Das Pferd des Grafen

Das Pferd des Grafen

Eine magische Geschichte über Freiheit und Selbstbestimmung.

Der wunderschöne Schimmel Kranich führt ein verwöhntes, aber langweiliges Leben am Hof des Grafen – bis zur Nacht vor seinem dritten Geburtstag. In dieser Nacht lernt Kranich den Stalljungen Johan kennen, der die Sprache der Tiere versteht und spricht. Doch noch mehr Wundersames geschieht: Ein Feenwesen flattert in Kranichs Stall und bietet ihm ein Geschenk an, das sein Leben für immer verändern würde. Wie wird sich Kranich entscheiden?

Es lebte einst, vor langer Zeit, in einem Land hoch im Norden ein Graf, der züchtete die schönsten Pferde weit und breit. Eines Tages gebar eine der Stuten in seinen herrschaftlichen Ställen ein Apfelschimmel-Fohlen, dessen Fell so schimmerte, dass es schnell zum Liebling des Grafen wurde. Es war ein Hengstfohlen, und der Graf ließ es Kranich taufen, weil es die Hufe, wenn es über die Weide lief, so hochhob, dass sein Gang dem eines Kranichs glich.

Das Fohlen wuchs heran und war schon bald berühmt für seine Schönheit. Seine Mähne war dichter und länger als die jedes anderen Pferdes, und Kranichs Schweif maß bald mehrere Meter und musste jeden Tag von den Dienern gebürstet und geflochten werden. Tagaus, tagein wurde der junge Hengst mit Komplimenten überschüttet: Man verglich das Weiß seines Fells mit frisch gefallenem Schnee, mit Alabaster oder den Wolken an einem blauen Sommerhimmel. Die Dichter des Grafen beschrieben Kranichs Mähne als einen Wasserfall aus seidiger Gischt, der ihm über den perfekt geformten Hals floss, und die Lieder, die die Musiker des Grafen über Kranichs Schweif schrieben, sang man in jedem Dorf. Inzwischen war er so lang, dass drei Knechte ihn tragen mussten, wenn der Hengst in das Schloss geführt wurde, um wieder mal einem Maler Porträt zu stehen. Sein Herr, der Graf, ließ sich auch mit Vorliebe auf seinem Rücken malen.

Ja, das war Kranichs Leben. Er kannte kein anderes als dieses: Er hatte einen eigenen Stall, in dem es nur seine Box gab. Die Balken und Türen waren über und über mit Goldornamenten geschmückt, und durch das Fenster seiner Box blickte er auf den Palast. Er fraß morgens und abends nur das frischeste Heu und bekam fünfmal am Tag Karotten und eine Handvoll Gerste. Zwei eigens zu seinen Diensten abgestellte Diener führten ihn dreimal am Tag an goldenen Zügeln über den Hof, damit er im Schlosspark spazieren gehen konnte. Und dann waren da natürlich all die Stunden, in denen sein Fell gestriegelt und seine Mähne und sein Schweif gebürstet wurden.

»Was für ein gutes Leben ich habe!«, dachte Kranich oft, auch wenn er sich bisweilen fragte, wie es sich wohl anfühlte, mit den anderen Pferden auf der Weide zu tollen und nicht ständig über die eigene Mähne zu stolpern. Auch wenn er wirklich stolz auf seine Mähne war. Und auf seinen seidigen Schweif.

Als Kranichs dritter Geburtstag nahte, schmückten die Diener seinen Stall mit weißen Rosen, und auf dem Gang davor wurde ein Tisch aufgestellt, den die Köche des Grafen mit all den Gemüsen füllten, die er besonders gern fraß: Die Karotten waren wie Blumensträuße angerichtet, und die Äpfel waren mit Zuckerguss verziert. In der Mitte aber stand unter einer kristallenen Haube eine Torte in Pferdeform, die der beste Bäcker der Stadt auf Befehl des Grafen eigens für Kranich gebacken hatte. Der Graf selbst würde sie am Morgen anschneiden und Kranich ein Stück servieren. So hatte der Hengst es den Dienern abgelauscht, die keine Ahnung hatten, dass er und die anderen Pferde ihre Sprache natürlich verstanden.

Die Nacht kam. Die Knechte gingen nach Hause, und es wurde still in dem großen Stall, den der Graf eigens für Kranich hatte bauen lassen. Der Hengst hob den Kopf über das Tor seiner Box und sog die Witterung ein, die von dem Tisch zu ihm herüberzog. Um ihn herum standen üppig verpackte Geschenke. Kranich vermutete, dass sich neue Zügel hinter all dem bunten Papier verbargen und mehr von dem Schmuck, den die Diener jedes Mal an seinem Geschirr und seinem Sattel befestigten, wenn der Graf sich auf ihm malen ließ. Das dauerte oft Stunden. Kranich seufzte. Gut. Der Teil seines Lebens konnte anstrengend sein. Er spitzte die Ohren. Leise Schritte kamen den Gang herunter, der vom Stalltor auf seine Box zuführte. Kranich wich zurück. Ein Junge stand neben seinem Geburtstagstisch.

Diese Geschichte habe ich fuer die KIBUM in Oldenburg geschrieben und Sara-Christin Richter hat wieder unglaublich schöne Illustrationen geschaffen. Die Inspiration für die Geschichte war ein echtes Pferd, das wirklich einem Fürsten gehörte und für seine lange Mähne und seinen ellenlangen Schweif berühmt war. Ihr könnt Gemälde von Kranich online finden. 'Muss das für ein Pferd nicht schrecklich lästig sein?' hab ich gedacht, als ich die Bilder sah — und schon kam die Geschichte.