Palast aus Glas

Palast aus Glas

Eine Reise durch die Spiegelwelt.

Neue Geschichten begleiten Jacob auf seiner Suche nach dem Kamm einer Hexe, erzählen, wie Celeste im Kleid der Füchsin zur Gestaltwandlerin wird, begegnen dem Bildhauer Rodin und reisen hinter dem Spiegel nach London, Madrid, Stockholm und Hamburg.

Im Retiro-Park in Madrid steht ein Palast aus Glas. Tagsüber hallt er wider von Stimmen aus aller Welt und in seinen schimmernden Wänden spiegeln sich tausend Gesichter. Aber wenn die Nacht ihn mit Stille und Dunkelheit füllt, erzählt der Palacio de Cristal eine andere Geschichte.

In den Reiseführern heißt es, dass sein Architekt, Ricardo Velázquez Bosco, den Palast aus Glas bauen ließ, weil es im Jahr 1887 große Mode war, das zu tun. Aber wie so viele Geschichten, die sehr überzeugend klingen, ist das nicht die Wahrheit:

Ricardo Velázquez Bosco entwarf den Palacio de Cristal für eine Frau, und er baute ihn aus Glas, weil Glas sie ihm schenkte und wieder nahm.

Er war noch ein sehr junger Mann, als er an einem Februarabend der letzte Gast im Café Colon war. Der Wind blies so feuchtkalt durch die Straßen, dass selbst die Bewohner Madrids, die spät essen und noch später schlafen gehen, an diesem Abend zu Hause blieben. Aber die Wirtin, bei der Ricardo ein schäbig möbliertes Zimmer gemietet hatte, seufzte nur, dass die Welt immer kälter wurde, und hüllte sich in selbst gestrickte Schals, statt ihr Haus zu heizen. Weshalb Ricardo sein Notizbuch wesentlich lieber im gemütlichen und gut beheizten Café Colon mit Skizzen und Ideen füllte. Und Ricardo Velázquez Bosco hatte viele Ideen! Er wollte Häuser bauen, Kirchen, Museen, Paläste ...

Der Wirt warf ihm immer öfter einen mürrischen Blick zu. Schließlich hatte Ricardo seit Stunden nichts als ein Glas von seinem billigsten Wein und einen Mocca bestellt.

Er widerstand selbst den Tapas, die die Frau des Wirts selbst zubereitete, obwohl ihr Duft beachtliche Gaumenfreuden versprach, so leer waren seine Taschen. Ricardo machte sich gerade darauf gefasst, den Rest des Abends doch in seinem ungeheizten Zimmer verbringen zu müssen, als die Frau des Wirts zu seiner Erleichterung einen Streit mit ihrem Mann begann. Soweit er verstand, ging es um ihren Bruder, der in die Kolonien gegangen war, um dort sein Glück zu machen, und nun Geld für die Schiffspassage nach Hause brauchte. Was auch immer ... Ricardo war dem in der Ferne gestrandeten Landsmann sehr dankbar für die Galgenfrist, und er begann, das Portal eines Palastes zu skizzieren, den er viele Jahre später bauen würde. Er suchte gerade in seinen Taschen nach einem frisch gespitzten Bleistift, als er in dem großen Spiegel, der ihm gegenüber wie ein Überbleibsel aus besseren Tagen an der verblichenen Seidentapete hing, ein Gesicht zu sehen glaubte.