Himmelsstürmer

Escrito por Yomi

Prólogo

Dies ist mein erster Beitrag auf dieser Seite. Ich werde nicht spoilern, worum genau es geht, ich hoffe aber, es gefällt euch! Ich habe nichts gegen Fragen, Kritik oder Sonstiges. Und jetzt wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen!

Kapitel 1

Zeitgleich mit dem Gong stürmten sämtliche Schüler aus allen Klassenzimmern, die Flure füllten sich mit Stimmen und Schritten. Mitten im Chaos: Fünf Schüler. Oder besser gesagt, vier, die sonst immer zu fünft waren. Einer der Jungen fehlte.

„Endlich ist die Schule vorbei! Diese Aufgaben haben mich so wahnsinnig gemacht!“, jubelte ein Mädchen, das die anderen drei überragte und dessen Haar lang und hellblond war. „Das sagst du jetzt auch nur, weil du Mathe hasst!“, warf Tomoko ein. „Wenn es Deutsch gewesen wäre, hättest du dem Unterricht mindestens eine Träne nachgeweint.“ In Tomokos Brillengläsern spiegelten sich die Lampen, die im Flur an der Decke hingen. Vanessa grinste breit. „Wäre möglich.“ Der rothaarige Junge unterbrach Tomoko und Vanessa. „Hat einer von euch Mitsuru gesehen? Ich kann ihn nirgends entdecken.“ Tomoko seufzte. „Wahrscheinlich legt er gerade seine Bücher in den Spind“, mutmaßte sie und die Gruppe bog auf den linken Ausgang der Pausenhalle ab, eine Abkürzung zur Turnhalle und deren Hinterseite, die sie anstrebten. „Lasst uns einfach auf ihn warten, so wie immer. Er lernt ja doch nie draus.“ „Vielleicht sollten wir ihn aber mal draus lernen lassen und zu viert abheben!“, grummelte Arun.

Darauf gingen die drei Mädchen nicht ein. Zu viert lehnten sich Arun, Vanessa, Tomoko und Kiyomi, das dritte Mädchen, an die Betonwand. Diesen Ort hatten sie schon immer perfekt für ihr spezielles Hobby gefunden: Hinten besaß die Turnhalle keine Fenster und von der Schule aus konnte sie auch niemand sehen. Dazu gab es einen mächtigen Baum, der die Sicht auf das freie Feld durchschnitt. Tomoko sah hin und wieder auf ihre Uhr und nach zehn Minuten Warten sahen sie, Vanessa und Arun aus, als wollten sie jemanden erwürgen und Kiyomi seufzte alle paar Sekunden, als Mitsuru endlich auftauchte. Arun explodierte förmlich. „Was hast du bitteschön so lange gemacht?! Wir waren drauf und dran, alleine loszufliegen!“, fuhr er ihn an. Mitsuru rieb sich den Hinterkopf und grinste schuldbewusst. „Ich hab‘ den Schlüssel zu meinem Spind verloren und musste ihn erst suchen gehen“, erklärte er. „IM ERNST JETZT?!“, schrien Kiyomi, Tomoko, Vanessa und Arun gleichzeitig. „Ja“, bestätigte Mitsuru. „Du bist echt ein Trottel!“, schimpfte Vanessa. „Kann sein,“, mischte sich Tomoko ein, „aber wir wollen doch jetzt endlich fliegen, oder?“ Mitsuru erntete einen letzten giftigen Blick, dann flogen fünf Schultaschen ins Gras. „Vanessa zuerst!“, entschied Tomoko. Vanessas lange blonde Haare und ihr blaues Kleid wehten ihr um die Knie, als sie lächelnd ihre Augen schloss. Sie sah endlose Weiten, von der Sonne beschienene Freiheit… Schon teilte ihr Haar sich und aus ihrem Rücken brach ein Paar gefiederter Flügel hervor. „Endlich bin ich frei!“, murmelte Vanessa. Um die Flügel entfalten zu können, musste man sich frei, glücklich oder allen Problemen zumindest leicht überlegen fühlen. Selbst in Kiyomis Fall musste eines dieser Gefühle wenigstens ansatzweise verspürt werden – sonst blieb man auf der Erde. Tomoko machte weiter. Sie sah sich in den Wolken schweben, mit Blick auf alles, was sie sehen wollte. Schon schwebte auch sie mit Flügeln über dem Erdboden. Es folgten Arun und Mitsuru. „Komm schon, Kiyomi!“, forderte Mitsuru sie auf. Kiyomi seufzte, schloss die Augen uns stellte sich mit aller Kraft vor, wie sie von ihren Schwingen getragen vor ihren Problemen weglaufen konnte, die ihr niemals in den Himmel folgen könnten, so ganz ohne Flügel.

Zu fünft flogen die Freunde den Wolken entgegen. Es war wie eine Art Magie, dass ihnen niemals eine Drohne oder ein Flugzeug in die Quere kam. Mitsuru flog am schnellsten und drehte übermütige Loopings, Vanessa jagte wie ein Falke übers Feld und Arun testete seine Nerven im Sturzflug. Tomoko blieb bei Kiyomi, die einfach auf der Stelle flog. „Was ist, Kiyomi? Willst du nicht auch ein bisschen Spaß haben?“, fragte sie und warf einen Blick nach unten. Die Schultaschen, Schüler und Autos sahen so klein aus. Kiyomi schüttelte den Kopf. „Ich habe genug Freude, wenn ich weiß, dass ich immer vor dem Druck oder vor meinen Problemen fliehen kann. Und zwar, wenn ich hier oben bin. Mit euch, mit Flügeln, die mir bis hier nach oben helfen“, sagte sie mit ihrer leisen Stimme. Tomoko gab es auf und flog mit Mitsuru um die Wette. Bei Kiyomi konnte man einfach nichts machen. Wenn sie genug Spaß daran hatte, auf derselben Höhe zu bleiben und in die Gegend zu starren, dann war es eben so. Solange sie sich am Himmel halten konnte, durften sie und die anderen aufatmen. „Ich fühle mich fast wie ein Falke!“, jauchzte Vanessa. „Tja, ist schon was Tolles, wenn man fliegen kann“, meinte Arun und fing eine Feder auf, die von seinen Flügeln fiel. „Und nur wir können es und nur wir dürfen davon wissen, dass wir es können...“, fuhr er fort und betrachtete die weiße Feder in seiner Hand. Mitsuru wollte etwas erwidern, doch dann sah er nach unten. Ein schwarzer Haarschopf bewegte sich auf die Turnhalle zu. „Oh nein!“, rief er. Arun brach mitten im Sturzflug ab und Vanessa kam dazu. Selbst Kiyomi sah auf. „Was ist los?“, fragte Arun. „Yuii!“, stieß Mitsuru hervor und schoss steil zurück auf die Wiese herab. Die anderen verschwendeten keine Zeit und folgten ihm. Tomoko beobachtete Yuiis Geschwindigkeit, kurz bevor sie landeten. Vielleicht noch zwanzig Sekunden…?

Die fünf landeten. Eilig steigerten sie sich in die Vorstellung von Gefangenschaft und Problemen hinein, um Flügel wieder loszuwerden. Bei Kiyomi verschwanden sie zuerst, bei Mitsuru als Letztes. Tomoko warf ihm seine Schultasche zu. „Schnell, Yuii ist gleich da, wir müssen um die Ecke und dann rennen“, befahl sie. Die fünf warfen sich die Schultaschen über die Schultern und gerade wollten sie leise, aber schnell verschwinden, als Yuiis Kopf um die Ecke schoss. „Halt!“, rief sie. Erschreckt erstarrten die fünf Freunde und drehten sich um. Yuiis Blick huschte umher, konnte aber nichts entdecken. „Was macht ihr hier?“, fragte sie misstrauisch und beobachtete einen wackelnden Zweig des Baums. Verflixt!, dachte Vanessa. Den muss ich bei der Landung gestreift haben! Yuii durchbohrte sie mit Blicken. „Ähm… Nichts…“, stotterte Tomoko, doch Arun fiel ihr ins Wort. „Nichts, was dich was angehen würde. Wir müssen jetzt los. Hör auf, immer zu fantasieren, als hätten wir was zu verbergen, Yuii!“, giftete er gereizt und trat Tomoko auf den Fuß. Yuiis Augen wurden schmal. „Ich weiß, dass ihr was zu verbergen habt! Du bist ein ganz schön schlechter Lügner, Arun! Aber wartet nur ab, ich kriege euer Geheimnis schon noch raus!“ Keiner antwortete, zu fünft sprinteten sie durch den Pausenhof. Erst vor dem Schultor kamen sie hechelnd zum Stehen. „Ich Esel!“, fluchte Vanessa. „Ich hab den Zweig gestreift!“ „Wenigstens hast du keine Feder verloren“, wisperte Kiyomi genauso leise wie immer. Ihre blonden, welligen Haare glänzten in der Sonne. „Ich mache mir langsam Sorgen“, gestand Mitsuru. „Yuii ist extrem neugierig, sie taucht immer zu den passenden Zeiten auf und verfehlt uns nur knapp. Wenn wir nicht aufpassen wie auf unser Leben, dann wird sie unser Geheimnis nochmal aufdecken!“ „Und dann stecken wir in der Klemme. Sollen wir ihr dann etwa erzählen, sie hätte Wahnvorstellungen? Das kauft sie uns nicht ab, dumm ist sie nicht. Hölle, das war gerade richtig knapp!“, keuchte Arun. „Vor der müssen wir uns in Acht nehmen“, stimmte Vanessa zu. „Sonst kriegt sie die Sache mit dem Flie…“ Eine Ohrfeige von Mitsuru traf sie. „Still!“, zischte er. „Sie kommt!“ Die fünf warfen einen Blick über die Schulter, schnappten erschrocken nach Luft, dann zerstreuten sie sich in die Himmelsrichtungen, in denen ihre Häuser lagen. Wenn Yuii herausfand, was sie waren, wenn sich jemand verplapperte, dann war es aus. Und um nichts in der Welt würden Kiyomi, Vanessa, Arun, Tomoko und Mitsuru es aufgeben, Himmelsstürmer zu sein!

Kapitel 2

Am nächsten Tag warf Yuii den fünf Freunden die ganze Zeit über scharfe, wachsame und manchmal vorwurfsvolle Blicke zu, was den Unterricht nicht angenehmer machte. Besonders schlimm traf es Arun und Vanessa: Die beiden saßen genau richtig dafür, von Yuii in die Zange genommen zu werden. Vanessa nur eine Reihe hinter der Nervensäge auf der anderen Seite des Klassenzimmers und Arun direkt vor ihr. „Mach dir keinen Kopf“, wisperte Kiyomi sanft und starrte trübselig aus dem Fenster. Warum sie immer wieder so freudlos war, diese Frage hatten Vanessa, Arun, Mitsuru und Tomoko längst aufgegeben und sich einfach auf eine schwache psychologische Verfassung geeinigt. „Ich mach mir aber einen Kopf!“, zischte Vanessa gereizt. „Ich war es doch, die diesen vermaledeiten Zweig gestreift hat, oder nicht? Das macht mich doch schuldig!“ „Nein, tut es nicht. Das hätte jedem passieren können. Abgesehen davon ist das nicht das erste Mal, dass sie uns fast erwischt hätte“, sagte Kiyomi. „Aber so knapp wie gestern war es noch nie…“ Plötzlich fühlte Vanessa, wie jemand ihre Hand anstupste. Tomoko hielt ihr unter ihrer Bank einen Zettel hin. Vanessa nahm ihn und faltete ihn auseinander. Hör auf, im Unterricht darüber zu reden! Wir müssen vorsichtiger sein! Sonst bist du wirklich schuld, wenn Yuii alles rausfindet! „In der Tat“, flüsterte Kiyomi. Vanessa nickte Tomoko zu und zerriss den Zettel langsam in tausend Stücke. Beweise zu vernichten war im Moment besonders wichtig. Sie drehte sich weg, als Yuii sie wieder mit Blicken erdolchte. Diese Schnüfflerin! Auch Arun geriet ins Schwitzen. „Mann, Yuii, kannst du endlich damit aufhören?“, zischte er mit zusammengepressten Zähnen. Seit dem Gong lehnte Yuii sich immer wieder vor, um ihm folgenden Satz von hinten zuzuflüstern: Ich kriege raus, was euer Geheimnis ist, Arun, verlass dich drauf! „Nein,“, zischte Yuii zurück, „und wenn du noch so viel lügst und wenn ihr noch so vorsichtig seid: Ich weiß genau, dass ihr was zu verbergen habt!“ Weil er vor Yuii saß, konnte die nicht sehen, wie er so rot wie sein Haar anlief vor Angst. „Träum weiter!“, war alles, was ihm einfiel. Yuii lächelte boshaft. „Schwach“, war der einzige Kommentar dazu. „Könnt ihr endlich mit diesen Schwätzereien im Unterricht aufhören?“, kreischte Frau Rose, der der Geduldsfaden riss. „Ich gebe mir hier Mühe, euch etwas über Prozentrechnung beizubringen, und ihr habt keine bessere Idee, als euch gegenseitig zu beleidigen?! RUHE JETZT!“ Theatralisch drehte sie sich wieder zur Tafel um. Yuii zuckte zusammen. Mitsuru lehnte sich lässig und unbekümmert in seinem Stuhl zurück. Was für eine irre Klassenlehrerin. Und damit hat das Schicksal uns geschlagen!, dachte er. Erst die zweite Stunde. Aber die Belohnung winkte, wenn es vorbei war: Der nächste Himmelsausflug.

„Ich kann nicht mehr!“, jammerte Vanessa in der Pause. „Sie guckt mich immer so an!“ „Yuii ist eben eine harte Nuss“, meinte Tomoko und verschränkte die Arme. „Wichtig ist doch am Ende nur, dass sich keiner weichkochen lässt. Das gilt besonders für Arun und dich, weil ihr am günstigsten für einen giftigen Blick sitzt.“ „Es ist ja auch nicht leicht, so ein Geheimnis immer für sich zu behalten. Manchmal liegt das ganz schön schwer im Magen!“ „Kann sein, Mitsuru, aber es ist besser für uns alle. Stillschweigen, und wenn es das Letzte ist, was wir tun werden, kapiert?“ „Natürlich!“, versicherte Mitsuru und hob die Hände. „Ich würde niemals was verraten.“ „Ihr habt ja keine Ahnung,“, schnaubte Arun und biss frustriert in sein Pausenbrot, „was für eine Ausdauer diese Yuii besitzt! Zischt mir dauernd zu, sie würde dahinterkommen. Das geht einem voll auf den Geist. Ich werd‘ noch paranoid, wenn das so weitergeht!“ „Am schwierigsten ist es, glaube ich, für Kiyomi. Kann das sein?“, fragte Mitsuru und sah Kiyomi aufmerksam an, die Löcher in den Boden starrte. Sie hob den Kopf. „Ich glaube, ihr habt es schwerer.“ Dann senkte sie den Blick wieder. „Aber es stimmt schon. Immer, wenn ich Yuii sehe, ist es, als würde sich ein Käfig um mich herum materialisieren und als würden mir die Flügel aus dem Rücken gerissen werden, während ich in der Luft bin, um mich für immer einsperren zu können… Und der Käfig besteht aus meinem Leben hier, wo mich so vieles fertigmacht.“ „Klingt gar nicht gut!“, japste Arun, der sich verschluckte. Mitsuru schlug ihm bereitwillig auf den Rücken. Absichtlich fest. „Hey, was soll das, willst du mir die Wirbelsäule brechen?!“, keuchte Arun. „Ich will nur helfen“, grinste Mitsuru. „Aber mal wirklich, Kiyomi, das wird langsam unheimlich. Was, wenn du mal mitten im Flug dein Freiheitsgefühl verlierst? Das wird nicht angenehm enden!“ „Wo wir dabei sind…“, platzte Tomoko dazwischen. „Es wird nicht angenehm enden, wenn wir nicht die Klappen halten. Yuii hinter uns!“, zischte sie. Die fünf sahen über die Schultern und bemerkten Yuii, die gierig und mit entschlossener Miene einen Meter weiter stand, scheinbar ein Schulbuch las und lauschte. „Verrückt, die Zicke“, murmelte Vanessa und dann gingen sie ans andere Ende der Pausenhalle. Yuii starrte ihnen mit schmalen Augen nach. „Das war‘s noch lange nicht“, drohte sie leise.

„Wieder ein Schultag vorbei“, seufzte Tomoko. „Und wieder ein neuer Wettlauf gegen Yuii, um unser himmlisches Geheimnis zu hüten“, fügte Mitsuru hinzu. „Was für ein Wortspiel! Und du bist ja heute sogar mal pünktlich!“ Vanessa sah Mitsuru staunend an. „Tja, ich wollte nicht riskieren, dass Yuii mir auflauert.“ „Auch gut,“, nickte Arun, „dann los!“ „Halt!“, rief Tomoko. Arun und Mitsuru hielten inne. „Was soll denn das? Sind wir jetzt hier um zu fliegen oder nicht?“, fragte Mitsuru. Tomoko rückte ihre Brille zurecht. „Mitsuru, du bist echt blauäugig und leichtsinnig!“ „Blauäugig bin ich, da hast du recht.“ „Das hab ich nicht gemeint! Was ich meinte, war, dass Yuii extrem gefährlich ist. Auch, wenn wir jetzt schon gewartet haben, bis alle weg sind, sie kann plötzlich um die Ecke schleichen. Ich werde aufs Schuldach fliegen und nachsehen.“ Beleidigt lehnte sich Mitsuru an die Wand und stieg als Erster in den Himmel, als Tomoko meldete, die Luft sei rein. „Er kann nicht warten“, seufzte Vanessa lächelnd und schoss hinterher. Kiyomi dagegen brauchte fünf Anläufe, bis sie endlich mit ungewöhnlich starken Flügelschlägen zum Himmel flog. „Was ist nur mit Kiyomi los? Gestern ging es ihr doch noch gut, oder Arun?“, fragte Vanessa. Arun nickte. „Schon. Zumindest so, was wir inzwischen als gut bei ihr bezeichnen. Aber Kiyomis Zustand kann sich auch ändern, so wie unserer.“ „Mit dem Unterschied, dass wir mehr empfinden können als Trübsal“, konterte Vanessa. „Guter Punkt… Aber jetzt ist sie doch oben.“ „Stimmt! Solange sie nicht am Boden festklebt…“ Vanessa schlug Arun gegen die Schulter. „Du bist!“ Während Arun Vanessa nachjagte und Tomoko mit Mitsuru um die Wette flog, verblassten sämtliche Probleme. Kiyomi blieb mal wieder unbeteiligt an dem ganzen Spaß und beobachtete die Wolken. Einmal am Tag konnte sie genauso schwerelos sein… Kiyomi wurde von diesem Gedanken heruntergezogen. Was erwartete sie denn sonst? Immer der gleiche Trott: Schlechte Noten trotz Büffeln, Druck, Kälte, Pflichten wie Hausaufgaben und Lernen, die sich turmhoch vor ihr aufstapelten, Ärger und… Als Kiyomi an Yuii dachte, formten sich dicke schwarze Stangen um sie und die Wolken wurden unsichtbar hinter dem Käfig. „KIYOMI!“, schrien die anderen vier erschrocken. Kiyomi stürzte vom Himmel, ihre Flügel wurden steif und verschwanden schon nach den ersten Metern in die Tiefe, diese lange Strecke würde sie niemals überleben. Mitsuru und Vanessa folgten ihr im Sturzflug. „Du links, ich rechts!“, schrie Vanessa gegen den Wind. Jeder schnappte sich einen von Kiyomis Armen. „Bist du wahnsinnig?“, keuchte Mitsuru. „Dass du über solche Sachen nachdenkst, während du am Himmel fliegst! Nächstes Mal läuft es vielleicht nicht so gut und wir können dich nicht rechtzeitig fangen, Kiyomi!“ „Arun, du Pfosten, lös mich ab!“, rief Vanessa nach oben. Arun und Mitsuru hatten zwar die schmalsten, aber die größten Flügel von allen und gerieten sich beim Schwingen nicht in die Bahn. Arun schwebte nach unten. „Sturzflug ist doch genau dein Ding! Du hättest viel schneller reagieren müssen als ich!“, schimpfte Vanessa ihn aus. „‘tschuldigung, aber es gibt da so ein Gefühl, das sich ‚Schock‘ nennt“, verteidigte sich Arun.

„Wenigstens war Yuii heute nicht da, um uns nachzuspionieren“, tröstete sich Arun, als sie wieder gingen. „Ganz toll,“, schnaubte Tomoko, „aber unsere Freundin wäre fast in den Tod gestürzt!“ „Mir ist doch nichts passiert“, sagte Kiyomi fast schon gleichmütig. „Vielleicht passiert dir aber beim nächsten Mal was!“, bellte Vanessa. Weil Yuii nicht da war, konnte sie nach Herzenslust fluchen und schreien, es hörte niemand. „Das war heute schon total knapp! Vier Sekunden später und du wärst jetzt so platt wie ein überfahrener Igel!“ „Der arme Igel“, murmelte Mitsuru. „Darüber macht man keine Witze!“, zischte Tomoko und stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen.

Niemand der fünf konnte schnell einschlafen an diesem Abend: Für Kiyomi war es komplett normal, nicht einschlafen zu können, Arun, Vanessa, Tomoko und Mitsuru schliefen nicht ein, weil sie sich Sorgen um Kiyomi machten.

Kapitel 3

Draußen war es noch dunkel, als die Himmelsstürmer vor die Schultür traten. In der Pausenhalle wollten sie auf den Gong warten. „Mann, ich kapiere einfach nicht, warum wir hier immer so früh auftauchen!“, gähnte Vanessa. „Also ich finde, von der kalten Luft wird man sofort wach“, widersprach Tomoko. „Ich nicht!“, maulte Vanessa und lehnte sich gegen die Glastür. „Kann ich ja irgendwo verstehen. Ich hab bloß sieben Stunden Schlaf bekommen“, lächelte Mitsuru verschlafen. „Das nennst du schlimm?“ Vanessa begann vor Wut beinahe zu glühen. „Ich glaub‘, gleich kriegst du eine links und eine rechts! Kannst du überhaupt nur ansatzweise verstehen, wie wenig Schlaf dann ich mit meinen erbärmlichen vier Stunden hatte?!“ „Na also, so müde bist du ja anscheinend gar nicht mehr. Ich werde mir das als Geheimtrick für dich merken, wenn wir einen Test in der ersten Stunde schreiben“, antwortete Mitsuru ganz gelassen und betrachtete den Scherenschnitt eines Baums. Arun kam angekeucht. Tomoko sah ihn überrascht an, als er stehenblieb. „Wozu die Eile? Wir haben noch nicht mal halb Acht.“ „Fünfeinhalb Stunden Schlaf und jetzt auch noch das… Womit habe ich das verdient?“, seufzte Arun und lehnte sich gegen die Tür. Tomokos Augen verengten sich ein Stück. „Ich kann es nicht leiden, ignoriert zu werden“, sagte sie ganz langsam und mit Betonung auf jedem Wort. „Ich bin Yuii über den Weg gelaufen – nein, sie mir“, erklärte Arun. „Dir ist wer über den Weg gelaufen?!“, wiederholte es dreistimmig. „Stellt euch nicht doof. Ich hätte nie gedacht, dass Yuii so eine Frühaufsteherin ist. Bin aus dem Haus gegangen und nach dem ersten Straßenwechsel hab ich sie plötzlich auf der anderen Straßenseite unter einer Laterne stehen sehen.“ „Gruselig!“ Vanessa schüttelte sich. „Ich wollte mich nicht kampflos zur Beute machen und mich alleine von ihr in die Ecke drängen lassen. Also bin ich den Restweg zur Schule gerannt.“ „Das sind gute zwei Kilometer! Tolle Gazelle!“ Mitsuru nickte anerkennend und verkniff sich ein Kichern. „Witzig, Mitsuru…! Jedenfalls hab ich sie gleich abgehängt. Ich denke, sie hält es für unter ihrer Würde, sich auf Teufel komm raus an diese eine Gelegenheit zu klammern, dumm ist sie ja nicht. Ich bin mir sicher, sie weiß genau, dass sie noch genug bekommen wird. Wenn sie die Strecke in Normalgeschwindigkeit und zu Fuß nimmt, haben wir noch gute zehn Minuten Ruhe.“

Arun zog die Tür auf und die vier marschierten in die Pausenhalle, wo sie sich in eine Ecke nahe der Treppe verkrochen. Arun nahm schon mal ein zweites Frühstück zu sich und Mitsuru ließ Vanessa auf den letzten Drücker die Lösungen seiner Mathehausaufgabe abschreiben. „Ich wusste ja den Weg, aber die Lösung nicht. Es ist zum Kotzen!“, grollte Vanessa. Als würde eine Gewitterwolke über uns aufbrechen, dachte Mitsuru. „Also ich habe ja keinen Schimmer, wie du dann die Lösung nicht ausrechnen kannst, wenn dein Weg stimmt.“ „Ich habe auch nicht erwartet, dass du eine Ahnung hast!“, schnaubte Vanessa und drückte ihm sein Heft zurück in die Hand. Plötzlich schnippte Tomoko mit den Fingern. Vanessa, Mitsuru und Arun lenkten ihre Aufmerksamkeit auf sie. „Mir ist was eingefallen. Wegen Yuii.“ „Dann sag, du Superhirn!“, forderte Arun sie interessiert auf. „Wenn ich mich richtig erinnere, kam Yuii immer kurz vor knapp zum Unterricht. Dass sie kurz nach sechs schon zur Schule geht… Das ist doch völlig untypisch für sie, ich kann mir einfach nicht ausmalen, dass auch sie eine schlaflose Nacht hatte.“ „Dafür sah sie auch ziemlich wach aus“, erinnerte Arun sich. Tomoko beendete ihre Aussage. „Also ist es doch viel wahrscheinlicher, dass sie angefangen hat, sich den Wecker extra so früh zu stellen.“ „Und zu welchem Zweck? Was bringt ihr das denn, wenn sie jeden Tag zwei Stunden zu früh aufsteht?“, fragte Vanessa. „Sie will uns rund um die Uhr verfolgen und im Blick haben können. Sie wollte Arun treffen, um eine Chance auf einen Sieg zu erhalten. Es geht ihr darum, keine Gelegenheit mehr zu verpassen“, erklärte Tomoko. „Das ist ja wohl logisch“, fügte sie nach einigen Sekunden toten Schweigens sachlich hinzu. Vanessa ballte eine Faust. „Yuii ist wirklich gut! Ich hätte allmählich nichts mehr dagegen, sie kaltzumachen!“ „Kaltmachen heißt Ermorden“, verbesserte Mitsuru sie monoton im Hintergrund. „Gut, dann verpasse ich ihr eben nur eine neue Augenfarbe. Das ist doch unmissverständlich, oder?“ „So kannst du es stehenlassen. Ich würde dir aber davon abraten, wenn du keinen Krach mit dem Direktor und deinen Eltern riskieren willst.“ „Der Punkt geht an dich. Und ich glaube, bei diesem Ergebnis lassen wir es auch, denn ab sofort sind wir wieder Zielpersonen.“ Vanessa nickte in Richtung Tür. Yuii kam in die Halle gestapft, sie sah schlecht gelaunt aus. Tomoko sah mit einem wenig begeisterten Blick auf ihre Uhr. „Sehr schön. Dann können wir uns jetzt ein Gesprächsthema für die nächsten 60 Minuten aussuchen. 62 Minuten, um genau zu sein.“ „Ich hab erst mal eine Frage“, meldete sich Vanessa zu Wort. „Immer raus damit. Was denn?“ „Weiß einer von euch, wo Kiyomi bleibt? Wir treffen uns immer gleichzeitig. Sie hat gestern nichts zu mir gesagt, euch vielleicht?“, fragte Vanessa mit einem unruhigen Blick auf die Tür. Arun schüttelte den Kopf. „Nee, nichts“, antwortete Mitsuru. „Zu mir hat sie auch nichts gesagt. Aber wer weiß, vielleicht ist sie spontan krank geworden oder dergleichen. Vielleicht wollte sie auch etwas länger schlafen und kommt erst später.“ „Seit wann, Tomoko, kümmert sich Kiyomi so viel um sich selbst, dass sie uns sitzenlässt? Sie ist sich ziemlich egal, eine Verabredung hat sie noch nie sausen lassen.“ Mitsurus Widerspruch tendierte fast schon zu einem ungläubigen Auflachen. „Wahrscheinlich ist sie wirklich krank geworden. Bauchschmerzen, Kopfweh oder gleich Fieber“, vermutete Arun und packte seine Brotzeitbox wieder ein. „Früher oder später erfahren wir es doch sowieso, Frau Rose wird schließlich pflichtgemäß Elise oder sonst irgendwen ins Sekretariat schicken, um nach Kiyomi zu fragen.“ Er ließ seinen Blick an Yuii hängen bleiben, die an eine Säule gelehnt im Schneidersitz auf dem Boden saß, die Arme verschränkt. Ihre Augen hatten einen in sich selbst vertieften, unzufriedenen Blick, vermutlich dachte sie scharf nach. Was sie wohl schon wieder ausheckt…?, fragte sich Arun im Stillen besorgt. Yuii war eine vermaledeite Intelligenzbestie, das wussten sie alle fünf. Sie war mit Sicherheit noch nicht am Ende.

Tatsächlich war Kiyomi nach der ersten Hälfte der Mathestunde immer noch nicht aufgetaucht. Frau Rose schickte Elise aus, um im Sekretariat nach ihr zu fragen. Arun und Vanessa ließen sich wieder einmal von Yuii einheizen, eine andere Wahl hatten sie nicht, wenn es ruhig bleiben musste. Zwischendurch huschte Vanessas Blick zur linken Hälfte ihrer Doppelbank. Eigentlich sollte jetzt Kiyomi hier sitzen und aus dem Fenster starren. Stattdessen spiegelte sich das Licht, das durch die Fenster fiel, auf einer blanken Tischplattenhälfte. Nach ein paar Minuten Geometrie kehrte Elise zurück. Frau Rose ließ die Kreide sinken. Die letzte Minisalve Kreidestaub rieselte auf die Ablage. „Und?“, fragte sie abwartend. „Kiyomi ist krank, sagt ihre Mutter.“ „Wie, krank? Ist sie für mehrere Tage entschuldigt oder kommt sie schon morgen wieder zur Schule?“ „Kiyomi hat Kopfschmerzen und leicht erhöhte Temperatur. Frau Mizuyama weiß noch nicht, ob sie morgen schon wieder zum Unterricht erscheint. Wenn nicht, wird sie aber schon früher Bescheid geben.“ „Gut, dann soll Niklas schon mal im Klassenbuch Kiyomi als abwesend eintragen. Grund: Kopfschmerzen, leicht erhöhte Temperatur. Und das wird auch jetzt sofort erledigt.“ Gehorsam schlug Niklas das Klassenbuch auf und machte den Eintrag. Vanessa überlegte mittlerweile schon, ob sie ihr Mathebuch aufstellen und als Schutz vor Yuiis Blick nutzen sollte. Arun blieb nichts übrig, als einfach komplett abzuschalten. Der Nachteil: Er konnte sich auch nicht auf die Geometrie konzentrieren. Aber um nicht länger Yuiis verbale Attacken wie Pfeile auf sich einbohren zu lassen, war es ihm das wert. Die zwei haben es auch nicht leicht, dachte Mitsuru leicht amüsiert. Mit denen würde ich nicht tauschen wollen, dachte Tomoko mitleidig und putzte ihre Brille.

„Was soll das heißen, Arun und Mitsuru?!“, blaffte Frau Rose. Dritte Stunde, Englisch. Als Klassenlehrerin unterrichtete Frau Rose sowohl Mathematik als auch diese Fremdsprache. Und gerade fuhr sie beinahe aus der Haut, als die beiden Jungen ihr verkündeten, dass sie die Hausaufgaben zu machen vergessen hatten. In der Klasse war es mucksmäuschenstill. „Ihr habt die Hausaufgaben vergessen?!“ „Nicht vergessen, vergessen zu machen“, verbesserte Mitsuru sie gelassen. Was traust du dich eigentlich, Mitsuru?!, schrie Arun in Gedanken. Er selbst machte sich bereits klein wie eine Maus. „Ihr holt diese Hausaufgabe noch heute nach! Beim Nachsitzen! Geht ins Sekretariat und sagt euren Eltern Bescheid, dass ihr den Nachmittag in der Schule verbringen werdet“, schrie Frau Rose und riss die Tür zum Flur auf. Während Mitsuru an ihr vorbeilief, warf Vanessa ihm einen belustigten Blick zu, der sagte: Und du hast gesagt, dass ich keinen Ärger riskieren soll! Was Vanessa und Tomoko aber ärgerte, war, dass sie nun auf Mitsuru und Arun warten mussten, wenn die Schule zu Ende war. Sie wollten sich in sicherer Höhe über Kiyomi und vor allem Yuii beraten. Und nun mussten sie erst einmal warten.

In der Pause befand Tomoko das Nachsitzen für gar nicht einmal so schlimm. „Ihr seid beide gut in Englisch. Wenn ihr zwei Plätze nebeneinander findet, dann kann Mitsuru Arun abschreiben lassen. Tja, und wenn nicht, dann dauert es eben ein bisschen länger. Vanessa und ich warten hinter der Turnhalle, wie immer, wir werden die Zeit bis ihr kommt schon überleben. Aber…“ Sie sah Mitsuru und Arun streng an. „Schaut das nächste Mal erst in euren Terminkalender, bevor ihr vergesst, die Hausaufgaben zum dritten Mal nicht zu machen!“ „Wir machen so schnell wir können“, versprach Arun. „Sehr gut.“ Tomoko nickte zufrieden. „Dann lösen wir uns jetzt auf, denn Yuii ist schon wieder im Schnüffel-Modus.“ Auch wenn Yuii nichts mitgehört hatte, es war zu spät. Ihr Meistergehirn generierte bereits ein äußerst treffendes Szenario: Die sind immer zusammen hinter der Turnhalle, nur fehlt Kiyomi heute. Ich weiß noch immer nicht, was sie da anstellen, aber ich würde meinen Notendurchschnitt darauf verwetten, dass Tomoko und Vanessa auf die zwei Jungs warten werden, Nachsitzen hin oder her, dachte sie. Wie könnte sie das in einen Plan umformen…? War es überhaupt ein Vorteil? Sie auszuquetschen bringt mir nichts, Arun hab ich auch nichts abzapfen können… Aber wenn ich großes Glück habe, werden sie unvorsichtig. Zufrieden lächelte Yuii. Ob es eine Chance werden würde, konnte sie nicht sagen, doch die Möglichkeit bestand. Sie verdiente ihren Titel als Intelligenzbolzen. Sie würde einfach sehen, was der Tag noch bringen würde und sich jetzt erst einmal eine Dose Limo gönnen, denn das Schulleben beinhaltete weiß Gott noch genug Tage mit Gelegenheiten. Wer war sie denn, sich nur an die eine zu klammern? Doch die Verlockung war genauso groß wie ihr Stolz.

Mitsuru und Arun trotteten zum Nachsitzen, Tomoko und Vanessa hinter die Turnhalle. „Deppen“, murmelte Vanessa. „Ändern können wir nichts mehr. Aber ich glaube daran, dass die zwei es schnell über die Bühne bringen.“ „Ich beneide deinen Optimismus!“, knurrte Vanessa. „Ich wollte immer so sein, hab‘s aber nie hinbekommen. Ich glaube, das Volk der Sonnenscheine passt einfach nicht zu mir.“ „Weise, weise…“, murmelte Tomoko und zerrte Federmäppchen und Englischzeug heraus. „Verstehst du das Thema selber oder muss ich dir erst alles erklären?“ „Ich bitte dich!“, schnaubte Vanessa. „Ich bin genauso gut in Englisch wie Arun und Mitsuru! Als ob ich diese Zeitformen nicht allein kapieren könnte!“ „Dann ist gut, in diesem Fall brauche ich nur halb so lang“, antwortete Tomoko zufrieden und schlug ihr Buch auf. Fünfzehn Minuten später hatte Vanessa eine Hausaufgabe, die zwar ein paar Fehler beinhaltete, von denen sie nichts wusste, aber immerhin fertig war. „Hast du Lust auf ein Spiel?“, fragte sie Tomoko. „Was für eins?“, wollte ihre Freundin interessiert wissen. „Wer wird es zuerst schaffen, seine Flügel zu entfalten?“ „Du meinst, dass wir daraus einen Wettkampf machen? Na gut, aber guck vorher nochmal nach Yuii, ja?“ Vanessa joggte um die Turnhalle herum, fand aber niemanden, weder Yuii noch einen Lehrer oder anderen Schüler. Tomoko erhob sich gemächlich aus dem Gras. „Dann gut. Aber nur kurz! Jederzeit kann jemand hier um die Ecke kommen und dann sitzen wir in der Patsche.“ „Klar, Boss“, antwortete Vanessa leicht angenervt. Aber Tomoko hatte auch Recht, schließlich musste ihre Fähigkeit ein Geheimnis bleiben! Nebeneinander stellten sich die zwei auf den Rasen. „Eins… Zwei… Drei!“, zählte Tomoko und beide dachten an etwas Schönes, Befreiendes. „Och nee, du warst schneller als ich!“, seufzte Vanessa enttäuscht. „Macht doch nichts. Das macht Spa…“ „ERWISCHT!“, schrie Yuii. Was es doch bringen kann, sich in der Turnhalle statt daneben zu verstecken…! Vanessa und Tomoko fuhren herum. Yuii stand an der Wand der Turnhalle, sie hatte wahrscheinlich alles gesehen. Für eine kurze Sekunde blieb die Zeit stehen. Dann ergriff Tomoko die Initiative. Sie ließ ihre Flügel verschwinden, Vanessa direkt danach. Sie konnte kaum sehen, wie schnell Tomoko an der Tür der Abstellkammer war, sie aufriss, Yuii davor zerrte und hineinschubste. Sie flog genau in das ganze Gerümpel und Tomoko knallte die Tür zu. „Los, sieh zu, dass du Land gewinnst!“, schrie sie Vanessa zu. Beide hetzten bis vor die Tür der Aula, wo gerade Mitsuru und Arun vom Nachsitzen zurückkamen. „Der Flug fällt heute aus! Folgt uns!“, rief Vanessa ihnen mit einem heftigen Wink zu. Besser hätte sie gesagt: Folgt Tomoko, denn sie schien ein bestimmtes Versteck im Sinn zu haben.

Tomoko beanspruchte die Ausdauer ihrer Freunde bis an das oberste Limit, zehn Minuten lang ließ sie Mitsuru, Arun und Vanessa bei Höchstgeschwindigkeit hinter sich her sprinten, bis sie am Bach ankamen und sich unter der Brücke hinsetzten. Das Wasser strich an den Pflastersteinen entlang, der Bach war etwa vier Meter breit. „Du hast eine gute Ausdauer“, stieß Mitsuru hervor und stützte sich auf seine Knie. „Und jetzt erzählt mal, was das soll. Wenn ich schon fast umkippe vor Anstrengung, will ich wenigstens den Grund dafür wissen“, forderte Arun und lehnte sich an die Wand, auch wenn er sich ducken musste, da die Höhe der Brücke nicht zum Stehen reichte. „Liebend gerne erzählen wir euch das. Und das Donnerwetter danach, darauf freuen wir uns noch mehr!“, grummelte Vanessa schuldbewusst.

„Das war, was passiert ist“, schloss Vanessa. Wie erwartet fingen sie und Tomoko sich beide eine ordentliche Armkneife ohne Rücksicht von Mitsuru ein. „Was habt ihr euch dabei gedacht?! Uns sagt ihr, wir müssen vorsichtig sein und selber lasst ihr euch von Yuii erwischen! Mit euren Flügeln! Ich würde euch beide gerade so gerne noch ein bisschen mehr die Leviten lesen, aber es würde nichts bringen. Was sollen wir jetzt tun? Um diese Frage geht es wohl eher mehr.“ Gerade wollte Tomoko die Diskussion starten, als Vanessa sie unterbrach. „Warte, der Vibrationsalarm geht los…“ Sie kramte in ihrem Schulrucksack und förderte ihr Smartphone zutage. Ungläubig starrte sie auf das Display. Kiyomi. Vanessa drückte auf den grünen Hörer und auf Lautsprecher. „Kiyomi! Endlich meldest du dich. Was ist denn los?“, wollte sie fragen, aber mehr als den Namen ihrer Freundin konnte sie nicht sagen, denn sie wurde unterbrochen. „Heute Abend, acht Uhr, unter der Brücke am Bach!“, befahl Kiyomi und dann wurde der Bildschirm schwarz. „Heute Abend hier?“, fragte sich Arun. „Warum das?“ „Mich würde mehr interessieren, was das für eine Nummer war. Wenn ich mich nicht völlig verhört habe, hat Kiyomi diesmal tatsächlich Druck, nein, Befehl in ihre Stimme gelegt, sie hätte sich fast wie ein müder General angehört.“ „Bis heute Abend… können wir die Zeit nicht einfach hier abwarten?“, fragte Mitsuru. „Jetzt ist bald halb vier. Eindeutig zu lange, die ganze Zeit hier abzusitzen wie im Gefängnis – sind wir freiwillige Sträflinge, oder wie? Wir gehen nach Hause und kommen um acht hierher zurück“, entschied Tomoko. „Ob es richtig ist, Kiyomi einzuweihen?“, überlegte Arun plötzlich. „Also, ich bitte dich!“, rief Vanessa und stand auf. „Sie hat ein Recht darauf. Wir sind alle Himmelsstürmer. Warum sollten wir sie wegen irgendwelchen Umständen hiervon ausschließen? Wenn sie es auf die harte Tour herausfindet, wird sie es uns noch übel nehmen. Kiyomis Selbstbild ist ein einziges Paradoxon: Sie wird sagen, sie sei belastbar genug, damit zu leben, dabei weiß sie eigentlich genau, dass sie schon am Abgrund steht, sich selbst aufzugeben, nur will sie es nicht wahrhaben!“ „Ganz wie du meinst“, murmelte Arun einsichtig. Dann zerstreuten sie sich, mit dem Versprechen, auf dem Heimweg aufzupassen, dass Yuii ihnen nicht begegnete.

Kapitel 4

Mitsuru verspätete sich wie üblich um ein paar Minuten, doch die anderen ließen es ihm noch durchgehen. Kurz nach zwanzig Uhr saßen sie zu fünft unter der Brücke. Das Wasser stach golden in die Augen, die Sonne war am Untergehen. Mitsuru, Kiyomi, Vanessa, Tomoko und Arun warfen lange Schatten, die sich irgendwo mit dem der Brücke vermischten. „Kiyomi…“, begann Vanessa mit sichtlichen Gewissensbissen, „… wir müssen dir zuerst etwas sagen.“ Tomoko schwieg und biss auf ihrer Lippe herum. Scheinbar machte es ihr bei einer sonst so pflichtbewussten Art ordentlich zu schaffen, dass sie sich zu diesem Blödsinn hatte verleiten lassen. Kiyomi sah Vanessa mit trüben Augen an. „So? Was denn?“, fragte sie. Ihr Generalton war wieder verschwunden, sie klang wieder genauso leblos, kalt und monoton wie immer. Mitsuru und Arun sahen zur Seite, als wollten sie betonen, dass sie nichts mit dem, was jetzt kommen würde, zu tun hatten. Nachsitzen, schön und gut, das war unser Fehler, aber ich hätte da ganz sicher nicht mitgemacht!, dachte Arun störrisch. Sie hätten mehr mit solchen Konsequenzen rechnen müssen, redete sich Mitsuru ein. „Yuii hat mich und Tomoko mit Flügeln erwischt“, brachte Vanessa es kurz und schmerzhaft hinter sich. Tomoko drückte den Stoff ihres T-Shirts in der Faust zusammen, um nicht vor Selbstvorwürfen an die Decke zu gehen. Ein sanfter Windstoß wehte unter der Brücke hindurch und versetzte Kiyomis elfenbeinfarbene Locken in leichte Bewegung. „Was? Wie ist das passiert?“ Es lag weniger Interesse in der Frage als bei der Aussage einer Navistimme. Vanessa meinte fast, schlecht zu hören. Zerrte das denn gar nicht an Kiyomis Nerven? Die dunkelblauen Augen blieben tief und trüb, wie ein See, in dem das Wasser bereits faulte. Entweder sie kann das verdammt gut verstecken oder es ist ihr selbst das egal, dachte Tomoko. „Ich und Tomoko haben uns in einen totalen Irrsinn verrannt und obwohl wir vorher noch mal nachgesehen haben, wurden wir erwischt; Yuii hatte sich in der Turnhalle versteckt!“, ratterte Vanessa herunter. Du hast nachgesehen. Ich hätte deinen Fehler sicher nicht gemacht, versuchte Tomoko vergebens, sich von Schuldgefühlen zu befreien. Nun machte sie sich auch noch verrückt, nicht selbst nachgesehen zu haben, ob die Luft rein war. Passiert ist passiert, Tomoko Nanami! Da kannst du nichts mehr ändern!, fauchte ihre innere Stimme sie an. Leider!, antwortete Tomoko ihr patzig. „Ich dachte, Tomoko wäre zu pflichtbewusst für solche Risiken“, sagte Kiyomi mild. Der Satz durchbohrte Tomoko wie eine Lanze. Ja genau, sie war viel zu vernünftig dafür, warum hatte sie dann trotzdem mitgemacht, um Himmels willen?! Sie quetschte den Stoff ihres T-Shirts wie in einer Müllpresse zusammen. Lieber Himmel, die hat aber auch so einiges auf dem Gewissen! Das scheint ja extrem an ihr zu nagen, dachte Mitsuru größtenteils mitleidig, aber auch ein klein wenig amüsiert. „Wir kommen später nochmal darauf zurück,“, knirschte Tomoko schließlich mit rauer Grabesstimme, „jetzt ist erst einmal Kiyomi dran.“ „Ist irgendwas mit dir?“, fragte Kiyomi träge. „Nein, mir geht‘s bestens“, zischte Tomoko und drückte ihre Faust mit der anderen Hand noch enger zu. „Fang ruhig an!“, presste sie hervor. Kiyomi zog sich Schuhe und Socken aus und lief ein paar Schritte in den Bach hinein. „Was wird denn das?“, fragte Arun. „Neben euch habe ich nicht genug Platz“, erklärte Kiyomi gleichgültig. Die Kälte des Wassers schien ihr nicht mal im Ansatz aufzufallen. Kiyomi stützte sich auf die Knie, schloss die Augen und schien sich auf etwas zu konzentrieren. Dabei wurde ihre Miene immer angestrengter. So langsam überkam Arun und die anderen eine gewisse Ahnung, was sie vorhatte. Kiyomi kostete es sichtlich viel Vorstellungsvermögen, denn der einzige Gedanke, mit dem sie ihre Flügel entfalten konnte, war Freiheit. Und sich unter einer Brücke Freiheit vorzustellen, war für jemanden wie sie nicht gerade einfach. Auch ging die Sonne unter, und Sonnenuntergänge bedeuteten für Kiyomi, unabhängig von dem was gerade passierte, in ihrer Phantasie das Ende. Und von dieser besaß Kiyomi eindeutig zu viel. Oder zu wenig, wie man es nehmen mochte. Schließlich brachte sie es zustande: Ein paar Flügel schoss aus ihrem Rücken und breitete sich aus. „Und was genau soll das jetzt?“, fragte Arun stumpf. „Guckt euch doch mal den rechten Flügel genau an“, schlug Kiyomi vor. Mitsuru war der Erste, der entdeckte, was sie meinte. „Das gibt‘s ja gar nicht!“, rief er. „Eine schwarze Feder!“ Kiyomi ließ ihre Flügel verschwinden und setzte sich wieder zu ihnen. „Korrekt“, sagte sie. „Ja, aber – hör mal! Mehr fällt dir dazu nicht ein?“, brauste Vanessa auf. Tomoko schien ihre Selbstärgernisse zu vergessen. „Wann hast du das denn bemerkt?“, fragte sie mit Doktorstimme. Kiyomi zuckte mit den Schultern, für ihre Verhältnisse eine ziemlich lebhafte Geste. „Heute natürlich. Darum war ich auch nicht in der Schule. Ich habe heute Morgen mal versucht, meine Flügel heraufzubeschwören, wegen gestern, und vorm Spiegel ist mir dann aufgefallen, dass viele Federn irgendwie grau geworden sind. Und diese eine eben schwarz. Nachdem ich das festgestellt habe, ist mir schlecht geworden und ich bin einfach daheim geblieben“, berichtete sie dumpf, als wäre nichts dabei. Die Schatten der fünf wurden immer undeutlicher, je tiefer die Sonne sank. Allmählich senkte sich auch die Temperatur und damit die Stimmung. „Das ist doch vorher nie passiert, bei keinem von uns“, meinte Arun hilflos. „Jammern bringt nichts,“, wies Tomoko ihn zurecht, „außerdem wissen wir doch gar nicht, was das zu bedeuten hat. Vielleicht ist es ja auch ganz harmlos. Meine ältere Cousine zum Beispiel hat mal die totale Wandlung in der Haarfarbe durchgemacht, von braun zu weiß, und ihr geht es heute immer noch gut.“ „Und was will Professorin Tomoko uns damit sagen?“, fragte Mitsuru ironisch. „Abwarten und Kakao trinken“, antwortete sie unmittelbar. Vanessa stützte das Kinn in die Hand. „Klingt gut. Vielleicht ist es gar nicht so ernst und einfach wie bei deiner Cousine. Es gibt unter Vögeln ja auch nicht bloß Schwäne.“ „Genau“, sagte Kiyomi. Sie konnte nicht sagen, ob Tomokos Optimismus sie insgeheim störte oder ihr wirklich nichts ausmachte. Ihr Innerstes war schon lange nicht mehr fähig, Gefühle zuzuordnen oder sie ihr überhaupt ins Gedächtnis zu vermitteln. Ihr war es eigentlich ziemlich egal. Wahrscheinlich hatten die anderen Recht und es war nichts Ernstes. Was sollte es denn auch sein? „Denkst du, du kommst morgen wieder zur Schule?“, hakte Arun nach. Wer wusste schon, was Kiyomi ihrer Mutter erzählt hatte und was davon stimmte? Kiyomi deutete ein Nicken an. „Ja, denke ich.“ Tomoko knetete wie irre ihre Hände, als wolle sie sie zu Teig verarbeiten, während sie unwillig zurück auf das Thema Vanessas und Tomokos fataler Fehler zu sprechen kam. „Wir müssen uns gut überlegen, wie wir uns da wieder rauswinden. Die Flüge werden wir niemals streichen, das geht einfach nicht. Es muss einen Mittelweg geben.“ „Und der wäre?“, fragte Mitsuru taktlos. „Den müssen wir erst noch herausfinden, du Blindschleiche!“, fauchte Tomoko und lehnte sich vor. Mitsuru lehnte sich ebenfalls vor. „Entschuldige mal, wer von uns beiden ist hier die Blindschleiche? Ich war brav beim Nachsitzen und hab alle Aufgaben erledigt und mich darauf verlassen, dass du und Vanessa keinen Mist bauen!“, feuerte er zurück. Tomoko schien nicht noch mehr ertragen zu können. „Es reicht! Ich weiß ja selber, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber du musst mir das nicht aufs Auge drücken, verstanden?! Mein Gewissen leidet sowieso schon genug und ich halte es bereits jetzt nicht mehr aus! Wenn du also meinst, ich könnte unter solchen Umständen sofort eine Idee aus dem Hut zaubern, dann hast du dich geschnitten, ist das angekommen?!“, giftete sie in rasender Geschwindigkeit all ihre Wut aus sich heraus. Mitsuru hob die Hände. „So viel wollte ich gar nicht hören. Das war nicht böse gemeint, ich dachte nur, dass du vielleicht schon einen Plan hättest. Schon gut, belassen wir es dabei.“ Tomoko schnaubte. So überreizt war sie schon lange nicht mehr. Ich glaube, sie macht die Sache für sich noch schlimmer als sie ohnehin schon ist, dachte Mitsuru. Er musste besser aufpassen, was er sagte. Tomoko konnte äußerst unangenehm werden, es war normalerweise aber keine einfache Sache, sie so weit zu bringen. „Ich weiß zwar nicht genau, woher ich diese Zuversicht nehme, aber ich bin mir sicher, der Mittelweg wird sich genau dann ergeben, wenn wir ihn schon gar nicht mehr erwarten!“, meinte Arun voller Gelassenheit. Vanessa, Tomoko und Mitsuru glotzten ihn an wie Fische. „Was ist denn mit deinem Pessimismus passiert? Ich dachte, ich wäre der Optimist in dieser Gruppe“, fragte Mitsuru schließlich. „Bist du ja auch. Ich habe nur so eine Ahnung, weißt du… Ich kann zwar nicht sagen, warum, aber ich habe sie.“ „Und darauf sollen wir jetzt bauen?“, hakte Vanessa sarkastisch nach. „Viel mehr bleibt uns im Moment nicht übrig“, konterte Arun. „Recht hat er“, nickte Tomoko. „So langsam sollten wir uns auflösen. Es wird langsam frisch und wir haben nichts mehr zu diskutieren.“

 

Tatsächlich erschien Kiyomi am nächsten Tag wieder zum Unterricht. Die Freude verebbte allerdings bald, genau genommen nach Ende der sechsten Stunde hinter der Turnhalle. Tomoko hatte diesmal, noch immer von Schuldbewusstsein erfüllt, selbst sichergestellt, dass Yuii sich nicht in der Nähe befand. Doch während sie, Vanessa, Mitsuru und Arun es leicht in die Luft schafften, blieb Kiyomi auf dem Boden zurück. Vanessa landete mühelos wieder auf dem Rasen. „Was stimmt denn nicht?“, fragte sie. Kiyomi starrte leer auf ihre Flügel. „Ich weiß nicht. Ich konnte sie endlich ausbreiten, aber ich komme nicht vom Boden hoch.“ „Wirklich?!“ „Ja.“ So langsam wusste Vanessa nicht, ob sie weinen oder sich aufregen sollte, dass Kiyomi scheinbar nicht mal solch eine Sache mitnahm. „Ich denke, ich bleibe heute einfach sitzen und sehe euch zu“, sagte Kiyomi. „Was? Du willst nicht mal auf den Baum klettern oder so ähnlich?“ „Ich kann nicht gut klettern“, antwortete Kiyomi, ließ ihre Flügel ohne Probleme verschwinden und setzte sich ins Gras. Fassungslos hob Vanessa wieder ab. Das musste sie den anderen erzählen! Mitsuru, Tomoko und Arun konnten sich keinen wirklichen Reim darauf machen, warum Kiyomi auf einmal nicht mehr fliegen konnte. „Ich meine, schwierig war es ja schon immer für sie, aber geschafft hat sie es trotzdem jedes Mal“, meinte Arun. „Vielleicht belastet die Sache mit Yuii sie zu sehr?“, fragte sich Tomoko. „Das sagt ganz genau die Richtige, ehrlich. Aber Kiyomi müsste das eigentlich nicht vom Fliegen abhalten – hat es bei dir ja auch nicht. Da wir heute alles abgegrast haben, aber wirklich alles – Turnhalle innen und außen, Hauptgebäude, Büsche, Schulhof, Parkplätze – müsste sie ohne große Angst unbeschwert fliegen können. Von daher kannst du ihre Sorgen nicht mit deinen gleichsetzen und ich bin sicher, du verstehst was ich meine!“, winkte Mitsuru mit besonderer Betonung auf den letzten Worten ab. Tomoko sah ihn giftig an, mit einem Blick, der unverständlich vermittelte, dass sie diese Anspielung nicht schätzte. Mitsuru lächelte unschuldig.

Am Tag darauf war es die gleiche Nummer: Gründliche Untersuchungen ob sie auch ja alleine waren. Und wieder konnte Kiyomi nicht mitfliegen.

Am nächsten Tag gab es aber einen gewaltigen Schock: Während sie die letzten Male noch ein bisschen hatte flattern können, so konnte Kiyomi ihre Flügel heute überhaupt nicht mehr bewegen, sie waren steif wie Wachs. „Da ist doch was faul!“, regte sich Arun auf. Kiyomi lehnte sich an die Turnhallenwand. „Mir ist irgendwie ziemlich schlecht“, sagte sie, nicht minder gleichmütig wie sonst auch. Vanessa musste sich zusammenreißen, um nicht auszurasten. Irgendwo gab es auch eine Grenze für Gelassenheit! Sie und die anderen lösten ihre Flügel auf. „Dann würde ich mal sagen, heute setzen wir aus und gehen nach Hause“, schlug Tomoko vor. Sie war nicht die Einzige, der aufgefallen war, wie die übrigen weißen Federn teilweise gräulich bis grau geworden waren. Für sie stand fest: Sie hatte die Sache unterschätzt, sich gewaltig geirrt. Das mit Kiyomis Federn war ernst!

Kapitel 5

Durch die Fenster zog kühle Morgenluft ins Klassenzimmer. Vorne stand auf einem sonst unbenutzten Tisch eine Schachtel voller weißer Zettel, manche krumm geschnitten, andere wieder ordentlich gerade, oder ganze Blätter zu winzigen Vierecken zusammengefaltet und -gepresst: Die Referatsteams wurden ausgelost! Elise spielte die Losfee und sollte immer vier Namen ziehen und als ein Team auswerten. Vanessa, Tomoko, Mitsuru, Arun und Kiyomi hofften darauf, nicht zu blöde Partner zu bekommen, denn dieses Referat benötigte gemeinsame Recherche und musste auch – selbstverständlich – gemeinsam vorgetragen werden. Doch gleichzeitig gingen vier der fünf ganz andere Sachen durch den Kopf. Was stimmt nicht mit Kiyomis Federn? Ist das gefährlich? Können wir ihr dabei helfen? Solche Fragen rasten besonders in Tomokos Kopf auf und ab. Kiyomi äußerte sich dazu ja ziemlich gelassen. Aber das war kein Beweis dafür, dass es ihr nicht gefährlich werden konnte. Was, wenn es nicht nur beim Verlust der Flugfähigkeit bleiben würde?

Elise zog nun das dritte Team für das Thema Seefahrten und Weltozeane. „Mitsuru“, las Elise vor und klappte den zweiten Zettel auf. „Tomoko.“ Der dritte Zettel war zusammengerollt. „Arun.“ Der vierte Zettel war eines der tausendmal gefalteten Vierecke. „Und last but not least: Yuii.“ Das saß wie ein Paukenschlag. Yuii. Warum sie? Warum war das Schicksal so gemein mit ihnen? Arun ließ seinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Was hab ich noch gleich von wegen Mittelweg gesagt? Egal, was es war: Ich nehme es zurück. Ich bleibe ein Pessimist. In Tomokos Gehirn tobte ein Wirbelsturm. Sie mussten sich um Kiyomi kümmern, das war wichtig, aber was sollten sie mit Yuii anstellen? Bei der Recherche über irgendwelche Statistiken oder Seefahrer waren sie ihr ausgeliefert, denn niemand würde dieses Monster in sein Zimmer lassen. Und wenn sie ihr absagten, dann würde sie sie verpetzen oder daran erinnern, dass sie ja unmöglich alles alleine machen konnte bei einem Gemeinschaftsprojekt, ohne dass sie drei eine Sechs kassieren würden. Das war gar nicht gut. Yuii ließ von Arun, den sie bis eben noch bestichelt hatte, ab und drehte sich zu Tomoko um. Jetzt habe ich gewonnen, sagte ihr Blick. Noch nicht, antwortete Tomoko, zuerst musst du uns zum Reden bringen. Und das war auch die einzige Lösung, die ihr einfiel: Reden.

Vanessa und Kiyomi arbeiteten mit Elise und Niklas zusammen. In der Pause schärfte Tomoko den Jungs das Einzige ein, das sie retten konnte: „Was immer auch passiert: Nicht! Reden! Mehr können wir nicht ausrichten, also haltet euch daran, klar?“ „Jawohl, Boss“, stöhnte Arun von allem überfordert und Mitsuru salutierte. „Gut zu hören. Yuii auf sieben Uhr!“ Die drei drehten sich um. Vanessa und Kiyomi waren in ein Gespräch mit Niklas und Elise vertieft. Ihr Thema lautete Lebensräume auf der ganzen Welt. Da wartete auch ein Stück Arbeit auf sie.

Yuii und die drei anderen standen sich gegenüber. Mitsuru konnte die Blitze, die zwischen Yuii und Tomoko in den Boden einschlugen, förmlich sehen. „Also, da wir jetzt ein Referatsteam sind und Recherche betreiben müssen, wollte ich fragen, wo wir das machen sollen. Genauer gesagt, ob es in Ordnung ist, wenn wir bei mir recherchieren.“ Das klang gut, verglichen damit, dass Yuii sonst bei der erstbesten Gelegenheit herumzuschleichen beginnen würde. „Tolle Idee“, nickten sie alle drei durcheinander. „Wann denn?“, fragte Tomoko in einem möglichst neutralen Ton. Es gelang ihr nicht ganz, Mitsuru hörte die versteckte Messerklinge sehr gut heraus. „Wie wäre es mit morgen nach der Schule? Um drei?“, schlug Yuii vor. „Klingt perfekt!“, zischte Tomoko. „Freut mich“, giftete Yuii und machte sich mit nervenaufreibend langsamen Schritten davon, um ihren Erfolg zu unterstreichen, den sie vor Kurzem erreicht hatte. Als Yuii weg war, starrte Tomoko ihr nach, offensichtlich überlegte sie. Nur über was? Seit wann gab es im Punkt Yuii etwas zu überlegen? Mitsuru entschied sich dagegen, seine Freundin darauf anzusprechen. Tomoko konnte sich genauso in ihre Schuldigkeit zurückversetzt fühlen und dann würde sie ihn nur wieder anfauchen. Und darauf hatte er keine Lust. Was jetzt viel wichtiger war: Sich mental darauf vorzubereiten, einen Nachmittag unter Dauerbeschuss zu stehen. Tomoko rührte sich urplötzlich, packte ihn und Arun am Arm und zog sie beide dicht zu sich. Durch ihre Brille starrten ihre Augen sie an mit einem so stechenden Blick wie zwei Nadeln. „Hört zu, Jungs: Wir müssen das Ding schnellstens über die Bühne bringen! Möglichst schon morgen einen vollständigen Vortrag ausarbeiten und einstudieren, das ist das Ziel, verstanden? Dann gehen wir kein Risiko ein“, zischte Tomoko. „Du meinst, keinen zweiten Abstieg in den Löwenkäfig“, knurrte Arun. Mitsuru klopfte ihm betont fest auf die Schulter. „Immer schön positiv bleiben.“

Den nächsten Nachmittag verbrachten sie also bei Yuii Okano zu Hause, oder auch direkt im Quartier des Feindes. Yuii führte sie die Treppe nach oben und in ihr Zimmer. „Meine Mutter ist im Moment einkaufen, müsste aber bald zurückkommen“, erklärte sie und warf ihre Schultasche achtlos in eine Ecke. Tomoko kramte einen Linienblock aus ihrem Rucksack hervor. „Ich habe schon einige Notizen gemacht. Wir müssen nur noch die Texte und Bilder für das Plakat ausdrucken und unseren Text lernen“, zwitscherte sie unschuldig. Yuii erstarrte kurz. „Und was ist dann mit der Geschichte der Ozeane?“, fragte sie dann mit einem biestig-falschen Lächeln. „Darüber weiß ich so gut wie alles, hab mich schon immer dafür interessiert“, antwortete Mitsuru. Es war eine Halblüge, was er Yuii erzählte. Im Prinzip waren ihm die Eroberer und Vergangenheiten der sieben Weltmeere so egal wie sein Weckerklingeln, aber dass er nahezu alles darüber wusste, war richtig. Tomoko hatte beschlossen, ihn zu involvieren und ihn beauftragt, sich bis heute alles Wichtige über sämtliche maritime Lebenräume einzubläuen. Bis halb zehn war bei ihm der PC gelaufen und nun wusste er alles, was es über Ozeane zu wissen gab – vermutlich sogar mehr, als nötig gewesen wäre. Yuii schaltete ihren Rechner an. „Na dann, wenn es weiter nichts ist…“, meinte sie und öffnete sofort ein neues Google-Fenster, als eine Internetseite aufblitzte. Sie klickte auf das Kreuz besagter Seite und tippte im neuen Tab die Stichwörter ein, die Arun ihr diktierte. Na so was. Da hat sie doch glatt was vor uns zu verstecken, dachte Tomoko. Sie hat es nicht aus dem Verlauf gelöscht, diese dumme Gans. Wenn sie nur kurz das Zimmer verlässt, können wir nachschauen, aber es wäre sehr riskant. Egal, das Leben ist ein Risiko, schon immer gewesen, vielleicht ist es ja was Brauchbares, was wir gegen sie verwenden können.

Der Drucker schnurrte und spuckte nach und nach bedruckte Blätter aus, als sich unten ein Schlüssel im Schloss drehte und Yuiis Mutter das Haus betrat. „Yuii, Süße, hilfst du mir mal schnell?“, fragte sie hektisch. „Die Einkäufe fallen gleich alle runter!“ Yuii wandte sich an Mitsuru, Arun und Tomoko. „Fangt schon mal mit dem Ausschneiden an, ich bin gleich wieder da“, befahl sie und sprang zur Treppe. Arun lehnte sich über das Geländer und beobachtete die Szenerie. Als er meldete, Yuii helfe nun beim Auspacken der Einkäufe, sah Tomoko grünes Licht. „Auch nicht ganz helle, Verlauf nicht ausputzen und nicht mal ausschalten… leichtsinnig ist sie schon“, murmelte sie kopfschüttelnd und öffnete einen neuen Tab, wo sie im Verlauf die kürzlich geschlossene Seite aussuchte. „Wollen wir doch mal…“ ...sehen, wollte Tomoko eigentlich sagen, aber das, wovon die Internetseite handelte, hätte sie nun wirklich nicht erwartet. „Nee, oder?!“, flüsterte Mitsuru. Himmelsmenschen, lautete die Überschrift des Artikels. Nicht nur, dass Yuii sich mit übersinnlichem Zeug, Espern und solchem Kram auseinandersetzte, allein das war ja ein dicker Hund. Aber dass sie so versessen darauf war, mehr über Himmelsmenschen – und damit brachte sie ohne jeden Zweifel sie fünf in Verbindung – zu erfahren, damit hatte Tomoko nicht gerechnet. „Leute, die sind gleich fertig!“, zischte Arun am Treppengeländer. Tomoko nickte Mitsuru zu. „Los, schreib schnell die Seite ab: Esper&MythenLegends. Hast du‘s?“ Mitsuru kritzelte sich eilig etwas auf den Unterarm, schob den Ärmel darüber und nickte. „Sie kommt!“ Tomoko schloss den Tab, Arun flitzte zurück zu ihnen, Mitsuru teilte die Scheren aus, sie begannen zu schneiden und genau da kehrte Yuii zurück. „Sorry, hat etwas gedauert. Wie sieht‘s aus? Oh, gut, dann klebe ich die Texte schon mal aufs Plakat.“ Sie zerrte ein riesiges Plakat aus blauem Tonpapier unter ihrem Schreibtisch hervor und begann, sorgfältig die ausgeschnittenen Texte aufzukleben.

Am Ende bestand der ganze Sprechtext aus Mitsurus angelesenen Kenntnissen. Sobald alles saß, machten sich Arun, er und Tomoko aus dem Staub. Als sie weit genug weg von Yuiis Haus waren und sich hinter eine große Hecke stellten, rupfte Tomoko ihr Handy aus der Jackentasche. „Arun, du versuchst Vanessa zu erreichen. Sag ihr, dass wir uns bei Kiyomi treffen, und zwar heute noch um 17 Uhr, in einer halben Stunde.“ „Und wenn sie noch mit Niklas und Elise zusammenarbeitet?“ „Wir haben doch Zeit für die Projekte. Wir drei hatten wollten es direkt erledigen, weißt du nicht mehr?!“, zischte Mitsuru, während Tomoko bereits Kiyomis Nummer suchte und antippte. Arun nickte und zog auch sein Smartphone hervor. „Wohl nicht der hellste Stern am Himmel…“ Kopfschüttelnd lehnte Mitsuru sich an eine Straßenlaterne und wartete, er hatte gerade nichts zu melden.

Vanessa und Kiyomi hatten sofort Zeit, Tomoko hatte Recht gehabt: Sie hatten sich die Arbeit am Referat eingeteilt und waren schon lange wieder zu Hause. „Ihr drei habt aber auch ein Riesenpech“, meinte Vanessa mitfühlend und reichte Arun die Chipstüte. „Naja, ein paar von uns mussten doch die Arschkarte ziehen“, behauptete Mitsuru locker. „So spielt schließlich das Leben: Wenn es dir entgegenkommen soll, dann muss schon ein Wunder passieren. Sonst wäre es ja auch zu leicht.“ Tomoko nickte zustimmend und fuhr Kiyomis Rechner hoch. „Krümel mir bitte nicht zu viel“, murmelte Kiyomi in Aruns Richtung. „Wasch, ich doch nicht!“, mümmelte Arun. „Frustfuttern! Weißt du, wie ungesund das ist?“, knurrte Vanessa. Arun lehnte sich an der Wand an. „Seit wann kümmerst du dich um meine Gesundheit? Nebenbei, machst du es doch selbst. Und außerdem ist es mir egal, solange es mich aufheitert“, patzte er. „Was soll das eigentlich werden, Tomoko?“, fragte Kiyomi. „Bei Yuii habe ich echt was Interessantes gefunden. Ich würde mir keine zu großen Hoffnungen machen, aber vielleicht kann es uns auch Informationen über Kiyomis Krankheit liefern.“ „Ich bin nicht krank“, sagte Kiyomi. „Doch!“, widersprach Mitsuru. „Wenn du meinst.“ „Komm mal her!“, rief Tomoko und winkte Mitsuru zu sich. „Zeig mal, was du aufgeschrieben hast.“ Gehorsam schob er den Ärmel hoch und Tomoko tippte den Seitennamen ab. Nun versammelten sich alle um den PC. „Was soll das denn sein?“, fragte Vanessa und deutete auf die Suchzeile. „Etwas, das uns möglicherweise Antworten geben kann. Und mit dem Yuii offensichtlich Recherchen über uns anstellt“, erklärte Tomoko und klickte auf den Artikel zu den Himmelsmenschen. „Damit bringt sie nämlich zweifellos uns in Verbindung.“ „Is ja der Hammer!“ „Das hat sie also vor uns versteckt?“ „Richtig. Aber sie hatte es nicht aus dem Verlauf entfernt, deswegen konnte ich nochmal nachgucken… Wollen wir doch mal sehen, was der Text uns nun liefert.“ Sie lasen stillschweigend Zeile für Zeile. Es war unglaublich, dort stand sogar, wie die Fähigkeit zum Fliegen aktiviert wurde! Aber wie konnte das überhaupt sein? Gab es noch andere „Himmelsmenschen“ auf der Welt? Sie waren doch die einzigen, oder? Und wenn sie das wirklich waren – woher kamen dann all diese Informationen? Yuii war auf eine wahre Goldgrube gestoßen, leider zum Nachteil von ihnen fünf. Das würde die Überzeugung, Vanessa und Tomoko wirklich erwischt zu haben, erst recht festigen. Doch dann gelangten sie zu einem Textabschnitt, über dem es hieß: Die Rabenschwarzfedern. Er beschrieb erst einmal alles, was Kiyomi betraf: Langsam grau und dann schwarz werdende Federn, erschwertes Fliegen bist zum Verlust der Flugfähigkeit oder der Lage, überhaupt die Flügel erscheinen zu lassen. Dann stand da aber: Fortgeschritten können auch Müdigkeit, Fieber, Schwäche oder Schwindel vorkommen. In extremen Ausmaßen können Rabenschwarzfedern zum Tod führen.Die letzten drei Worte hallten in den Köpfen wider. Zum Tod führen… Zum Tod führen… Zum Tod führen… Zum Tod führen… Hieß das, dass Kiyomi sterben konnte? Mutig sprach Arun die Frage aus, wenn auch mit zitternder Stimme. Erst einmal schaffte es niemand, ihm zu antworten, doch schließlich brachte Vanessa ein schwermütiges „Ja.“ heraus. Kiyomi sagte überhaupt nichts dazu. Plötzlich spulte Mitsuru den Text weiter herunter. „Was wird das denn?“, fragte Tomoko. „Nicht so schnell. Vielleicht gibt es eine Heilungsmöglichkeit dagegen.“

Mitsuru hatte wirklich Recht: Es gab eine. Nötig waren mindestens ein weiterer Himmelsmensch – je nach Schwere der Krankheit mehr – und eine klare Vollmondnacht. „Wir sind vier, das sollte von der Zahl kein Problem sein. Aber das Wetter… Die nächste Vollmondnacht ist in einer Woche. Schaut unbedingt die Wetterberichte an! Wir brauchen ja auch einen Plan, wie wir das ganze Ritual um Punkt Mitternacht durchziehen sollen.“ Tomoko schien noch etwas anhängen zu wollen, doch dann ließ sie es bleiben. Mitsuru fragte sich, was es gab, das sie ihnen nicht anvertrauen wollte. Das hieß doch nur, dass sie ihnen nicht zutraute, dass sie einen Beitrag leisten konnten. „Das ruft nach einem Plan“, stellte Vanessa angesichts der Bedingungen fest. Tomoko winkte ab. „Überlege ich mir schon. Aber erst, wenn ich weiß, wann die nächste klare Vollmondnacht wird.“

Drei Tage vor Vollmond war Arun so aufgeregt wie lang nicht mehr. „Es ist doch nicht zu fassen! Das ist wie verhext, ausgerechnet dieser eine verfluchte Vollmond wird von Wolken versperrt sein!“, fluchte er und hielt den anderen vier einen Screenshot auf dem Handy vom Wetterbericht unter die Nase. Sie waren ganz allein in der Pausenhalle, der Unterricht würde erst in einer Dreiviertelstunde anfangen. Und das nutzte Arun aus, um seinem Frust Luft zu machen. „Das können wir nicht ändern“, sagte Kiyomi. „Nun tu doch nicht so, als ginge dich das hier nichts an!“, knurrte Arun. „Wir können doch nicht wieder einen Monat warten! Wer weiß, wie die Lage bis dahin aussieht? Und noch dazu haben meine Eltern nächsten Monat ein wichtiges Treffen, es ist zum Ausrasten!“ „Du rastest doch schon aus“, murmelte Mitsuru. „JA, TUE ICH! HAST DU DAMIT EIN PROBLEM?!“ „Nein.“ Tomoko schob ihre Brille zurecht und pustete sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ändern können wir wirklich nichts, da hat Kiyomi Recht. Hoffen wir auf nächsten Monat. Arun, selbst wenn deine Eltern ein Meeting haben – ich werde es in meinen Plan einkalkulieren. Jetzt bleibt nur noch, zu hoffen. Also komm runter, das führt zu nichts, denn das Wetter kannst du nicht beeinflussen.“ Widerwillig hielt Arun den Mund und packte sein Handy wieder weg.

Geduld übte sich, es war besonders für Arun und Vanessa schwierig, abzuwarten. Gerade jetzt, wo sie den Vollmond so dringend brauchten. Kiyomi ging es zunehmend schlechter, bald schleppte sie sich regelrecht zur Schule oder musste von Tomoko und Mitsuru wieder nach Hause gebracht werden. Wenn die vier kamen, um nach ihr zu sehen, lag sie meist teilnahms- und bewegungslos in der Ecke oder auf dem Bett. Tomoko bemerkte von Tag zu Tag mehr Rabenschwarzfedern, aber bald schon war Kiyomi gar nicht mehr dazu fähig, ihre Flügel auszubreiten. Und während diese Abwärtsspirale sich über Tage zog wie Kaugummi, war der Vollmond noch immer zweieinhalb Wochen entfernt. Der Vortrag mit Yuii brachte eine glatte Eins, doch auch dieses „Problem“ war immer noch nicht gelöst. Nach und nach schien die Gruppe den Verstand zu verlieren, bildete Mitsuru sich ein: Arun explodierte bei der kleinsten Kleinigkeit, quatschte ständig über alles, was ihn aufregte und konnte im wahrsten Sinne des Wortes nie die Füße stillhalten, Kiyomi geisterte durch ihr Leben wie eine leere Hülle, wenn sie überhaupt aus dem Haus ging, Vanessa plapperte mehr als sonst, um sich abzulenken und das Warten zu ertragen, sie fing deswegen sogar an, freiwillig zu lernen. Darum verbrachte Mitsuru die meiste Zeit damit, Arun auf den Teppich zu holen. Tomoko machte ihm aber mittlerweile ähnliche Sorgen wie Kiyomi ihnen allen. Es wurde immer kälter draußen, irgendwann waren es wieder nur noch drei Tage bis Vollmond.

„… und überhaupt, ich glaube, ich werde langsam wahnsinnig!“, ratterte Arun herunter, als er von Mitsuru aus der Schule gezerrt wurde. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass der Unterricht zu Ende war und hatte die Zeit bis 16 Uhr für eine sehr lange Mittagspause gehalten. Dabei hatte Mitsuru nur mal wieder seinen Spindschlüssel verloren und war ihn suchen gegangen, weil Arun sich aber noch so sehr abreagieren musste, war er ihm einfach hinterhergelaufen. Plötzlich hielt er inne in seinem Gejammer und deutete auf die Bank unter dem Baum im Schulhof. „Was macht Tomoko hier?“ „Was?“ Mitsuru blinzelte verwirrt, als er Aruns Fingerzeig folgte und sie tatsächlich auf der Bank sitzen sah. „Was macht sie denn hier? Es ist kalt,“, er sah kurz in den Himmel und zählte an der Hand mit, „es wird langsam dunkel, wir haben bald fünf und der Unterricht ist schon ewig vorbei.“ Tomoko sah nicht aus, als hätte sie ihren Spindschlüssel verloren, sondern sie saß mit der Schultasche neben sich da, wahrscheinlich schon seit Schulschluss! Arun schien auch nicht zu verstehen, was vor sich ging, aber Mitsuru ergriff als Erster die Initiative. Vor der Bank machte er Halt, Arun trottete ihm nach. Tomoko reagierte nicht. Sie starrte ins Leere. „Tomoko?“ Sie hob den Kopf und schien erst jetzt ihre Anwesenheit zu registrieren. „Oh. Mitsuru, Arun.“ „Was machst du denn hier?“, fauchte Arun, doch Mitsuru stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. „Werd jetzt mal wieder ruhiger!“, flüsterte er. „Ich denke nach“, antwortete Tomoko kurz angebunden. „Ich brauche einen Plan.“ „Aber es wird doch schon spät, überlege lieber morgen weiter“, schlug Mitsuru vor. Mit einem Schlag wurde Tomoko fuchsig und gesprächig. „Nein, ich muss nachdenken! Wenn ich es nicht schaffe, einen perfekten Plan auszuarbeiten, der unter allen Umständen funktioniert, könnte Kiyomis Leben meinetwegen ein Ende finden! Erinnerst du dich, dass ich gesagt habe, ich überlege mir den Plan?! Ich muss zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, nicht nur, damit Kiyomi weiterleben kann, da gibt es immer noch Yuii! Wenn es mir nicht gelingt, sie davon zu überzeugen, dass wir nicht fliegen können, dann werde ich dieser hässlichen Schlange nie mehr wieder in die Augen schauen können!“ Selten nahm Tomoko solche Worte in den Mund. Arun und Mitsuru waren perplex. Tomoko wies auf den Block. „Ich habe alles aufgeschrieben, was mir helfen könnte, aber ich drehe mich im Kreis, und ich muss unbedingt einen Ausweg aus dieser Spirale finden! Sonst… sonst…“, sie zerbrach beinahe den Bleistift in ihrer Faust, „Sonst nehme ich mir nochmal selbst das Leben, weil ich es nicht mehr ertragen kann, gegen diese… diese Dämonin den Kürzeren gezogen zu haben!“ Erschöpft sank sie gegen die Banklehne und starrte wieder ins Leere. Schließlich fragte Mitsuru: „Hast du die Hausaufgaben denn schon gemacht?“ Tomoko stöhnte müde. „Nein… vergessen… ich bin total K.O., dabei bin ich doch nur am Denken… Was soll ich jetzt tun? Planen, Hausaufgaben, dann muss ich überlegen wo ich stehengeblieben war…!“ Mitsuru hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. „Ist schon gut…“ Er nahm sich die Englisch- und Mathehefte aus Tomokos Rucksack. „Ich mach‘s für dich.“ Tomoko nickte nur vage und starrte weiter angestrengt vor sich hin.

Als Mitsuru und Arun sich wieder auf den Weg machten, löcherte Arun los. „Muss sie denn unbedingt hier in der Kälte weiter überlegen?“ „Ist ihre Sache.“ „Und was stimmt überhaupt nicht mit ihr? Die kam mir vor wie ein Zombie.“ Mitsuru lachte bitter. „Es ist so ähnlich, schätze ich. Es gab etwas, das Tomoko uns letztens immer wieder erzählen wollte, es aber nie getan hat. Das hat vermutlich mit Yuii zu tun.“ „Aber warum erzählt sie uns nichts davon? Das ist unser gemeinsamer Feind!“, fuhr Arun auf. „Hierbei können wir ihr nicht helfen.“ Arun verstummte und sah Mitsuru fragend an. „Hast du es nicht mitgekriegt? Sie hat gesagt, ihr perfekter Plan muss zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – die Rabenschwarzfedern und Yuii. Kein leichtes Ziel. Aber Tomoko weiß, dass sie es erreichen muss, denn sonst verliert sie gegen Yuii.“ „Verlieren? Wir haben nichts mehr zu verlieren. Außer Kiyomi, vielleicht. Oder willst du mir damit sagen, dass mehr dahinter steckt?“ Mitsuru nickte. „Genau. Tomoko und Yuii sind Erzfeinde. Sie sind beide Topschülerinnen und Klassenbeste. Jetzt wird sich endlich zeigen, wer von beiden schlauer ist. Tomoko versucht derzeit, Yuiis Handlungen vorauszusehen und ihren Plan so auszulegen, dass uns weder sie noch unsere Eltern, die mit uns unter demselben Dach wohnen, in die Quere kommen. Yuii versucht, Tomokos Plan vorauszusehen, um eine Lücke zu finden, durch die sie ihn zerstören kann. Da sie sich aber einander keine Informationen liefern, ist es sehr viel schwieriger als es aussieht. Ich meine, beim Schach kannst du ja auch nicht sehen, was im Kopf deines Gegners vor sich geht, du siehst nur seine Züge. Genau das versuchen Tomoko und Yuii aber gerade zu schaffen: In den Kopf der anderen einzudringen, noch bevor sie ihren Zug macht.“ „Das klingt nicht nur kompliziert, es ist absolut unmöglich! Sie können doch nicht gegenseitig ihre Gedanken lesen, obwohl sie kaum miteinander reden und absolut keinen Schimmer davon haben, wie die andere tickt!“ „Das ist eben der schwierige Teil der Sache.“ Mitsuru sah in den Himmel. „Und genau darum können wir Tomoko nicht helfen. Sie ist jetzt in ihrer eigenen Welt gefangen. Das ist jetzt ihr Kampf. Ein Kampf der Intelligenz, von dem Kiyomis Leben abhängt. Zwei Erzfeinde, aber es kann nur eine gewinnen. Und Tomoko wird es nicht ertragen, zu verlieren. Aber da können wir jetzt nur noch hoffen.“ Es stimmte, Tomoko und Yuii waren Erzfeinde, seit sie sich kannten. Nicht wegen dem Geheimnis um die Flügel, sondern eine andere Art von Feind. Sie konnten sich auf den ersten Blick nicht ausstehen, bekamen immer die gleichen Noten, waren geniale Strategen – unter ihrer Führung hatte es im Sport immer ein Unentschieden zwischen den Mannschaften gegeben – und es brachte sie zum Kochen, nie einen Leistungsunterschied zwischen ihnen beiden zu haben. Mitsuru glaubte, von allen in der Klasse hassten sich Tomoko und Yuii am meisten. Eine Feindschaft, die von außen nur halb nachvollzogen werden konnte. Arun ließ es dabei bewenden, wohl wissend, dass Mitsuru ihm auch nicht auf jede Frage eine Antwort geben konnte.

Der Countdown zählte auch nachts weiter. Zwei Tage noch. Um fünf Uhr morgens meldeten sich die Handys von Arun, Vanessa und Mitsuru, mit allen Explosions-, Hundegebell- und Schiffsalarmklängen, die eingestellt waren. Es war Tomoko, die sie an die Schule zitierte. Sie hatte endlich einen Plan.

Kapitel 6

„Bevor ich es vergesse: Hier sind deine Hausaufgaben“, meinte Mitsuru und reichte Tomoko ihre Hefte. „Ist ja toll, dass dein Plan steht, aber warum holst du uns ausgerechnet an die Schule? Vier Stunden vor Unterrichtsbeginn?“, fragte Arun und gähnte, die Kälte machte ihm das Wachwerden nicht einfach. Tomoko schüttelte den Kopf. „Bis ich euch meinen Plan verklickert habe, dauert es ein Weilchen. Und ich will absolut ungestört sein.“ „Und wieso hast du dann nicht bis heute Abend gewartet, wo wir uns unter der Brücke treffen könnten?“, hakte Vanessa nach. „Weil ich keine Zeit verschwenden will, wir haben nur noch zwei Tage und das Heilungsritual braucht ein paar Vorbereitungen.“ Vanessa, Arun und Mitsuru sahen sich kurz an und nickten sich zu. „Dann raus mit dem Plan“, forderte Arun. Tomoko wartete keine überflüssige Sekunde und begann, ihnen nacheinander ihre Aufgaben zuzuflüstern. Es dauerte und sie musste mehrmals die einzelnen Aufgaben wiederholen, doch am Ende stand alles. Tomokos Plan ließ sich mit nur zwei Worten beschreiben, die gegensätzlicher nicht sein konnten: Geniestreich und Wahnsinn. Sie würden Kiyomi retten!

„Okay, brich in zwei Minuten auf – und denk ja an die Kamillen!“, drang Mitsurus Stimme durch das Smartphone in Vanessas Ohr. Sie hatte den Auftrag bekommen, die Kamillen zu besorgen, damit Kiyomis Heilung gelingen konnte. Diese Blumen waren wohl der Schlüssel zur Heilung, wenn sie Tomoko richtig verstanden hatte. Kamillen waren tatsächlich das Symbol für Heilung, fiel Vanessa ein. Als ihre Tante sich einmal das Bein gebrochen hatte, hatte ihre Mutter mit ihr ein paar Kamillen besorgt und diese dann als Deko für die Tante ins Krankenhaus gebracht. Das war schon lange her, Vanessa war damals erst fünf gewesen, aber an die Worte ihrer Mutter erinnerte sie sich: „Wenn ich mal im Krankenhaus liege, dann bring mir auch Kamillen mit. Die stehen für Heilung und gehören zu jedem Krankenbesuch, okay?“ Also stimmte das alles und Kiyomi konnte dadurch geheilt werden – stand zumindest bei Esper&MythenLegends. Aber das war nicht alles: Tomoko hatte ihr die Aufgabe anvertraut, Yuii zu überzeugen, dass sie sich die Szene vor einigen Wochen nur eingebildet hatte. Vanessa wusste nicht, wie Tomoko sich das vorstellte. Seitdem war alles aus dem Ruder gelaufen, einfach alles! Und jetzt sollte sie Yuii eintrichtern, dass das alles nur wegen einer Einbildung zustande gekommen war? Die Chancen, eine weltberühmte Elefantendompteurin zu werden, stünden höher! Aber auf der anderen Seite hatte sie volles Vertrauen in Tomokos Fähigkeiten. Das hatten sie alle. „Alles verstanden. Ich bin unterwegs“, sprach Vanessa ins Smartphone, als sie die Haustür hinter sich schloss, die Tüte mit den Kamillen in einem Rucksack verstaut, damit Yuii nicht direkt reinspicken konnte. Vor dem Gartentor hielt sie inne und starrte auf den runden, weiß leuchtenden Vollmond. „Mitsuru… Was machen wir eigentlich, wenn ich versage? Oder wenn die Zeit zu knapp wird?“ „Der Plan ist wasserdicht! Wenn du merkst, dass du es auf Biegen und Brechen nicht mehr schaffen wirst, dann gib Yuii auf und mach, dass du zu uns und Kiyomi kommst. Ihr Leben ist wichtiger, verstanden? Es wäre zwar schön, wenn alles unter dem Teppich bleiben würde, aber im Zweifelsfall wird doch nicht mehr als ein Jugendgerücht aus Yuiis Sichtung werden. Unpraktisch für uns, aber verkraftbar. Alles, was du tun musst, ist vorwärts gehen, egal was passiert. Also zieh deinen Part durch und lass Tomoko und vor allem Kiyomi nicht hängen!“ Vanessa nickte und legte auf. Sie verschwendete Zeit. Mitsuru hatte Recht: Vorwärts war die einzige Richtung, die zählte. Sie riss das Gartentor auf und betrat den Fußweg der Hauptstraße. Vergangenheit ließ sich nicht ungeschehen machen, die Zukunft dagegen würde die Folge davon sein, was sie aus der Gegenwart formte. Bis zum Wald dauerte es bei Fußgängertempo im Schnitt zweieinhalb Stunden, Yuii bildete einen x-Faktor. Bald erreichte sie den belebten Teil der Innenstadt. Der Plan sah vor, dass sie den offensichtlichsten aller Wege gehen würde, denn Yuii hatte mit Sicherheit davon Wind bekommen, dass sie planten, auszurücken. Sie würde direkt den Wald vermuten oder wenigstens die Felder und sich einen Punkt aussuchen, an dem sie jemanden abfangen konnte. Yuii verhielt sich wie eine Spinne. Sie legte ihre Fäden aus und wer hineintappte, den verspeiste sie zum Frühstück. Diese Fäden zogen sich durch den Plan, den Tomoko geschmiedet hatte.

Tomoko hatte sich in ihrem Plan die Aufgabe zugeteilt, Kiyomi zum Wald zu bringen. Genauer gesagt, ergänzten sich ihrer und Kiyomis Part. Während Letztere ihren Eltern einen vorgegebenen Text aufgesagt hatte, würde Tomoko diese Lüge glaubhaft machen und ihre Freundin zum Wald bringen. „Klingel jetzt bei Mizuyama“, meinte Mitsuru durch ihr Handy. „Mitsuru, zum tausendsten Mal: Es heißt Mizuyama. Das Z wird wie ein S gesprochen. ‚Misuyama‘, nicht ‚Mitzuyama‘. Und warum hast du mich überhaupt noch an der Leitung?“ Sie hörte Mitsuru am anderen Ende der Leitung entnervt stöhnen. „Sorry, aber ich hab hier so viel technischen Krimskrams zu überwachen. Warum musste ausgerechnet ich der Kern der Sache sein?!“ „Weil du mir am geeignetsten erschienen bist“, erklärte Tomoko, während sie die zwei steinernen Stufen zur Haustür der Mizuyamas hochstapfte. „Soll ich das als Kompliment nehmen?“, fragte Mitsuru zweifelnd. Er klang im Moment wirklich verwirrt und gestresst. „Mach ruhig. Ich kümmer mich jetzt um Kiyomi. Behalt die anderen im Auge und bleib stark. Bis dann.“ Tomoko verstaute ihr Handy in der Jackentasche und drückte auf die Türklingel. Die Nacht war kalt und – logischerweise – klar. So kalt, dass Tomokos Atem kondensierte und so klar, dass der Mond von vielen, vielen kleinen und großen Sternen umgeben war. Kiyomis Mutter öffnete die Tür. „Ach, Tomoko!“ Tomoko setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. „Ganz recht. Ich bin hier, um Kiyomi abzuholen.“ „Aber klar, komm ruhig rein. Sie ist oben und packt gerade. Ich freue mich ja so, dass es ihr heute besser geht.“ Tomoko trat ein, immer noch mit strahlendem Lächeln. „Ich werde mal nachsehen, wie weit sie ist“, zwitscherte sie und hopste die Treppen nach oben. Kaum war sie außer Sichtweite von Kiyomis Mutter, wischte sich ihr Lächeln in weniger als einer Sekunde aus dem Gesicht. Die einzige Person, die in diesem Plan nicht direkt mit Mitsuru verbunden war: Kiyomi. Ihre eigenen Worte, wie sie deren Part festgelegt und ihr eingeschärft hatte, hallten in ihrem Kopf: „Reiß dich zusammen und benimm dich wie sonst auch, wann immer deine Eltern in der Nähe sind. Erzähl ihnen, dass du heute zu Tomoko nach Hause gehst, weil ihr euch zusammen die Sterne ansehen wollt und dass sie dich um 20 Uhr abholt. Wenn sie fragen, warum ausgerechnet bei Tomoko, dann erzähl ihnen, ihre Mutter hat einen Kuchen gebacken, den ihr zusammen essen wollt. Wenn du alleine bist, schon dich und warte auf mich. Aber lass dir nichts anmerken.“ Tomoko kam sich manchmal grausam vor. Kiyomi litt, auch wenn sie es vielleicht nicht wusste, und dass sie ihr nun abverlangte, einen ganzen Tag lang hervorragende Gesundheit vorzuspielen und dabei genug Kraft zu reservieren für einen Dreiviertelstundenweg war echt die Höhe. Und doch reichte ihr Bedauern nicht für Reue. Immerhin… konnte Kiyomi sich doch mal zusammennehmen, es war schließlich für ihr eigenes Wohl. Das waren Tomokos tiefste Gedanken, die sie natürlich so nicht aussprechen würde. Das wäre herzlos. Also öffnete sie einfach stumm Kiyomis Zimmertür, mit dem Wissen, dass darin ganz bestimmt niemand mit bester Laune einen Rucksack packte.

Das Bild, das sich ihr bot, war kein Stück besser als erwartet. Kiyomi lag in der Ecke und döste vor sich hin. Von ihr stiegen schwarze kleine Partikel auf, ähnlich wie Dampf. Nur viel feiner und einzeln sichtbar. Tomoko wusste nicht, woher der dunkle Waber kam, aber sie hatten ein Zeitlimit. Also nicht trödeln. „Komm, Kiyomi“, ächzte Tomoko und zog ihre Freundin auf die Füße. Kiyomi „Mmh“-te leise, hängte sich eine leere Tasche um und stolperte hinter Tomoko die Treppe nach unten. „Tschüss, Mama!“, rief sie halblaut Richtung Küche, es war fraglich, woher sie die Kraft für so eine Lautstärke nehmen konnte. Dann schloss Tomoko die Tür hinter ihnen. Kiyomi war die Tasche, die ja sowieso nur als Vorwand diente, lästig und während sie sich von der kurzen Strecke bereits erschöpft an den Zaun lehnte, stellte Tomoko die Tasche hinter einen dichten Busch. Wenn Kiyomis Mutter oder Vater nicht gerade auf die Idee kam, den ganzen Garten umzugraben oder die Hecken zu stutzen, würde niemand sie finden. Und nachts machte keiner Gartenarbeit. Tomoko seufzte. Sie hätte Kiyomi gerne zum Wald geflogen, aber das war einfach zu riskant. Also zog sie das schwächelnde Etwas im Schneckentempo neben sich her. Sie hatten einen kürzeren Weg zum Wald als die anderen. Tomoko lobte sich insgeheim für das Geflecht, das sie konstruiert hatte.

Arun starrte die Uhr an. Gleich brachen seine Eltern zum Meeting auf. Es fand woanders statt als geplant, denn im vorgesehenen Gebäude hatte es gestern einen schlimmen Wasserrohrbruch gegeben, was Tomoko netterweise in ihren Plan inkludiert hatte. Mitsuru hatte ihm die Anweisung gegeben, die Zeit zu verzögern und anschließend, kurz bevor er mit seinen Eltern das Haus verlassen sollte, seine Ausrede auszupacken. Das Meeting fand nun in einem Hotel statt, in dem die Teilnehmer auch über Nacht bleiben würden, da die Strecke relativ lang war, wegen einer Umleitung. Darum wollten Aruns Eltern ihn mitnehmen und das musste er verhindern. Arun stellte mal eben die Koffer woanders hin oder versteckte die Hausschlüssel. Irgendwann waren seine Eltern wirklich knapp dran. „Komm, Arun! Wir müssen jetzt wirklich los!“, rief seine Mutter nach oben. „Arun, tu es endlich!“, zischte Mitsuru ihm ins Ohr. „Ich… ich kann das doch nicht. Ich will sie nicht anlügen.“ „Arun?“, rief seine Mutter.

„Komm schon! Erzähl nicht, dass du noch nie jemanden angelogen hast.“

„Hab ich noch nie!“

„Arun?!“

„Dann tust du es jetzt!“

„Arun?! Alles in Ordnung bei dir?!“

„Ich kann nicht!“

„Wir haben Vollmond. Die Bedingungen stimmen. Nimm dich zusammen!“

„Arun? Ich komm mal hoch, ja?“ Koffergerumpel.

„Krankstellen, Lügen… Mitsuru, ich-“
„Ob sie lebt oder stirbt, liegt bei uns. Und auch wenn wir es ohne dich schaffen würden – meinst du, du könntest Kiyomi je wieder unter die Augen treten?“

Die Schritte seiner Mutter kamen näher. Sie stieg die Treppe nach oben.

„Mitsuru…!“

„Ein Satz, Arun Kataoka: Es geht um Kiyomis Leben!“

Arun überlegte kurz, dann versteckte er das Handy blitzschnell hinter seinem Rücken und gleich darauf kam seine Mutter ins Zimmer. „Mam? Mir geht‘s nicht so gut…“, stöhnte er.

„Was hast du denn?“

„Bauchschmerzen und Kopfweh. Der Hals kratzt auch…“

„Hoffentlich kein Fieber…!“

„Nein, nein, passt schon.“

„Sollten wir vielleicht doch lieber hierbleiben…? Ich meine, nur zur Sicher-“

„Nein, fahrt! Das ist eine wichtige Konferenz, die dürft ihr nicht absagen… Das wäre nicht gut für euren Job. Ich komm schon klar. Fahrt los, ich leg mich einfach hin und schlaf es aus.“

Mitsuru, der ja alles mithörte, gestand still, dass Arun erstaunlich überzeugend lügen konnte. So viel Gefühl und Realität in der Stimme… Wie konnte es sein, dass er das noch nie zuvor getan hatte? Arun war ein Naturtalent! Arun sah seine Mutter hin und her überlegen. Schließlich seufzte sie. „Also gut. Aber pass auf dich auf. Ich verlass mich darauf, dass du mir keinen Unsinn anstellst und dich gut auskurierst.“ Wenn die wüsste…!, dachte Arun. Er nickte steif. „Alles klar. Tschüss, Mama und Papa… Ich werd mich dann mal ausruhen.“ Er ließ sich auf sein Bett fallen, das Smartphone im Ärmel versteckt. Seine Mutter schloss leise die Zimmertür. Kaum hörte Arun die Haustür ins Schloss fallen, saß er aufrecht da. „Und? War ich wenigstens gut?“, fragte er Mitsuru. „Spitzenmäßig! Warte, bis das Auto weg ist und mach dann einen Abflug – zackig!“ „Ich soll fliegen?“ „Hölle, nein! Was, wenn dich jemand sieht?! Flüge hat Tomoko deutlich verboten. Du wirst schön brav zu Fuß gehen, Kamerad. Denk dran: Du nimmst den Feldweg hinter der Stadt. So laufen du und Vanessa beinahe parallel zueinander, nur seht ihr euch nicht und seid ein Stück auseinander. Dann, vorne bei den Eisenbahngleisen, ist eine Umleitung, weil die Gleise gesperrt sind. Du gehst hinter der Absperrung über den verbotenen Teil der Schienen, dort wird dich auch Yuii nicht sehen, wenn du es richtig anstellst. Das dichte Feld danach führt in den Wald. Immer dem Pfad folgen, dann kommst du an die Lichtung. Klar? Melde dich, wenn du an der Absperrung bist oder wenn du Vanessa siehst – aber sprich sie nicht an, sonst landet ihr beide bei Yuii und das ist nicht zweckmäßig.“ „Verstanden.“ „Dann geh jetzt los. Wenn du Fragen hast oder etwas schiefläuft, musst du dich sofort bei mir melden!“ Mit diesen Worten, die er mit Nachdruck in Aruns Kopf presste, legte Mitsuru auf. Arun steckte das Smartphone ein, warf sich eine Jacke über und machte sich auf den Weg. Da er am Rand zu Vanessas Route wohnte, aber hintenherum gehen sollte, hatte Arun keine Wahl außer den Garten zu nehmen, der das Haus der Kataokas umgab. Hinten hatte der Zaun ein Tor, das diente sozusagen als Hinterausgang für Notfälle, wenn man es so wollte. Der war aber schon seit Jahren nicht mehr angerührt worden und so hatte Arun ordentliche Bedenken gehabt, als Tomoko ihm gesagt hatte, er solle diesen Weg nehmen. Wie erwartet, ließ sich das Tor nicht öffnen. Tomoko hatte Recht gehabt. Vermutlich hatten Aruns Eltern es irgendwann mal abgeschlossen und einen Schlüssel besaß Arun nicht. Aber das hatte Tomoko alles kommen sehen. Der Zaun bestand nämlich aus horizontal befestigten Holzlatten. Und genau darum hatte Aruns Aufgabe von Anfang an nicht darin bestanden, einen Schlüssel aufzutreiben, den er vermutlich nie rechtzeitig finden würde. Sondern darin, über das Tor zu klettern.

Am Stadtrand in einem ziemlich großen Haus wohnte die Familie Takagi, bei der die Eltern aber gerade außer Haus waren. Und zurückgeblieben, um das Haus zu hüten, war der Sohn. Mitsuru Takagi, der einen entnervten Seufzer ausstieß. Seit zwei Tagen hatte er kaum geschlafen und wenn er tagsüber müde gewesen war, hatte er es sich verkniffen. So im Nachhinein war das vielleicht nicht die schlaueste Entscheidung von allen gewesen. Denn umso mehr stresste ihn seine Aufgabe im Plan. Er ließ den Blick über den Tisch vor sich wandern. Dort lagen drei Smartphones herum und ein aufgeklappter Laptop, der eine Karte anzeigte sowie ein Tablet mit einer weiteren geöffneten Karte. Mitsuru dachte an die letzten 48 Stunden zurück. So viel Zeit hatte er nämlich gehabt, um seine zwei alten Handys zu finden und wieder funktionstüchtig zu machen. Der eigentliche Haken war nicht gewesen, wie viel Zeit es gebraucht hatte, um die Daten zu überspielen, sondern eher, seinen Vater zu überreden, nochmal eben auf die Schnelle einen Vertrag abzuschließen. An diese Turbulenzen wollte er gar nicht mehr denken, so viel Diskussion, Hin und Her, Lügen und frei erdachte Argumente auf einmal hatte er schon lange nicht mehr aufbringen müssen. Weil du mir am geeignetsten erschienen bist, hatte Tomoko gesagt. Logisch. Mitsuru schaffte es nur schwer, das ernst zu nehmen. Aber er hätte es schon wissen müssen, als Tomoko ihm aufgetragen hatte, seine Handys wieder auf den Damm zu bringen, da er immer die alten Speicher- und SIM-Karten aufgehoben hatte. Das hatte ja nur heißen können, dass er voll ausgelastet sein würde, so ausgelastet, dass ein Handy nicht mehr genügte. Auch egal. Jammern brachte nichts. Tomoko war mit Kiyomi unterwegs, Vanessa und Arun ebenfalls. Dann hatte er jetzt nichts zu tun, außer sich bereit zu halten. Denn er wohnte recht nah am Wald und würde darum als Letzter dazustoßen. Bis dahin war seine Aufgabe, den Plan zu koordinieren. Er musste schon zugeben, Tomoko hatte es schlau angestellt. Denn zufällig waren seine Eltern ausgerechnet die Vorgesetzten von Aruns Eltern. Damit schlugen sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Mitsuru hatte zufällig beim Mittagessen eine „geeignete Alternative“ erwähnt, nachdem die Meldung über den Wasserrohrbruch eingetrudelt war, der ihnen ja förmlich in die Hände gespielt hatte. Seine Eltern hatten die Idee klasse gefunden und sofort ein Schreiben verschickt, das die Änderung des Treffpunkts bekanntgab. Alles war genau nach Plan verlaufen. Auch wenn es vor der Abreise noch einmal Krach wegen der Handys gegeben hatte. Aber das war nebensächlich. Tomoko hatte sogar eine Anweisung speziell an ihn gerichtet, für den Fall, dass Yuii nicht an einem Brennpunkt warten würde, sondern Mitsuru auflauern würde, was ein echtes Problem wäre, weil er erst so spät loswollte. In diesem Notfall sollte er ihr aus dem Weg gehen, wenn er sie sah. Wenn sie ihn überraschte, sollte er Vanessa ihren Part abnehmen. Das war die Notlösung für den Fall der Fälle. Mitsurus Wunsch, den Schlafmangel auszugleichen, wurde mit jeder Minute, die sich nichts tat, stärker. Aber er riss sich zusammen, gewillt, Tomokos Anweisungen bis zum Ende Folge zu leisten. Für sie, für Kiyomi und für ihn selbst.

Arun lief hinter den Häusern der Hauptstraße entlang, über die Felder. Es war witzig. Nur zehn Meter weiter, hinter den großen grauen Hindernissen, befand sich eine hell beleuchtete Straße voller Läden. Und hier war eine Art Nirgendwo. Grüne Felder, an manchen Stellen und besonders am Rand mit gelben Halmen bewachsen, so groß wie er selbst. Arun rief Vanessa an und fragte sicherheitshalber, wo sie sich befand. „Genau auf der anderen Seite. Wir sind gleichauf.“ „Dann drossel ich mein Tempo“, sagte Arun, „Mitsuru hat gemeint, du sollst Yuii zuerst auffallen. Dann soll ich hintenrum. Wenn sie uns beide erwischt, ist das eine Komplikation und muss irgendwie vermittelt werden.“ „Hoffen wir doch, dass es nicht so weit kommt. Du musst es lediglich an ihr vorbei schaffen. Dahinter ist schon die Absperrung und die Gleisen liegen bereits in kompletter Dunkelheit. Alles läuft so, wie Tomoko es erwartet hat – bis jetzt. Wenn Yuii doch nicht an diesem Brennpunkt ist, sondern woanders, ist auch kein Problem. Na ja, schon irgendwie. Aber nichts Schlimmes.“

Inzwischen 23:00. Zeit für Mitsuru, aktiv zu werden. Er wohnte zwar nahe am Wald, aber er hatte ja trotzdem einen Weg bis dahin. Und wer wusste, ob man Arun und dem Rest die Kontrolle überlassen konnte? Und er sollte ja auch bei der Mathematik helfen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Yuii in letzter Sekunde ihre Taktik geändert hatte, sollte Mitsuru es Tomokos Anweisungen nach so aussehen lassen, als würde sich nichts ändern, wenn er das Haus verließ. Darum hatte er auch die ganze Zeit im Dunkeln an den Bildschirmen gesessen und sich die Augen ruiniert. Ab jetzt, ab abgesprochen 23:00, konnte man ihn nur noch über ein einziges Handy erreichen – sein jetziges. Mitsuru stellte sicher, dass er im dunkelsten aller Winkel sein würde, bevor er die Schiebetür zum Garten öffnete und um die Ecke spähte. Auf der Straße wurde ihm endgültig klar, dass alles nach dem ursprünglichen Plan lief. Sonst hätte Yuii ihn entweder schon angesprochen oder er hätte dieses blöde Kribbeln im Rücken, das er immer bekam, wenn ihn jemand verfolgte. Dann hieß es jetzt nur noch: Straße runter, bei der Biegung einfach weiter aufs Feld und von der äußeren Seite des Waldes direkt bis zur Lichtung. Es gab einen Trampelpfad, hatte Arun während der Vorbereitung herausgefunden, weil seine Aufgabe gewesen war, den Wald auszukundschaften.

Vanessa dachte sich wirklich, dass Tomokos Plan auf ein Risiko baute. Aber das war nur ihr Gefühl. Ihr Kopf wusste es besser. Tomoko überließ niemals etwas dem Risiko. Und wenn Tomokos Plan aufging, müsste gleich an dieser Ecke… „Hey!“ Vanessa zuckte überrascht zusammen.

„Yuii!“ Also war doch alles nach Plan gelaufen. „Was machst du denn hier?“, fragte sie bissig. „Hast du auf mich gewartet oder was?“

Natürlich hatte Yuii das. Aber so wie Vanessa sich dummstellte, log sie nun wie gedruckt. „Blödsinn! Meine Eltern sind heute bei Freunden zum Trinken eingeladen, und weil mir langweilig war und ich nicht mitdurfte, habe ich eine Bekannte von meinen Eltern und mir besucht, die arbeitet in einem der Läden hier. Dann bin ich raus und da habe ich dich gesehen und dachte mir, ich gehe mal Hallo sagen.“

Von dieser Aussage stimmte garantiert nichts. Das wusste Vanessa, auch wenn sie nicht wusste, ob sie es ohne die Umstände und den Plan vielleicht nicht doch geglaubt hätte, denn Yuii trug ihren Teil überzeugend vor. Offenbar war sie nicht unvorbereitet in den Endkampf gegangen. Vanessa machte ein verwirrtes Gesicht.

„Ist alles gut mit dir? Du verhältst dich gerade sehr untypisch. Du bist so… nett und gut gelaunt. Das passt nicht zu dir. Normalerweise zickst du ständig herum und spionierst mir und meinen Freunden hinterher. Bist du vielleicht auf Zucker oder so?“ Im Hintergrund schlich Arun die Wiese entlang und über die Gleisen. Dann war er nicht mehr zu sehen. „Blödsinn. Ich habe heute einfach ausnahmsweise mal gute Laune. Und solange Tomoko nicht hier ist, ist alles nur halb so schlimm, daher kann ich es, denke ich, verkraften, mal für einen Abend nett zu dir zu sein“, zwitscherte Yuii. Sie schien vor Energie überzusprudeln. Mit leuchtenden Augen pikste sie ihren Finger hoch in die Luft und deutete auf den Himmel. „Schau mal! Der sieht heute so schön aus. Eine klare Nacht hatten wir schon ewig nicht mehr! Ich liebe den Himmel seit ich klein war! Vor allem nachts. Und du?“

Okay. Jetzt hatte Yuii endgültig einen Oscar verdient für diese leuchtenden Augen und diesen begeisterten Tonfall. Trotzdem spielte Vanessa mit. Sie erinnerte sich an Tomokos Worte. Das war eine Falle. In ihrem Kopf schaltete sie den traurigsten Film ein, der ihr einfiel und paarte ihn mit der Erinnerung an den Tod ihres Hundes vor fünf Jahren. Aber äußerlich stellte sie einen friedlichen, erfüllten Ausdruck zur Schau. „Ich bin mehr ein Tagmensch. Wenn sich tagsüber der Himmel erstreckt und die Wolken hoch oben hängen, wenn ich dieses endlose Blau sehe und denke, dass es so weit oben und trotzdem so groß ist und nie zu Ende geht… Dann fühle ich mich immer total frei, es ist das schönste Gefühl auf der ganzen Welt.“ „Klasse! Dachte ich mir schon, dass du mehr so ein Tagmensch bist. Was ist deine beste Erinnerung mit dem Himmel?“ „Das eine Mal, als wir zu Verwandten nach Schweden geflogen sind. Es sah so wunderschön aus, Yuii, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Man konnte ganz viele weiche Wolken direkt unterm Flugzeug sehen und obendrüber war alles so herrlich klar und blau und ich habe mich wie ein echter Vogel gefühlt, völlig frei!“ Etwas an Yuii veränderte sich. Sie wirkte nicht mehr so eifrig, ihre Fassade aufrecht zu erhalten. Stattdessen sah sie auf ihr Smartphone auf die Uhrzeit, bevor sie wahllos auf eine Gasse deutete. „Verstehe. Das klingt total aufregend! Aber ich muss dann los. Ich weiß nämlich nicht, ob meine Eltern bei ihrer Freundin übernachten oder ob sie von irgendwem heimgefahren werden, der nüchtern bleibt, um das Haus in einem Stück zu wahren. Und ein Risiko will ich nicht eingehen. Also dann, man sieht sich!“ Mit einem Strahlen und einem Winken verabschiedete Yuii sich und flitzte in die Gasse davon, wo zuerst ihr schwarzes, kinnlanges Haar und dann ihr schwarzer Pulli von der Dunkelheit verschluckt wurden. Vanessa sah ihr kurz hinterher. Das war erstaunlich einfach gewesen. Dank Tomokos ‚Skript‘ und ihrem genauen Plan. Und dank Mitsuru, als er sie am Kneifen gehindert hatte. Aber im Ernst – dass Yuii sie so leicht vom Haken lassen würde, hätte Vanessa nicht gedacht. Sie hatte nicht mal gefragt, was in dem Rucksack gewesen war. Trotzdem war sie erleichtert. Sie hatte es nicht vermasselt. Sie hatte es nicht vermasselt. Vanessa stieg nun ebenfalls über die Bahngleisen und folgte dem Pfad, den Arun sich zuvor durchs hohe Gras zum Wald gepflügt hatte. Tomokos Skript war im Prinzip eine Prophezeiung dessen gewesen, was sich zwischen ihr und Yuii abspielen würde und letztlich auch genau so abgespielt hatte. Tomoko hatte damit gerechnet, dass Yuii versuchen würde, ein Gespräch anzufangen. ‚Wahrscheinlich hat sie herausgefunden, dass die Fähigkeit, die Flügel zu entfalten, mit schönen Gefühlen verbunden ist. Oder sie hat‘s auf dieser Seite gelesen. So oder so, sie wird wahrscheinlich versuchen, diese Reaktion bei dir zu erzielen. Wir alle wissen, du bist nur ein mittelmäßiger Lügner, darum machen wir es wie folgt: Egal, was sie dich fragt: Sag ihr einfach die Wahrheit. Aber lass die Wahrheit nicht in deine Gefühle dringen, sonst versaust du den ganzen Plan‘, hatte Tomoko gesagt. Für Vanessa hatte sich das zunächst simpel angefühlt, dann wie eine zu große Aufgabe. Und jetzt hatte sie es hinter sich und hatte sie erfüllt.

Arun stapfte den Trampelpfad entlang. Vanessa leistete da vorne echt gute Arbeit, er war problemlos über die Gleisen gekommen, ohne dass Yuii ihn aufgehalten oder bemerkt hatte. Das Feld war zwar hoch gewachsen und entsprechend viel Getier hockte zwischen den Halmen, aber dieses Mal hatte Arun endlich mal ‚Augen zu und durch!‘ angewandt. Schließlich ging es um Kiyomi. Und zu seinem Glück hatte er einen guten Orientierungssinn, der auch bei Nacht einwandfrei funktionierte. Wenn er sich nicht irrte, dann musste er die Lichtung bald erreichen, wenn er immer geradeaus ging. Vanessa hatte sich auch großartig angestellt, das musste er ihr später mal sagen. Nach Tomokos Zeitplan würden zuerst sie und Kiyomi um 20:50 ankommen und auf den Rest warten. Dann kämen Arun um 22:53, Vanessa um rund 23:00 und dann Mitsuru um etwa 23:30 die Lichtung erreichen. Die Zeit fiel nicht allzu knapp aus, aber wenn etwas schiefgehen sollte, dann wären sie wahrscheinlich aufgeschmissen. Andererseits: Wann hatte Tomoko je einen Fehler bei einem Plan gemacht? Wenn es nötig werden würde, würde sie jede Vorsicht über Bord werfen um Kiyomi rechtzeitig an der Lichtung zu haben, da war Arun sich sicher.

Vanessa sah in dem kurzen Sichtfeld, das sie im Dunkeln besaß, die Spur, die Arun durch das Feld gezogen hatte. Weil er nur einmal dort entlanggegangen war, sah man nicht sofort den Ansatz eines neuen Trampelpfads, aber beim genaueren Hinsehen war gut zu erkennen, dass Arun sich mitten durchs Feld gepflügt hatte. Vanessa war nicht scharf darauf, ins Netz einer Spinne oder ähnliches zu laufen, also folgte sie einfach der Schneise, die Arun bereits gezogen hatte. Auf die Art war auch Verlaufen fast völlig ausgeschlossen.

Um halb Mitternacht waren Mitsuru und Arun beschäftigt damit, den Zirkel in den Boden zu ziehen: Arun hielt einen Stock mit Schnur fest, Mitsuru zog mit einem zweiten mit der Schnur verbundenen Stock einen Kreis in den Boden. Neben Arun lag ein Maßstab und neben Mitsuru ein Maßband. Vanessa dagegen hockte auf einem Felsen und starrte die beiden vorwurfsvoll an. „Warum darf ich nicht auch mithelfen?“, maulte sie. „Weil du sonst die ganze Konstruktion ruinierst“, antwortete Mitsuru frech. „Ts! Warum müssen wir überhaupt Linien in den Boden ziehen?! Reicht es nicht, einfach einen Kreis zu ziehen?“ „Nein. Er muss mathematisch genau sein!“, mischte sich Tomoko streng ein und erhob sich aus ihrer Sitzposition neben Kiyomi, die vor sich hin döste. Dann schob sie ihre Brille zurecht und trat an den Kreis, um die Arbeit von Mitsuru und Arun von Nahem zu beurteilen. „Sicher, dass das drei Meter Durchmesser sind? Messt lieber noch mal nach!“ „Echt? Ich könnte schwören, wir hätten es genau abgemessen…“, murmelte Arun und klappte eilig den Maßstab aus. Die Zeit lief. Die ersten zwei Meter markierte er und schob den Maßstab dann noch einen nach oben. Das machte er noch zwei Mal an anderen Stellen des Kreises. „Gut, ein bisschen verschätzt. Mitsuru, nochmal.“ Nach der nächsten Runde das gleiche Spiel. „Genau drei Meter.“ „Mitsuru! Maßband! Dann sollte der Umfang 9,42477796077 Meter lang sein.“ Sie hielt kurz inne, als sie realisierte, dass sich diese Zahl nicht mit dem Auge ablesen ließ. „Also rund 9,40 Meter“, endete sie dann. Mitsuru hatte in seinem Keller tatsächlich ein zehn Meter langes Maßband gefunden, das ihnen jetzt sehr zugute kam. Tomoko sah auf ihre Uhr. „Wir liegen gut in der Zeit. Vanessa! Die Kamillen! Arun: Winkel messen.“ Eigens für die Messung der Winkel hatten sie sich eines der großen Geodreiecke für die Schultafeln geliehen. Frau Rose hatte es ihnen bis morgen ausgeliehen. Mitsuru hatte erzählt, er wolle Vanessa Geometrie anhand von Kreidezeichnungen im Hof erklären. Vanessa hätte nie gedacht, dass sie für ein Heilungsritual Mathe brauchen würden, zumal Mitsurus Ausrede ganz schön auf ihre Kosten gegangen war! Und doch waren sie hier: Arun maß den Kreis in exakte Viertel ab und sie legte an jedes Ende der Linien eine Kamille. „23:55! Tempo! Beeilung!“, kommandierte Tomoko. „Kiyomi! In den Kreis, genau in die Mitte! Vanessa, Arun, Mitsuru – geht endlich auf eure Positionen!“ Kiyomi hievte sich auf die Beine und trottete in den Mittelpunkt des Kreises. Jeder von ihnen vier übrigen stellte sich hinter eine der Kamillen. Tomoko betrachtete das Werk. An sich war das Ritual sehr simpel. Ein Kreis mit genau drei Metern Durchmesser musste auf dem Boden gezogen werden. Dann musste bis Mitternacht abgewartet werden und alle beteiligten nicht kranken Himmelsstürmer stellten sich in gleichmäßigen Abständen um den Kreis herum auf. Kamillen waren nötig, damit alles funktionierte. Die übrigen Himmelsstürmer gaben angeblich ihre Kraft dazu, aber das war wahrscheinliche ein Schwachsinn, den die Webseite sich ausgedacht hatte. Und dann brauchte es nur noch einen klaren Himmel, damit der Mond seine Arbeit tun konnte. Dunkelheit sollte Dunkelheit heilen. Wobei… Eigentlich war der Mond doch das Licht in der Dunkelheit, oder?

Tomoko sah auf ihre Uhr. „Noch eine Minute… Und… Mitternacht!“ Vanessa wusste nicht, was sie erwartet hatte. Niemand wusste, was er erwartet hatte. Aber dass es doppelt so simpel ablaufen würde wie es vorzubereiten war, nicht. Wobei, es sah schon faszinierend aus, wie sich ganz ohne Kiyomis Zutun ihre Flügel ausbreiteten. Denn ganz klar wäre sie nicht mehr in der Lage gewesen, sie zu entfalten. Sie alle traf der Schock. Die Federn waren alle pechschwarz und glänzten in dem blassen Licht. Kiyomis Haar wirkte fast durchsichtig dagegen. Und erst jetzt fielen Mitsuru, Arun und Vanessa die schwarzen Partikel auf, die wie ein dünner Nebel von Kiyomi aufstiegen. Und die Augen ihrer Freundin wirkten toter denn je. So sah Kiyomi fast wie ein Geist oder ein Racheengel aus. Für eine Weile blieb alles so, aber dann verschwand der Waber, der von Kiyomi aufstieg. Und dann, an den Spitzen ihrer Flügel, begannen sich einzelne Fasern der Federn grau und dann in einem zweiten Durchgang weiß zu färben. Das zog sich über die ganzen Flügel und dauerte eine Weile, aber es sah einfach nur faszinierend aus. Vanessa sah plötzlich, wie die Kamillen sich auflösten. Das hieß wohl, dass ihre Kraft nötig war. Und dann, acht Minuten nach Mitternacht, stand Kiyomi da in dem Kreis. Mit schneeweißen Flügeln. Nur rechts war eine einzige schwarze Feder übrig. Sie sah die Runde eine Weile an, dann sagte sie in ihrer üblichen monotonen Stimme: „Ich habe es nie ausdrücklich gesagt, aber ich bin froh, dass es vorbei ist. Es hat nämlich wehgetan.“ Stille. „Und jetzt tut nichts mehr weh?“, hakte Tomoko vorsichtig nach. „Nein. Nichts.“ Stille. Dann reagierte Vanessa mit einem freudigen Hüpfer. „Wir haben es geschafft!“, tollte sie. „Nicht so laut. Sonst findet uns doch noch einer“, schnaubte Tomoko, aber irgendetwas in ihrer Stimme fehlte die Schärfe. „Sei ein Mal kein Spielverderber, Tomoko! Ein Mal! Wenn ich nachdenke, hab ich dich noch nie hüpfen oder dich vor Lachen kugeln sehen. Würde ich aber gern mal!“, schmollte Vanessa. Tomoko hob vor Schreck die Augenbrauen. „Und mir gefällt es so auch lieber! Aber von mir aus – spring durch die Gegend, kletter auf alle Bäume, schrei bis du heiser wirst – alles nicht mein Problem! Und weißt du, warum? Weil hier niemand irgendwas hört. Nur wir vier anderen.“ „Also halt‘s leise“, mahnte Arun grummelig. „Ach was!“, schrie Vanessa extra laut. Mitsuru stellte sich summend neben Tomoko. Wann hatten sie Kiyomi eigentlich kennengelernt und als ihre Freundin anerkannt? Es war irgendwann am Anfang der fünften Klasse gewesen. Tomoko war Kiyomis Banknachbarin und war – untypisch für ihre Verhältnisse – auf sie zugegangen und hatte gefragt, was Kiyomis bestes Fach war. Kiyomi hatte daraufhin nur leise gefragt: „Kannst du es auch? Fliegen?“ Und dann waren sie in der Mittagspause einfach zusammen hinters Schulgebäude gegangen. Und von diesem Punkt aus hatte alles einfach seinen Lauf genommen. Und Tomoko? Sie hatte ihre größte Leistung überhaupt bisher vollbracht. Sie hatte den Kampf gegen Yuii für sich entschieden. Kiyomis Leben war sicher und obwohl man es nicht sagen konnte, hatte Mitsuru das Gefühl, dass sie glücklich war. Oder zumindest weniger litt. Sie hatte nie zuvor bei einem Fangspiel mitgemacht. Und er? Das Fangspiel zwischen Vanessa, Kiyomi und Arun sah lustig aus. Sie jagten sich ausgelassen im Tiefflug über die Wiese. Sobald er noch eine letzte Sache losgeworden war, würde er auch mitmachen. Aber vorher hatte er noch eine Frage an Tomoko. Mitsuru summte eine Weile weiter, irgendeine wahllose Melodie, beobachtete Tomoko aus dem Augenwinkel, und dann sagte er, nur ganz leicht fordernd: „Sei ehrlich: Du freust dich auch.“ Tomoko stellte sicher, dass Vanessa damit beschäftigt war, Arun und Kiyomi über die Wiese zu jagen und nicht aufpasste, dann ließ sie ein breites Grinsen zu und sah hinauf zum Mond. „Natürlich.“ Kurze Pause und sie erwiderte den Seitenblick. „Wie sieht‘s aus? Fangen mit den anderen?“

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