Almara

Written by Luise

Es war ein warmer, schöner Sommertag, doch die elfjährige Layla wollte lieber in die Bibliothek gehen um zu lesen. Sie liebte es, fantasievolle Geschichten zu lesen, in denen es um andere Welten ging. Denn sie suchte selbst nach einer Fantasiewelt und das klappte am besten in der Bücherei. Es war aber nicht irgendeine Bücherei, sondern eine verwunschene. Sie lag versteckt in einer Gasse, das Haus war umrangt mit Efeu und Rosen und war etwas krumm und schief, aber das störte Layla nicht. Im Gegenteil. Sie liebte das kleine Häuschen. Als sie die Holztür öffnete, klingelte eine kleine Glocke. Sie lief den schmalen Flur entlang und begutachtete die schönen Gemälde an den Wänden. Die nette, ältere Hausherrin der Bücherei, Rita, sah sie und winkte ihr freudig zu, während sie Bücher in ein Regal einordnete. Layla entdeckte sie und lief lächelnd auf sie zu.

,,Na, wie geht's?“, fragte Layla höflich.
,,Mir geht's gut. Ich hatte heute schon viel Kundschaft!“
,,Das freut mich. Soll ich dir helfen oder kann ich die Bücher durchforsten?“
,,Ach, das ist ja lieb, aber nein, du brauchst mir nicht zu helfen.“
,,Ok, dann guck ich mich mal wieder um.“
,,Nimm ruhig alles auseinander.“
,,Darauf kannst du dich verlassen, Rita!“

Und schon war Layla in den Bücherregalen verschwunden. Sie nahm mal hier, mal da ein Buch mit und war froh, endlich wieder hier zu sein. Sie ging immer weiter in die Bücherei hinein und wunderte sich darüber, dass sie einige Gänge scheinbar noch gar nicht entdeckt hatte. So gelangte sie in Abteile, in denen sie noch nie war. Plötzlich blieb sie vor einer Tür
stehen, die unscheinbar aussah und die sie noch nie bemerkt hatte. Auf der Tür hing ein kleines Schild mit der Aufschrift 'BETRETEN VERBOTEN!' Sie war verblüfft. Sie wusste nicht recht, was sie machen sollte, aber dann entschied sie sich dafür, die Tür vorsichtig zu öffnen. Langsam griff ihre Hand nach der Türklinke. Ihr Herz pochte. Sie guckte sich noch einmal um, ob sie wirklich niemand sah, drückte dann die Klinke herunter und huschte durch die Tür. Sie sah einen großen Raum, der weit nach hinten ging, wie ein großer Flur. Sie wusste gar nicht, dass es so einen langen Raum in der kleinen Bücherei gab. Überall las sie die Aufschrift Abteilung der gefährlichen Bücher. Was sollte sie nur darunter verstehen?
Gefährliche Bücher? So etwas gab es doch gar nicht! Oder doch? Mit langen Schritten lief sie den Flur entlang. Sie sah sich um und war etwas ängstlich. Plötzlich hörte sie etwas. Wie aus dem Nichts. Es war gruselig und durchdringend. Es waren leise, dumpfe Stimmen. Sie drangen aus den Büchern! Es waren Sprüche und Warnungen. Sie hörte so etwas wie 'Tu es nicht, tu es nicht, es ist nicht deine Pflicht' oder 'Habe Acht, dieses Buch überlistet deine Macht'. Layla verstand das nicht, gab es etwa sprechende Bücher? Sie nahm Bücher heraus um zu hören, was sie sagten und trotz ihrer anfänglichen Angst fing sie an, sich inmitten der sprechenden Bücher wohlzufühlen. Auch wenn die Bücher mit gefährlichen Worten warnten. Die meisten Bücher waren braun und alt. Aber ein Buch fiel ihr besonders auf. Es lag am Ende des meterweiten Ganges auf einem kleinen Podest auf einem Samtkissen. Sie legte die anderen Bücher hin und ging langsam aber neugierig auf das Buch zu.

Sie hatte noch nie so ein Buch gesehen. Es war größer und dicker als die anderen und hatte eine goldene Schnalle um. Es trug den Titel "Almara". Sie nahm das Buch vorsichtig hoch und bevor sie es öffnen konnte, blätterte sich das Buch blitzschnell selbst, sodass es windete. Layla erschrak einen kurzen Moment und ihre Haare standen zu Berge. Das Buch erleuchtete und strahlte Layla ins Gesicht. Eine Stimme erklang. Immer und immer wieder. Sie war durchdringend und gefährlich. Sie sagte: ,,Pass auf! Dieses Buch wird dich verschlingen und mit in neue Welten bringen. Aus diesem Buch gibt es kein Entkommen, die einzige Wahl ist mitzukommen. Überleg es dir gut, denn für dieses Buch brauchst du Mut! Doch halt! Bevor ich es vergess, du sollst wissen, Glück haben die, um die getrauert wird und die die Kraft haben, ansonsten musst du es ertragen.“ Das Buch schlug von selbst zu und das Licht erlosch. Layla schmunzelte. ,,Mit in neue Welten?“ Sie nahm das Buch zielstrebig und klemmte es sich unter ihren Arm. Es erschlug sie fast, da es so schwer war. Aber sie konnte sich wieder ins Gleichgewicht bringen. Mühevoll rannte sie den Gang zurück, vorbei an den Bücherregalen, geradewegs auf die Tür zu. Layla öffnete die Tür zurück in die Bibliothek und ging zu Rita.
,,Sieh nur, was ich gefunden habe!“
,,Layla, wo hast du das her?“
Rita hatte einen ernsten Blick.
Etwas eingeschüchtert flüsterte Layla: ,,Aus der Abteilung der gefährlichen Bücher. Aber du meintest doch, ich könne alles auseinander nehmen!“
Sie hatte einen bettelnden Blick aufgelegt, bei dem Rita immer nachgab. Diesmal nicht. ,,Layla, nicht umsonst liegt es in dieser Abteilung. Es benebelt dich und bringt dich woanders hin!“
,,Aber Rita, gibt es aus diesem Buch denn kein Entkommen?“
,,Nein, nur wenn du nicht stark genug bist und das Buch dich kontrolliert und nicht du das Buch.“
,,Ich kriege das schon hin! Vertrau mir! Du wirst mich wiedersehen!“
Layla blickte selbstbewusst zu Rita hoch, die ihr nach einigem Zögern zeufzend auf die Schulter klopfte und ihr beim Herausgehen noch zurief:, ,Pass auf dich auf!“
Layla winkte ihr zum Abschied und lächelte. Rita blieb in ihrer Bücherei zurück, gedankenverloren und sorgenvoll.

Als Layla zu Hause ankam, ging sie sofort in den Garten, hoch in ihr Baumhaus. Sie hatte es sich mit einem Sessel, warmen Lichtern, Keksen und Tee bequem gemacht. Sie nahm das dicke Buch auf den Schoß und öffnete es. Einen Moment lang leuchtete es wieder, aber der Spruch war nicht nochmal zu hören. Sie fing an zu lesen und konnte nicht mehr aufhören. Es handelte von einem Mädchen, welches eine abenteuerliche Reise in etwas Unbekanntes antrat. Eine Reise in eine neue, noch nicht entdeckte Welt. Dieses Mädchen, das diese Welt entdeckte, war Layla selbst. Layla lebte das Buch! Sie erweckte es in ihr zum Leben! So tauchte sie in das Buch hinein. Sie sah ein wundervolles Königreich, dessen Schloss auf einem hohen Fels stand, welcher tief in den Abgrund ragte. Darunter strömte ein reißender Fluss, der zu einem Wasserfall gelangte. Rechts und links dieses Flusses standen die windschiefen Häuser der Bewohner dieses Königreiches. Es nannte sich Almara. Layla suchte schon lange nach einer Fantasiewelt, genau wie das Mädchen im Buch. Während Layla las, passte sie sich den Bewohnern an, sie trug dessen Kleidung und lernte, wie man sich in einem Königreich zu benehmen weiß. Sie wurde herzlichst von einer Familie am Rande des Flusses aufgenommen. In dieser Familie lebten der Großvater Amon, der Vater Ainos, die Mutter Andina, mit der Tochter Elanor und dem kleinen Sohn Estor.
,,Woher sind Sie in dieses Reich gekommen?“, fragte die Mutter, während sie mit dem Löffel eine Suppe umrührte.
,,Ich komme aus einer anderen Welt und bin durch ein Buch in diese Welt gelangt.“
,,Durch ein Buch?“, fragte Elanor und staunte.
,,Ja, das Buch beschreibt eure Welt und mich. Ich bin das Mädchen, welches eure Welt entdeckt.“
Amon blickte mit ernster Miene hoch und hauchte: ,,Du wirst nie wieder aus diesem Buch gehen können. Du sitzt hier fest! Und diese Welt existiert nur, da dieses Buch geschrieben wurde. Gäbe es dieses Buch nicht, dann gäbe es auch uns und Almara nicht. Du musst etwas unternehmen, damit du wieder zurück in deine Welt gelangst. Schnell! Dieses Buch gibt dir nur noch wenige Stunden. Um genau zu sein 2 Stunden. Wenn du in dieser Zeit dieses Buch nicht verlassen kannst, wirst du den Rest deines Lebens in dem Buch gefesselt sein.“
,,Warum 2 Stunden?“
,,Weil du zwischen 2 Welten gefangen bist. Zwischen deiner und Almara.“
,,Aber… das ist doch das, was ich wollte. Ich habe nach meiner Fantasiewelt gesucht und sie hier in Almara gefunden!“
,,Du verstehst das nicht! Wenn du dich nicht kontrollieren kannst, wenn du nicht stark genug bist, um das Buch zu steuern und aus dem Buch zu entkommen, dann wirst du fester Bestandteil dieses Buches sein. Du wirst der Charakter Layla sein und nie wieder deine oder unsere Welt von außen sehen!“
Layla schluckte.
,,Heißt das etwa, dass ich nicht wirklich hier sitze und mit euch rede, sondern dass das Buch meine Gedanken steuert und mich an dieses Buch fesselt, bis ich ganz in das Buch
verschluckt werde?“
,,Exakt!“
Alles war still, bis Andina sie an der Schulter packte und mit drängender Stimme befahl: ,,Beeil dich, na los!“
,,Was muss ich tun?“
,,Du musst ganz fest daran denken, dass du stärker bist als das Buch und du musst an deine Welt denken.“
Layla nickte und versuchte, ihre Gedanken von dem Buch zu befreien. Ihre Hände verkrampften und es liefen ihr Schweißperlen von der Stirn. Die Zeit verging wie im Flug und plötzlich handelte es sich nur noch um Minuten. Sie zitterte am ganzen Körper.
,,Es klappt nicht!“
Layla war am Verzweifeln, doch Elanor sprach ihr Mut zu.
,,Na, komm. Du bist stark, du bist rein gekommen, dann wirst du auch wieder heraus finden!“
Layla nickte, schloss ihre Augen und trat einen zweiten Versuch an. Amon erkannte ihre Not, doch er konnte nichts machen. Es sah auf die Uhr.
,,Sie hat noch ungefähr 7 Minuten.“
Er versuchte, ruhig zu bleiben. Er sah, wie sehr Layla sich anstrengte. 6 Minuten.
,,Layla, mach schon!“, flehte Amon.
5 Minuten. Layla entwickelte Kampfgeist, sie wollte nicht für immer in diesem Buch stecken bleiben. 4 Minuten. Die Zeit lief ab. Die Familie bangte um Laylas Existenz. 3 Minuten. Um Layla wirbelte der Goldstaub des Buches. Sie konzentrierte sich weiterhin und hatte ihre Gedanken zum größten Teil bei sich. 2 Minuten. Sie und das Buch kämpften gegeneinander an. Wer war stärker? Sie oder das Buch? Der Goldstaub schloss Layla fast ein, doch dann geschah es, sie nahm all ihre Energie, all ihre Kraft und Mut zusammen und drückte den Staub mit ihren Gedanken von sich weg. ,,Noch eine Minute! Halte durch! Du schaffst es!“, rief Amon.
,,Ja! Ich habe das Buch unter Kontrolle! Die Gedanken sind bei mir!“, rief Layla.
,,Die Zeit ist abgelaufen.“, meinte Amon und atmete auf.
Der Goldstaub verschwand zurück in das Buch und Layla wachte auf. Aber nicht bei Amon und den anderen. Nein, sie saß bei sich im Baumhaus auf dem Sessel und schnaufte. Was hatte sie gerade getan? Sie hatte das Buch überlistet und war frei. Jetzt konnte sie, wann immer sie wollte, nach Almara. Sie kam durch ihre Gedanken nach Almara, in ihre eigene Welt hinein. Sie las weiter.
,,Layla? Wo bist du?“, erkannt sie Amon's Stimme.
,,Bei mir! Hier ist alles gut! Ich habe das Buch überwältigt. Ich war stark genug!“
,,Toll! Kannst du uns sehen, Layla?“, fragte Andina.
,,Ja, kann ich! Meine Gedanken sehen euch, es fühlt sich so an, als wäre ich in Almara und säße mit euch am Tisch!“
,,Geht uns genauso!“
,,Amon, eine Frage... Woher wusstest du, das mit der Zeit und dass ich vielleicht für
immer hätte in diesem Buch sitzen bleiben können.“, fragte Layla.
Amon senkte denKopf.
,,Erzähl es ihr, Opa.“, meinte Estor.
,,Na gut. Also, vor langer Zeit war ich in deinem Alter. Da gab es dieses Buch schon und ein Mädchen hatte es entdeckt, genau wie du. Sie dachte sich nichts dabei und las es. Auch sie war von diesem Buch wie besessen. Sie tauchte hinab in unsere Welt und lernte mich kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb gut und waren unzertrennlich. Doch dann umwirbelte sie der Goldstaub des Buches genau wie bei dir. Sie hatte schreckliche Angst und wir versuchten, sie daraus zu retten. Doch es endete nicht so, wie bei dir. Plötzlich war sie mit dem Goldstaub davon und ich sah sie nicht mehr. Das war der schlimmste Tag meines Lebens. Ich weinte unglaublich. Tagelang kam ich nicht darüber hinweg. Und jetzt weiß ich nicht, wo sie ist.“
Layla hatte Mitleid.
,,Das tut mir leid, aber noch was. Wie hieß das Mädchen?“
,,Ach, das habe ich nie vergessen. Sie hieß Rita.“
Layla fiel fast vom Stuhl.
,,Rita? Das gibt's doch nicht!“
,,Was? Warum?“, fragte Amon.
,,Warte.“
Layla steuerte ihre Gedanken in ihr Leben und kletterte die Leiter vom Baumhaus in den Garten herunter. Das Buch unter dem Arm. Sie nahm den schnellsten Weg zur Bücherei und klopfte an die Tür.
,,Rita! Rita! Wo bist du?“
Layla war ganz aufgeregt. Rita kam den Flur entlang gelaufen und öffnete die Tür.
,,Ah, Rita, erstmal... Ich hab es geschafft! Ich konnte mich aus diesem Buch befreien. Ich lese es, dann bin ich in Almara und wenn ich meine Gedanken kontrolliere, dann bin ich hier.“ Die Worte sprudelten aus Laylas Mund. Rita kam gar nicht zu Wort.
,,Und noch was. Ich glaube, da sucht jemand nach dir. Also in dem Buch. Lies selbst.
,,Hallo Amon, da bin ich wieder. Sieh nur, wen ich dir mitgebracht habe.“
,,Rita! Das ist ja unglaublich! Du lebst! Aber, das Buch hat dich doch damals verschlungen.“
Amon verstand nicht ganz, aber Layla erklärte es ihm.
,,Sie ist davon gekommen, da du um sie getrauert hast. Der Spruch des Buches sagt nämlich auch: Glück haben die, um die getrauert wird. Wegen dir hat sie es geschafft.“
Layla lächelte.
,,Wir können jetzt immer miteinander reden, Amon, da ich das Buch auch schon einmal gelesen habe und nachdem ich aus dem Buch entkommen bin, habe ich es in der Abteilung der Gefährlichen Bücher auf einem Ehrenplatz bewahrt. Ich dachte, ich sehe dich nie wieder, Amon.“, sagte Rita voller Erleichterung und endloser Dankbarkeit. Das Buch "Almara" wurde von Rita und Layla an einem sicheren Ort versteckt, den nur sie beide kannten und den sie immer besuchen konnten, um nach Almara zu gelangen. Eines war Layla klar: Rita und Amon haben sich gesucht und sich gefunden und Layla hat ihre Fantasiewelt gesucht und gefunden. Bücher machen alles möglich.

No comments

Leave a comment