Der Club der stillen Beobachter

Escrito por Motte

Es war ein eisig kalter Januarmorgen. Der Sand am Strand war fest gefroren und von den gelegentlich herumliegenden Steinbrocken hingen kleine Eiszapfen. Noch war es dunkel und die wenigen Laternen an der Strandpromenade spendeten gerade so viel Licht, dass die Schaufenster der zahlreichen Souvenirläden zu erkennen waren. Alles war wie ausgestorben. Nur ein alter Mann steuerte die Promenade entlang auf einen unauffälligen, versteckten Pfad zu, der am Ende des kleinen Küstenstädtchens begann. Der Atem hing ihm in weißen Wolken vor dem faltigen Gesicht und seine verschnupfte Nase war ganz rot gefroren. Mit den Händen tief in den Taschen seines dicken Wintermantels verschwand er zwischen den kargen Büschen, die den Pfad vor den meisten Menschen verbargen. Langsam und schwer atmend folgte der alte Mann ihm mit erstaunlich festen Schritten. Schon bald führte der Weg ihn steil bergan und nach einer Weile befand der Alte sich auf einem grasbewachsenem, windigen Hügel, der bis auf ein paar kleine, vom Wind verbogene Bäume und Büsche völlig leer war. Erschöpft trat der Mann bis nah an den steil abfallenden Rand und ließ sich auf einem großen Stein nieder. Dort angekommen vertiefte er sich in den Anblick der tosenden Wellen, die sich unaufhörlich am Strand brachen und die Füße der kreischenden Möwen mit brodelndem weißen Schaum bedeckten. Dieser Augenblick war ihm sicher, doch schon bald würde die Sonne aufgehen und somit das kleine Städtchen unten am Fuß des Hügels langsam aus seinem nächtlichen Schlaf erwachen. Dann würden Stück für Stück die Läden öffnen und innerhalb von ein paar Stunden sowohl die Promenade als auch der Strand mit Menschen bedeckt werden. Hier oben würden sich zwar nur wenige wandernde Touristen einfinden, doch trotzdem würde er dann nicht mehr hier sein, denn er mied Menschenmengen und zog sich lieber an ruhige, ausgestorbene Plätze zurück, genauso, wie es dieser Hügel vor Sonnenaufgang war.

Jeden Morgen kam er hierher und verlor sich im Anblick der Wellen. Häufig hatte er eine Packung Kekse oder eine Thermoskanne voller heißem Tee dabei, die er in der langsam heller werdenden Dunkelheit verzehrte. Immer war er dabei allein. Das genoss er. Noch nie hatte ihn jemand dabei gestört. Bis zu diesem Morgen. Denn heute saß ein Stück weiter links jemand auf dem Boden und schienen in etwas vertieft zu sein. Oder besser zwei jemande. Mit dicken Mützen, Jacken, Fäustlingen und wolligen Schals, die die kleinen Hälse und Münder bedeckten. Es waren zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, wobei das Mädchen ein wenig älter zu sein schien. Dennoch waren die beiden wohl nicht älter als acht Jahre und der alte Mann fragte sich unwillkürlich, was die beiden Knirpse alleine um diese Uhrzeit hier draußen an der steilen Klippe taten. Auch sie waren in die Wellen versunken, doch anders als der alte Mann, denn ihre Augen waren jünger, hatten noch nicht so viel gesehen, wie seine und betrachteten die nasse Natur unterhalb der Klippe mit einer völlig anderen Art von Faszination.

Fast wunderte es den Mann, dass sie ihm überhaupt aufgefallen waren, so winzig und still, wie sie da in sicherer Entfernung am Abgrund kauerten. Der Mann warf ihnen einen missbilligenden Blick zu. Er wollte allein sein! Das hier war seine Zeit! Niemand sonst hatte es je gewagt ihn dabei zu stören. Unzufrieden wandte er sich wieder ab und versuchte sie einfach auszublenden, was erstaunlich gut funktionierte, da die Kleinen kaum einen Mucks von sich gaben. Dennoch wanderte die Aufmerksamkeit des alten Mannes immer wieder unbewusst zu ihnen hinüber und verharrte statt auf der rauschenden See auf ihren kleinen Gestalten.
Er hätte es zu diesem Zeitpunkt niemals zugegeben, doch es faszinierte ihn, wie diese jungen Menschen so lange und mit solch einer Konzentration auf das Meer schauen konnten.

Wenn er sich die vielen Male erwischte, in denen sein Blick auf den Kindern anstatt auf dem Wasser ruhte, schüttelte er ärgerlich den Kopf und beschimpfte sie im Geiste. Dann drehte er sich wieder zur wilden See um und versuchte, seine ungebetene Gesellschaft zu vergessen.
Erst als die Sonne den Himmel rosa färbte und wie ein gigantischer Feuerball scheinbar aus dem Meer aufstieg, vergaß er sie voll und ganz; diesen Moment ließ er sich von nichts und niemandem nehmen. Dann, als die Sonne vollends am Himmel stand, erhob er sich langsam. Nach ein paar Schritten schallte der Klang der Kirchturmuhr unten in der Stadt zu ihm hoch und der alte Mann hörte hinter sich eine erschrockene Stimme. Als er sich kurz darauf umdrehte rannten zwei dick eingemummelte Kinder in die entgegengesetzte Richtung davon. Es waren das Mädchen und der Junge, den sie hinter sich herzog.
Als er auf dem Rückweg schließlich die Strandpromenade erreichte, wurden neben ihm nach und nach die Rolläden der Schaufenster hochgezogen und die Türen entriegelt.
„Was für eine Hektik“, grummelte er mürrisch vor sich hin und verschwand in einer leeren Seitengasse.

Am nächsten Morgen sah er sie schon von weitem. Zwei kleine, dick eingepackte Figuren, die mit etwas Abstand zum Abgrund oben auf dem Hügel saßen.
„Hmpf“, machte der alte Mann und setzte sich angesäuert auf seinen angestammten Stein. Dieser Morgen verlief genau wie der gestrige und am Ende verließen die beiden wieder fast zur gleichen Zeit den Hügel.
Nur noch der nächste Morgen ließ ihn Hoffnung auf seine gewohnte Einsamkeit empfinden, doch als er auch an diesem und dem darauffolgenden enttäuscht wurde, schrumpfte sie immer weiter zusammen und verschwand schließlich ganz. Irgendwann wollte er nicht einmal mehr darauf hoffen, denn mittlerweile erschien ihm die Vorstellung eines Morgens ohne sie seltsam trist und grau.

Ein paar Wochen, nachdem die Kinder dem alten Mann zum ersten Mal den Morgen vermiest hatten, benahmen sie sich etwas anders als sonst. Sie waren viel unruhiger und tuschelten andauernd miteinander. Dann standen sie plötzlich auf und gingen leise auf den friedlich dreinblickenden Mann zu. Dort angekommen blieben sie stehen und das Mädchen tippte ihm mit der kleinen behandschuhten Hand auf die Schulter. Er hatte sie nicht kommen hören und fuhr erschrocken zu ihnen herum. Als die Kleinen sich auf einmal seinem grimmigen Gesicht gegenüber fanden traten sie erschrocken einen Schritt zurück und sahen ihn ängstlich mit schief gelegten Köpfen an. Der Mann starrte sie ein paar Sekunden an, dann, als er zu erkennen schien, wer vor ihm stand glätteten sich die Falten in seinem Gesicht allmählich und er grunzte: „Ihr seid das. Was wollt ihr?“.
Das Mädchen sah ihn noch eine Weile an und verkündete dann: „Willst du ein Mitglied werden?“
Der Alte starrte verwundert zurück, dann wiederholte er fragend: „Ich? Ein Mitglied?“
Das Mädchen nickte so eifrig, dass ihr die dicke Mütze ein beträchtliches Stück ins Gesicht rutschte.
„Und darf ich fragen wovon?“, fragte der Mann gerade, als sich die Kleine mit einem ihrer Fäustlinge die Mütze wieder zurecht schob.
Wieder nickte sie, doch diesmal nicht ganz so stark: „Natürlich darfst du das“.
Irritiert sah der Mann sie an, dann seufzte er: „Wovon soll ich ein Mitglied werden?“
„Na, in unserem Club der stillen Beobachter natürlich!“, platzte das Mädchen heraus, während der Junge, dem Aussehen nach ihr Bruder, stolz die Brust hervorschob und nickte.
„Und da komme nur ich in Frage?“.
Kurz veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, so als würde sie ernsthaft über diese Frage nachdenken müssen. Schließlich nickte sie ernst: „Ich denke schon, sonst ist ja keiner da außer dir.“
„Und ihr seid der Meinung, ich wäre ein bereicherndes Mitglied für euren Club?“.
Sie zuckte mit den Schultern: „Woher sollen wir das wissen, wenn wir es noch nicht ausprobiert haben?“.
„Eine berechtigte Frage“, murmelte der Alte vor sich hin, dann sagte er, einem plötzlichen Gefühl nachgehend, an die Kinder gerichtet: „Na, dann werden wir das wohl herausfinden müssen. Ich bin dabei.“

Ein Lächeln breitete sich auf den kleinen Gesichtern aus und übertrug sich fast auf das alte des Mannes, doch dieser sorgte noch rechtzeitig dafür es zu verhindern. Er wurde hier noch ganz weich!

„Dann herzlich willkommen im Club der stillen Beobachter!“, verkündete das Mädchen feierlich und streckte ihm die Hand hin, welche er doch tatsächlich gerührt schüttelte.

„Vielen Dank, ich fühle mich geehrt“, antwortete er mit einer ernsten Stimme und deutete eine leichte Verbeugung an, die der Kleinen einen entzückten Laut sowie ein Kichern entlockte.

„Nun denn, was ist die Geschichte hinter der Gründung dieses Clubs und wie lauten eure Namen?“, fragte der alte Mann, der unglaublicherweise Spaß an diesem Gespräch gefunden hatte.

Das Mädchen kicherte wieder: „Du sprichst aber komisch“.

„Ich bin alt.

,da passiert so etwas eben ab und zu. Wie heißt ihr denn nun?“.

„Ich bin Miran und das ist meine Schwester Gala, sie ist schon neun. Unsere Namen bedeuten beide Ruhe, das wollte unsere Mama, weil sie nicht wollte, dass wir so werden wie unsere Schwester. Unsere Mama ist sehr abergläubisch“, brachte nun der kleine Junge schüchtern hervor, wobei er mit dem letzten Wort offensichtlich zu kämpfen hatte. Dann, als er bemerkte, wie viel er da gesprochen hatte, verkroch er sich wieder hinter seiner Schwester und beobachtete von dort aus unruhig den alten Mann.

Dieser lächelte nur: „So? Da habt ihr aber außergewöhnliche Namen. Außergewöhnlich, aber sehr schön. Mein Name ist Otis, den hört man auch nicht oft, da passen wir doch zusammen, nicht wahr?“

Die Geschwister strahlten vor Begeisterung.

„Und jetzt erzählt mal, wie ihr dazu gekommen seid, diesen Club zu gründen.“

„Das war auch wegen unserer Schwester“, begann Gala schnell, ganz so, als habe es ihr nicht gefallen, dass ihr Bruder gerade eben so mutig gewesen war.

„Die kann soooo toll malen, das wollen wir auch“, warf dieser dennoch ein.

„Ja aber da weiß Otis doch noch nicht, warum wir den Club machen wollten“, belehrte Gala wütend und ganz die große Schwester spielend ihren Bruder.

„Nee, aber es ist trotzdem deswegen“, beharrte Miran und schaute seine Schwester böse an.

„Da hast du bestimmt recht, Miran, aber vielleicht erklärt ihr es mir doch noch etwas genauer, damit ich es auch wirklich verstehe. Du weißt doch, dass ich alt bin. Mein Gedächtnis denkt nicht mehr so schnell, wie eures“, drängte der alte Mann sich zwischen die beiden, um den Streit im Keim zu ersticken. Außerdem interessierte ihn die Geschichte wirklich.

„Ja, also sie hat gesagt, dass man das nur kann, wenn man alles ganz genau beobachtet, und dass man jedes Detail wahrnehmen muss oder sowas, und dass man dabei am besten ganz still ist, damit einem nichts entgeht. Deswegen sind wir jetzt immer, seit sie weg ist, hier, damit wir das lernen können“, brachte Gala ihre Erklärung zuende.

„Na da habt ihr euch wirklich etwas Schönes zum Beobachten ausgesucht, das Meer kann ganz verschieden aussehen, es kommt ganz auf das Wetter und die Tageszeit an, wisst ihr“, antwortete Otis mit einem verträumten Blick auf die Wellen und die Sonne, die schon beinahe ganz aufgegangen war. Es war ihm gar nicht aufgefallen, wie die Zeit vergangen war.

„Ja klar wissen wir das, wir sind doch die stillen Beobachter“, sagte Miran mit einem Unterton, der ausdrückte, das Otis das doch eigentlich wissen müsste. Dann läuteten die Glocken und Gala riss erschrocken die Augen auf.

„Oh nein, Miran, wir müssen los, sonst merkt Mama wieder, dass wir weg sind und wird ganz böse“.

Erklärend wandte sie sich an Otis: „Das ist schon mal passiert. Aber seit unsere Schwester weg ist wollen wir immer hierher, weil wir haben ihr versprochen, dass wir das mit dem Beobachten üben und dann irgendwann auch so gut malen können wie sie. Morgen sind wir auch bestimmt wieder da, dann sehen wir uns ja“.

Mit diesen Worten fasste sie Miran bei der Hand und sie liefen davon.

„Bis morgen“, rief der alte Mann ihnen hinterher, als sie ihn schon lange nicht mehr hören konnten.

Dann raffte er sich mit einem Seufzer auf und ging in die entgegengesetzte Richtung.

Den gesamten Weg entlang zurück zu seinem Haus, dachte er an die beiden Kinder und war erstaunt, was für eine gute Laune sie ihm bereitet hatten. Und das, wobei er doch noch nie Kinder gemocht hatte.

Noch als er die Tür zu seinem kleinen Haus aufschloss lächelte er bei dem Gedanken daran, dass er nun einem Club angehörte. Und so einem strebsamen noch dazu, wie der Mann es stolz feststellte. Den gesamten Tag über freute er sich tief im Inneren auf den nächsten Morgen, auch wenn er, je weiter die Stunden voranschritten, immer mehr zurück in seine sonst nie verschwindende mürrische Stimmung verfiel. Auch die Gründe für seine Abscheu gegenüber Kindern kehrten zurück, immerhin hatte eines von ihnen die einzige Frau getötet, die er je geliebt hatte. Das war jedenfalls die Sichtweise, die er darauf legte. Dass es vielleicht eher an der Schwäche seiner Frau gelegen hatte und sie einfach nicht stark genug für eine Geburt gewesen war, hatte er sich nie zu glauben getraut. Dann wäre er nämlich der Schuldige, denn er hatte eingewilligt, diesen Versuch, ein Kind zu bekommen, zu wagen. Das zu ertragen wäre sogar noch schlimmer, als die Trauer allein.

Diese beiden Kinder jedoch begannen seine Haltung zu verändern. Ob er das wirklich wollte, wusste Otis noch nicht. Das einzige, was er wusste war, dass er lange nicht so viel Spaß wie an diesem Morgen gehabt hatte.

Mit Vorfreude, die er bewusst zuließ, stieg er in der Dunkelheit des nächsten Tages geschwind den Hügel hinauf, um bei der Ankunft ganz oben von Miran und Gala empfangen zu werden. Dem Anschein nach warteten sie schon auf ihn.

„Du kommst aber spät“, lauteten die ersten Worte, die Otis von den beiden zu hören kriegte.

„Das stimmt, meine Beine sind nicht mehr die schnellsten“, schnaufte er und sackte auf den Stein.

„Hä? Warum?“, fragte Miran verwirrt.

„Na weil er schon alt ist“, antwortete Gala ihm genervt und sah dann etwas ängstlich zu Otis hinüber, abwartend ob sie etwas Falsches gesagt hatte.

Doch Otis störte sich daran kein bisschen: „Stimmt, da hast du recht, aber ob ihr es glaubt oder nicht, früher war ich mal genauso jung wie ihr.“

Darauf folgten ein ungläubiger, ihn kritisch musternder Blick von Miran und eine genervte Erklärung von Gala: „Ja, ist doch klar, das war jeder mal.“

Danach versuchte sie, die Augen zu verdrehen, was ihr vollkommen misslang und ein warmes Gefühl in dem Mann auslöste.

„Das konnte ich euch beide gestern gar nicht mehr fragen, aber warum ist eure Schwester denn weggegangen?“

„Das wissen wir gar nicht so genau, aber sie hat immer gesagt, dass sie das Zuhause nicht mehr aushält und ist dann irgendwann nicht wieder nach Hause gekommen.“ Auf Galas Gesicht schlich sich ein trauriger Ausdruck.

„Aber sie hat uns beide angerufen“, sagte Miran und die Trauer verflüchtigte sich wieder ein wenig.

„Ja genau, sie hat gesagt, dass sie uns bald besucht und dass sie uns vermisst“.

„Und dass wir bis dahin weiter beobachten sollen.“

„Dann sollten wir das vielleicht auch mal tun, wir sind ja gestern schon nicht dazu gekommen, da wird es doch höchste Zeit, denkt ihr nicht“, wandt Otis ein, der seine Gelegenheit gewittert hatte, doch noch etwas Ruhe zu erleben.

Erschrocken nickten die Kinder und setzten sich dann ruhig auf den Boden. Dort verharrten sie, bis es hell wurde und es für sie Zeit war zu gehen.

Die Morgen der kommenden Wochen verliefen ähnlich. Mal still, mal mit einem Gespräch, doch zusammen verbrachten die drei ihn immer. Das hatte beinahe etwas von einer Routine und es machte den alten Mann glücklich, jeden neuen Tag mit Miran und Gala zu beginnen, die ihm zeigten, wie wundervoll Kinder und Zeit mit ihnen zu verbringen sein konnten. Häufig lachte Otis sogar, und das hatte er zuvor so selten getan, als würde jedesmal ein Leben enden, wenn er es tat.

Etwas mehr, als zwei Jahre nach dem Tag, an dem die Kinder Otis das erste Mal zum Sprechen gebracht hatten, stand Miran an der Klippe und sah in die Ferne, wo der Himmel Stück für Stück begann Farbe anzunehmen. Er fand es seltsam, so ganz alleine hier, ohne Gala und Otis. Aber das würde es jetzt wohl sowieso nie wieder geben. Es fiel ihm immer noch schwer, das zu begreifen. Das war doch ein fester Bestandteil seines Alltags und durfte nicht zuende sein. Doch gestern hatte er seine erste Beerdigung erlebt. Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, dass ein Mensch so plötzlich verschwinden und dann nie wiederkehren konnte. Dennoch hatte er mittlerweile verstanden, dass Otis weg war. Er hatte ja sogar noch gesehen, dass es ihm schlechter ging.

Vor einer Woche, an dem Morgen, als Otis einfach nicht aufgetaucht war und Gala und Miran deswegen kurzerhand in das Dorf gegangen waren, wo er lebte, um sich nach ihm zu erkundigen. Am gleichen Tag noch hatten sie ihn besuchen und sich unbewusst auch von ihm verabschieden können. Denn das war das letzte Mal gewesen, dass sie ihn gesehen hatten. Und würde es für immer sein.

Heute war Miran noch vor Gala aufgewacht, das passierte sonst nie. Es hatte ihn zwar ein wenig gewundert aber viel dabei gedacht hatte er sich nicht. Aber als Gala ihn dann verschlafen angeblinzelt und gemotzt hatte, wusste er, warum dies das erste Mal seit langem gewesen war, dass er nicht geweckt worden war.

„Nein, vergiss es, geh doch alleine, ich will da nicht mehr hin. Nie wieder“, hatte sie erschöpft gemurmelt, sich umgedreht und weiter geschnarcht.

Miran konnte sie sogar ein bisschen verstehen, denn er war auch traurig über Otis Tod, sehr sogar, und Gala hatte diesen Ort immer mit der Hoffnung ihre Schwester, von der sie bis jetzt kein Lebenszeichen bekommen hatten, wiederzusehen verbunden. Bestimmt machte es Gala zu traurig hierherzukommen, überlegte Miran. Aber er selbst konnte sich nicht vorstellen, deswegen damit aufzuhören. Dazu war es ihm viel zu wichtig. Außerdem hatte er Otis bei ihrem letzten Treffen noch etwas versprochen, und das durfte er auf keinen Fall brechen. Sonst würde er Otis doch enttäuschen. Und seine größte Schwester auch.

Also setzte er sich auf den Boden und zog einen kleinen Block mit Stift aus seiner Jackentasche. Dann begann er, die aufgehende Sonne auf das Papier zu bannen. Zuhause hatte er schon manchmal heimlich damit geübt, so dass Gala es nicht mitbekam, doch heute versuchte er das erste Mal, den Ausblick, den er so gut kannte, einzufangen, das war er Otis schuldig. Er hatte es ihm versprochen.

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