die beste und richtige hielten. Denn ich glaube, dass es für jede Geschichte nur einen richtigen Weg gibt — er ist wie ein Weg durch ein Labyrinth — und wenn man ihn findet, zeigen einem die Figuren am Ende ein zufriedenes Lächeln.

Michael: Du hast das Buch, zumindest die deutsche Ausgabe, selbst illustriert. Wie war das, ist die Geschichte fertig gewesen und dann hast du dazu Bilder gezeichnet, oder warst du während des Schreibens schon dabei, dir Bilder von der Geschichte und den Figuren und Szenen zu machen? Du lässt dich ja gerne inspirieren von Bildern, die du dir im Schreibhaus aufhängst, nicht wahr?

Cornelia: Ja, einige der Bilder, nach denen ich die Illustrationen angefertigt habe, hingen schon während des Schreibens in meinem Schreibhaus. Aber viele habe ich erst nach dem Schreiben gefunden, als ich mich hinsetzte, die Illustrationen zu zeichnen. Die Arbeit an ihnen hat drei Monate gedauert, und ich habe dabei vier Hörbücher von Neil Gaiman gehört und eine wunderbare Zeit gehabt.

Michael: Wie kommts, dass die Geschichte einen englischen Titel hat: Reckless?

Cornelia: Ich wollte eigentlich, dass der Titel im deutschen 'Verwegen' heißt, was die Übersetzung von Reckless wäre. Aber da meine beiden Helden mit Nachnamen Reckless heißen und das Ganze wohl gut klingt, haben sich alle meine Verleger entschieden, den englischen Titel zu verwenden- bis auf die Russen. Ich finde das etwas schade. Im Spanischen hieße es zum Beispiel 'Temerario', und das klingt wunderbar, aber Titelentscheidungen überlasse ich doch meist den Verlagen.

Michael: Wieso ist Fuchs ein Fuchs?

Cornelia: Zuerst war die Idee, dass ich Jacob gern einen Gefährten geben wollte, jemanden, der mit den Pferden auf ihn wartet, wenn er aus dem Turm kommt. "Ich glaube, ich nehm den Zwerg", sagte ich zu Lionel, "und mach ihn einfach etwas netter." "Nein!" rief Lionel. "Nicht den Zwerg! Der ist gemein! Lass dir irgend was anderes einfallen." Worauf ich ihm erklärte, dass ich einfach gern einen Hundecharakter hätte, einen treuen Gefährten ..."Dann nimm einen Hund!" sagte Lionel. "Meinetwegen einen sprechenden. Aber nicht den Zwerg!" Und plötzlich wusste ich, wer auf Jacob wartete. Mir fielen all die Füchse in den Grimmschen Märchen ein, die plötzlich im Wald auftauchen und dem Helden helfen und sehr gute Ratschläge geben. Und schließlich wusste ich auch, dass Fuchs ein Mädchen ist. Von meiner japanischen Verlegerin habe ich inzwischen erfahren, dass die Füchsin in Japan das Symbol für die Frau ist. Was wieder einmal zeigt, dass es wohl Bilder und Geschichten gibt, die uns alle verbinden. Man muss nur in sich hinein hören und plötzlich sind sie da.

Michael: Wie kam dir die Idee mit den Motten, die der dunklen Fee aus dem Haar flattern? Hattest du einfach dieses Bild im Kopf, oder hat dir jemand davon erzählt?

Cornelia: Ja, das Bild war einfach plötzlich in meinem Kopf. Und ich wollte schon immer etwas mit Motten machen, weil es für mich faszinierende und erstaunlich schöne Geschöpfe sind.

Michael: War es für dich auch eine Reise in eine andere Welt, dich wieder mit Märchen zu beschäftigen? Eine Reise vielleicht auch in die Welt deiner Kindheit?

Cornelia: Absolut. Das war die größte Überraschung. Man weiß eben nie, was man hinter dem Spiegel findet. So genau sehen wir uns alle nicht.

Interview: Michael Orth

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