Kleiner Werwolf
Seit ihn der Hund mit den gelben Augen in jener Nacht gebissen hatte, fühlt Motte sich komisch. Und dann sieht er eines Abends sein Spiegelbild. Freundin Lina ist sich sicher: Das war kein Hund, der da nach seiner Hand geschnappt hat.
Manchmal macht es Spaß, ein Werwolf zu sein! Auf dem Heimweg vom Kino wird Motte, ein zehnjähriger Junge, von einem seltsamen Hund gebissen. Nur ein bisschen, es tut fast nicht weh. Der Hund war ein Werwolf, aber das merkt Motte erst, als er sich selbst in einen verwandelt: Seine Fingernägel werden zu Krallen und ihm wächst ein Fell! Manchmal macht Motte das Werwolf-Sein sogar Spaß - wenn die großen Jungs endlich Angst vor ihm haben oder er nachts den Mond anheult. Aber trotzdem ist er heilfroh, als er gemeinsam mit seiner Freundin Lina einen Weg findet, wieder ein ganz normaler Junge zu werden.
- Erstmals erschienen 2002
- Lesealter Ab 8 Jahren
- Illustriert von Cornelia Funke
- Verlag Dressler
- Erhältlich bei genialokal.de
- Auch erschienen als Hörbuch · eBook · Taschenbuch
Mottes Eltern und sein großer Bruder saßen schon beim Abendessen. "Na, wie war der Film?", fragte Paul. "Spitze." Motte verbarg seine Hand unterm Tisch, aber mit einer Hand kann man sich kein Brot schmieren. "Was hast du denn mit deiner Hand gemacht?", fragte Mama. "Och, nur ein Kratzer", sagte Motte. "Lass mal sehen!" Mama griff über den Tisch, aber Motte ließ die Hand schnell wieder verschwinden. Wenn Seine Mutter sah, dass das ein Biss war, würde sie ihn sofort zum Arzt schleppen. Und Ärzte möchte Motte noch weniger als Hunde. Ärzte wurden nur noch von Biolehrern übertroffen, aber das ist eine andere Geschichte.
"Wir schreiben morgen Mathe", sagte er schnell. Das war eine Notlüge, lenkte seine Eltern aber garantiert ab. "Oje!", sagte Mama. "Hast du auch genug geübt?", fragte Papa. "Am besten setzt du dich heute Abend noch mal eine Stunde mit deinem Bruder zusammen." Paul war in Mathe ein ASS: Selbstzufrieden thronte er Motte gegenüber, knapp zwei Jahre älter, einen Kopf größer und durch kein Schulfach der Welt zu verunsichern. "Wie sieht's aus kleiner Bruder?", fragte er. "Mal wieder etwas Nachhilfe gefällig?" "Nee, ist nur ein kleiner Test", antwortete Motte und stopfte sich zwei Scheiben Wurst in den Mund. "Das kann ich auch alleine." Er schnupperte. "Igitt, ihr habt wieder diesen Stinkkäse gekauft, was? Ist ja nicht auszuhalten." "Wieso?" Überrascht sah seine Mutter ihn an. "Den hab ich doch extra im Kühlschrank gelassen. Da kannst du ihn ja wohl schlecht riechen, oder?" "Im Kühlschrank?", murmelte Motte. Er roch den Käse ganz deutlich. Komisch. "Wenn hier etwas stinkt, mein Lieber", sagte Paul, "dann bist du das. Du stinkst aus dem Mund wie Klopoteks Boxer. Was hast du gemacht? Eine Dose Hundefutter gegessen?" Bei dem Wort "Hund" verschluckte Motte sich und bekam einen Hustenanfall. "Mein Gott, wirklich." Seine Mutter rümpfte die Nase. "Paul hat recht. Du hast einen fürchterlichen Mundgeruch. Putz dir bitte die Zähne, ja?" "Bin ja schon weg."
Motte stand auf. Seine Haut juckte wie verrückt. Vor den Augen sah er gelbe Blitze. Er fühlte sich komisch. Sehr komisch. Fing Tollwut so an? Er stolperte ins dunkle Badezimmer. Sonst suchte er immer stundenlang im Dunkeln nach dem Lichtschalter, aber jetzt konnte er ihn deutlich erkennen. Merkwürdig. Er schloss die Tür hinter sich ohne das Licht einzuschalten. Ja wirklich, alles war ganz deutlich zu sehen. Sogar die Schrift auf dem Pickelwasser seines Bruders konnte er lesen. Die Dunkelheit war nur ein feiner grauer Schleier. "Komisch", murmelte Motte. Er rieb sich das juckende Gesicht. Seine Backen fühlten sich an wie der Dreitagebart seines Vaters. Dann guckte er in den Spiegel — und machte vor Schreck einen Schritt zurück, sodass er fast in die Badewanne kippte. Gelbe Augen. Gelbe Augen hatten ihn angestarrt. Aus einem grässlichen, haarigen Monstergesicht.