Interview mit Barry Cunningham

"Ich spiele die Rolle der Kinder": Barry Cunningham, Cornelias britischer Verleger erzählt von seinen Lieblingsbüchern, seiner Eisbärin, einer geheimen Leidenschaft und seiner Arbeit als Verleger. (Das Interview führten wir im Sommer 2016)

Es sieht aus, als wären nebenan ein Museum, ein Trödelladen, ein Antiquariat und ein Geschäft für alte Schallplatten explodiert. Bumm. Alles fliegt in hohem Bogen durch die Luft und landet gut gemischt: in diesem Zimmer. Die Sachen stehen nicht einfach herum. Sie umzingeln einen. Keine freie Ecke, kein leeres Plätzchen, immer Jucken in den Fingern: dies mal anfassen, jenes mal umdrehen, ganz nah dran, zum gucken, fast mit der Nase dran stoßen. Kleben bleiben, versinken — eine Kunststoff-Elfe, vergilbte Seiten von alten Büchern in geflochtenen Körben, ein kleines Bild mit Totenschädel und ein Schreibtisch, der aussieht als sei er aus den Planken eines Piratenschiffs gezimmert. Natursteinwände und ein über Jahrhunderte glatt und speckig getretenes Pflaster auf dem Boden. Sind wir noch in dieser Welt?

Nein, dieses ist das Arbeitszimmer von Barry Cunningham, Cornelias britischem Verleger. Und, wir bringen es am besten gleich hinter uns, das zu erwähnen, dem Mann, der als einziger Joanne K. Rowling eine Chance gab, Harry Potter aus seinem Schrank unter der Treppe in ein veröffentlichtes Buch entkommen zu lassen. 1997 war das.Im ganzen Haus, ein richtig alter Kasten, der in einem Kuhkaff in der Grafschaft Somerset steht, sieht es nicht viel anders aus. Die Klotür zum Beispiel: Man kann die Klotür überhaupt nicht schließen, und hinter dieser immer offenen Tür erklärt ein großer Barack Obama einer kleinen Queen die Welt. Beim Pinkeln lässt sich das entdecken, der Präsident der Vereinigten Staaten wie er der Queen gegenübersteht, und ein seltsames gelbes U-Boot, na klar, die Yellow Submarine der Beatles, blubbert an den beiden vorbei. In der Stärke einer Orks-Armee stehen die Plastikfigürchen im Regal der Toilette gegenüber, in der Diele hält ein über zwei Meter großer Eisbär, ausgestopft, nur die Ruhe, ausgestopft, ein Blumenbouquet, und im Zimmer daneben ziehen ein paar dunkle Holzmasken an den Wänden erschreckende Fratzen. Was haben sie, gefallen ihnen die Tibetischen Gebetsflaggen nicht? Hassen sie es, wenn Barry die Musikbox anwirft?

In der Parallelwelt seines Arbeitszimmers nimmt Barry Cunningham Platz in einem Sessel, der, wie könnte es anders sein, mit Hilfe eines Buches unter einem der altersschwachen Beine vor dem Kippeln bewahrt wird. Eine Dose Diätcola in Reichweite – es muss immer eine Dose Diätcola in Reichweite sein -, schlägt er die Beine übereinander und schmunzelt. Als wäre da immer ein leises Flüstern in seinem Hinterkopf, dass man ruhig schmunzeln darf, weil ja das Leben – trotz allem – amüsant ist. Gut, der Kerl hat den Verlag, den er 2000 gegründet hat, "Chicken House" genannt. Weil er ein altes Hühnerhaus im Garten stehen hat. Und er ist der Obergockel? Nein, viel zu uneitel!

"Kannst du dich erinnern, welches Buch du als Kind am liebsten hattest?"

"Ja, das kann ich. Als kleiner Junge in der Schule war ich echt mies in allem, wirklich mies im Unterricht, ich starrte aus dem Fenster, ich war unfähig zu lernen. Und dann habe ich ein einziges Mal einen Preis gewonnen, einen Ehrenpreis, wie man so sagt. Was nichts anderes heißt, als dass sie dir einen Preis dafür geben, dass du dich wenigstens angestrengt hast. Auch wenn das zu nichts führte. Der Ehrenpreis sagt dir in dem Moment: Du bist ein echter Depp, aber wir wissen, dass du dir Mühe gegeben hast."

Er lacht. Und erzählt aus seinem Leben wie aus einer Geschichte, die ihm selbst nicht schlecht gefällt. Aufmerksam zuhören. Aber aufpassen: Wer ihn nur ernst nimmt, versteht ihn nicht. Und wer ihn nicht ganz ernst nimmt, versteht ihn noch weniger.

"Als Preis habe ich damals ein Buch gewählt. Ich ging in den Buchladen und wirklich per Zufall wählte ich den Hobbit. Und mochte es total. Anschließend las ich den Herrn der Ringe. Aber ich fand den Hobbit immer besser, weil er lustiger ist und eine Welt voller schwächelnder Helden hat – so wie ich, stark im Bemühen, aber nicht sonderlich erfolgreich."

Schon wieder Lachen. Weiß er, dass er selbst als Hobbit durchgehen könnte? Nicht gerade ein Lulatsch, zerzauste Haare, ausgetretene Turnschuhe und so, ja, verdammt noch mal, so ungefährlich und freundlich. Da sitzt man einem der größten Verleger für kaum fünf Minuten gegenüber und der Begriff, um den man nicht herumkommt ihn zu beschreiben ist: warmherzig.

"Ich liebe dieses Buch, und meine Ausgabe habe ich immer noch. Es war mein Lieblingsbuch. Es hat mich ungemein beeinflusst und ich weiß nicht, wie oft ich es gelesen habe, sehr, sehr, sehr oft. Ich mag es so als Abenteuer vor der Haustür, ein Abenteuer der kleinen Dinge, und es ist einfach so komisch."

"Dein absolutes Lieblingsbuch? Nicht dass "Der Hobbit" und "Der Herr der Ringe" allein Kinderbücher wären..."

"Nein, sind sie nicht. Aber mein absolutes Lieblingsbuch gehört in dieselbe Kategorie Buch wie diese beiden – Bücher, die Kinder genau so wie Erwachsene mögen. So wie viele von Cornelias Büchern. Mein liebstes Buch von allen jedenfalls ist... "Die Schatzinsel"."

Vorsichtig, leise, fast schüchtern verrät er das, als ob er sich sorgte, dass vielleicht die vielen anderen Bücher, die er mag, traurig sein könnten oder gekränkt, wenn sie hören, dass er Die Schatzinsel als sein liebstes nennt.

"Ich liebe die Stelle, wenn der Pirat über das Pflaster geht, und Jim hört ihn im Bett, wie er über die Pflastersteine kommt und dann an die Tür klopft – ein wirklich Furcht erregender und spannender Moment. Und ich mag es, weil es außerdem komisch ist und abenteuerlich, und – wie in Cornelias Büchern – finde ich den Bösewicht gut. Ich liebe Long John Silver. Aber es bräuchte... Heutzutage, also, um es mal ganz vermessen zu formulieren: Wenn ich Robert Louis Stevensons Verleger wäre, fände ich das Ende mäßig."

Lachen, ein Schluck Diät-Cola.

"Ich würde ihn noch mal an den Schreibtisch schicken und sagen: Junge, das ist ein echtes Meisterwerk, aber am Ende schwächelt es einfach."

"In den 1970ern bist du viel mit Roald Dahl gereist und hast, wie du sagst, den Unterschied gelernt zwischen dem, was Kinder mögen und dem, was die Eltern ihnen vorgeben zu mögen. Ist da nicht die Beziehung zwischen Autor und Verleger ganz ähnlich?

Stellen wir uns nur mal vor, dass Stevenson zu dir sagt: Hier ist mein Buch, ich mag es genau so wie ich es geschrieben habe. Und dann sagst du: Ich mag es auch, aber das Ende schwächelt und du solltest dir ein anderes einfallen lassen."

"Na ja, heutzutage, und damals war das auch nicht wesentlich anders, sollte ein Herausgeber oder Verleger die Leser repräsentieren. Das heißt nicht, alle Antworten zu kennen, sehr wohl aber die Fragen. Zum Beispiel: Hältst du das wirklich für ein passendes Ende deiner Geschichte? Sollte die nicht ganz anders weiter gehen? Ich habe noch nie ein Kind getroffen, das glaubt, eine Geschichte ende auf der letzten Seite. Und ich habe auch noch nie eines getroffen, das die Geschichte nicht weiter spinnt oder sich ausmalt, wie sie vor der ersten Seite schon angefangen hat. Sie stecken förmlich drin in diesen Geschichten, und da ist es enorm wichtig, wo und wie ein Autor zum Ende kommt. Stevensons Entscheidung für das Ende der Schatzinsel würde ich in Frage stellen."

"Du meinst also, das könne der Autor selbst entscheiden? Cornelia könnte da anderer Meinung sein. Sie sagt, es sei ihre Aufgabe als Geschichtenerzählerin, einen oder vielmehr den einen besten Weg durch eine Geschichte zu finden. Und diesem Weg müsse sie durch die Geschichte folgen."

"Ich denke, ich denke, dass...

Nachdenken, Zeit gewinnen.

... es meine Aufgabe ist, herauszufinden, welches dieser beste Weg ist, und es ist meine Aufgabe dem Autor zu helfen, die Geschichte von der Idee im Kopf aufs Papier zu bringen. Manchmal ist das schlicht die Frage: Glaubst du wirklich, das sollte so sein, oder hast du nur vergessen, dass deine Figur mal rosa Hosen anhatte, denn jetzt gerade trägt sie keine? Manchmal heißt das aber auch zu fragen: Wo hat die Sache angefangen, und bist du zufrieden mit dem, was daraus geworden ist? Mein Job ist es, all diese Fragen zu stellen. Nicht die Antworten zu geben. Obwohl das natürlich verführerisch wäre, gerade die Antworten zu geben, die ich selbst am liebsten hören würde. Aber nein. Meine Aufgabe ist es, die Rolle der Kinder zu spielen und Fragen zu stellen. Sehr häufig – mit Cornelia weniger – merke ich, dass Autoren diese Fragen brauchen. Alles ein sehr emotionaler Prozess."

Draußen geht ein Pferd vorbei, die Hufe klappern auf der Straße. Es folgt lärmend eine Schulklasse. Die Kinder tragen Notizbretter und Stifte mit sich. Dem Pferd wird unwohl, es beschleunigt seinen Gang. Klackerklack, klackerklack, klackerklack.

"Autoren freuen sich nicht gerade, wenn man über eine Figur, die ihnen nahe ist, sagt: Die kann ich nicht leiden. Aber die ist ein Teil von mir, würden sie sagen, es ist ein Teil meiner Persönlichkeit. Was soll das heißen, du magst die Figur nicht. Es kam vor, dass die Leute zu Roald Dahl sagten, seine Figuren wären grausam, und in Wirklichkeit seien doch Erwachsene nie so hässlich zu Kindern. Und was hat Dahl geantwortet? Manche schon, hat er immer gesagt, manche schon. Seine Aufgabe sei es, meinte er stets, den Kindern zu erzählen, dass sie niemandem außer sich selbst trauen dürften."

Es ist an dieser Stelle, dass Barry das erste Mal während des Gesprächs den Fuß des übergeschlagenen Beins hin und her bewegt. Mit Hilfe der Hände sprach er schon die ganze Zeit, bohrte sich gerne, als fände er dort die Antworten, die Finger neben seine gestrüpphaft buschigen Augenbrauen in die Schläfe. Hier aber das erste Mal der Fuß: hin und her — wie eine dezente Geste der Anerkennung und des tiefen Respekts für den eigensinnigen Brummknochen, der Dahl sein konnte.

"Gibt es eine spezielle Art, einen besonderen Stil für Kinder zu schreiben? Gibt es eigene Regeln oder Bedingungen?"

"Erwachsene gehen das Schreiben für Kinder ganz unterschiedlich an. Es unterscheidet sich stark vom Schreiben für andere Erwachsene. Schließlich schreibt man für Menschen, die dabei sind, sich ein Bild der Welt zu machen und die sich fragen, was sie von der Welt halten sollen. Sie wachsen gerade heran, und oft haben sie noch nicht so viele Erfahrungen sammeln können. Weshalb Bücher so wichtig für sie sind, dass Cornelias Fans ihre manchmal sogar unters Kopfkissen stecken. Sie hilft ihnen, sich selbst zu sehen und zu verstehen, wie sie sind und warum sie so sind. Wie eine geheime Unterhaltung. Deshalb nennt Cornelia sich selbst auch die geheime Freundin der Kinder. Manchmal kann es sein, dass sie deren einzige Ansprechpartnerin ist, wenn sie allein im Bett liegen, im Schulbus sitzen oder wo auch immer. Das ist sehr persönlich, es hat nichts mit einem großen Publikum zu tun, nichts mit Fernsehsendungen für alle oder auch nur den Klassenkameraden. Es geht um dich und nur um dich. Das ist der Moment, in dem ein Schriftsteller für Kinder wichtig wird, wenn sie deren geheime Freunde sind. Manchmal, leider, die einzigen."

Und er, Barry? Ist er der Mann, den es still glücklich macht, manchmal diese Freundschaften zu stiften? Beinahe anrührend ist es, ihm zuzuhören, wie er von Kindern spricht, die sich gerade darauf einstellen, wie sie zum Leben stehen wollen. Als wollte er selbst nichts mehr als es ihnen ein bisschen leichter, ein bisschen angenehmer zu machen. Mit einem Buch, das er verlegt, weil es zwischen den Zeilen sagt: Das kannst du schon, das kriegst du schon hin. Nur Mut.

"Wenn ich mit Cornelia oder JK Rowling oder Roald Dahl zusammen saß, passierte es meistens, dass Kinder kamen und ihnen verrieten: Was ich da gelesen habe, hat mir noch niemand so gesagt, niemand hat darüber Bescheid gewusst außer dir. Mit Autoren für Teenager ist es nicht anders: Niemand hat sich getraut, das so zu sagen. Niemand sonst traut sich zu sagen, dass man seine Mutter manchmal hassen könnte, niemand sonst wagt sich zu sagen, ich hasse es, wenn du so schreist. Niemand würde so etwas so offen sagen. Oder wenn ich mich vor etwas sehr, sehr fürchte, wer sagt mir dann, dass es in Ordnung ist, Angst zu haben? Da unterscheidet sich das Schreiben und auch das Publizieren für Kinder und Teenager wesentlich vom Schreiben für Erwachsene. Autoren und Verleger müssen eine andere Beziehung haben als zu einem erwachsenen Publikum."

Weiß er das auch aus eigener Erfahrung so genau? Der kleine Barry, der nur die Bücher hatte, die ihm sagten, es ist schon ok, in der Schule nichts zu reißen, so lang es nicht allzu schlimm wird? Kann schon sein. Lange Zeit, seinen Vater kennen zu lernen, hatte er nicht. Sein Vater starb an Lungenkrebs als Barry selbst noch ein Kind, sechs Jahre alt, war.

"In der Erwachsenen-Literatur, wenn man so will, gibt es diese besondere Art von Verbindung nicht, sie ist nicht so herzlich, nicht so verbindlich und nicht so respektvoll."

"Weißt du noch, ob du als Kind geglaubt hast, dass reale Personen hinter den Geschichten in den Büchern stecken?"

"Die Autoren oder die Figuren in den Büchern?"

"Die Autoren."

"Nein, ich schätze nicht, dass ich die als reale Personen vor Augen hatte. Es war zu der Zeit auch noch schwieriger, sich das vorzustellen. Ich habe sie immer für Teile der Figuren im Buch gehalten. Ich dachte also Conan Doyle muss ein bisschen was von Sherlock Holmes haben, und ich meinte Stevenson müsse wie Jim in "Die Schatzinsel" sein. Nein, ich war mir der Autoren als Menschen wie du und ich nicht bewusst. Mark Twain war irgendwie Tom Sawyer. Ich kam nicht auf die Idee, dass da jemand war, dem man eine Email, oder, in diesen Tagen eher, einen Brief schicken könnte. Ich sah die Autoren als Teil der Fantasiewelt der Bücher, und diese Welt habe ich der wirklichen Welt, oder dem, was wir dafür halten, stets vorgezogen. Ihr erinnert euch: Alles, was ich in dieser Wirklichkeit je bekommen hatte, war dieser Ehrenpreis dafür, dass ich mich bemüht hatte. In der Fantasiewelt dagegen war ich natürlich viel, viel besser dran."

Da lacht er wieder. Seine Fantasie lehnt sich rüber in die Welt der Buchstaben und Geschichten. Dort reitet Barry als hoch gewachsener, schillernder und Drachen besiegender Ritter Oder wäre er ein unerreicht Weiser wie Yoda? Doch, und das macht ihn sympathisch, ohne sich in der realen Welt aus den Augen zu verlieren. Das laute Knacken einer Dose auf dem Aufnahmegerät — Diätcola. Und beinahe unbemerkt: eine Lüge? Nein, Bescheidenheit. Denn tatsächlich ist der Buchpreis fürs erfolglose Versuchen nicht die einzige Anerkennung, die er sich in dieser, der echten Welt verdient hat. Im November 2010 hat man ihm im Buckingham Palast den „Most Excellent Order of the British Empire“ verliehen. Übrigens eine der seltenen Gelegenheiten, zu denen er nicht in diesem lockeren, rosa gestreiften braunen Anzug erschienen ist.

"Oft wird von dir gesagt, du seist im Herzen ein Kind. Was bist du in deinem Kopf?"

"Schwer zu sagen! Kindheit, finde ich, ist eine Sache der inneren Einstellung. Und ich finde, dass speziell Männer Meister darin sind, sich diese Einstellung zu bewahren. Nenn’ es Staunen oder Flow oder wie auch immer. Wenn ich etwas tue, lesen oder Musik hören, dann mache ich das, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Ich sorge mich um nichts, lasse nichts zwischen mich und diese Erfahrung kommen. Ich denke nicht ans Abwaschen oder an Gewinne oder daran, dass meine Fußnägel zu lang sein könnten. In dem Moment gibt es nichts als das reine Erlebnis. Das ist es. Humor, glaube ich, ist in Kinderbüchern sehr wichtig. Man sieht Kinder lachen, wenn sie Angst haben und weinen, wenn sie glücklich sind. Mir fällt im Leben nichts ein, das nicht im Inneren auch humorvoll wäre. Das Leben und der Tod und alles andere ebenfalls. Das ist das Herzstück des Kindlichen in mir. Ich glaube fest daran, dass alles was es gibt, auch Teil von etwas anderem ist. Alles Ernsthafte ist zugleich lustig, alles Traurige ist auch fröhlich und alles Beängstigende ist genau so komisch. Ich glaube, dass diese innere Einstellung mir auch bei meiner Arbeit eine Menge hilft."

Er weiß übrigens genau wovon er da redet. Früher, als Barry noch bei Penguin Books war, gehörte es zu seinen Aufgaben, als fetter Vogel verkleidet (die Symbolfigur der Kinderbuchsparte des Verlags) über Messen und zu Buchhändlern zu watscheln. Botschafter im Vogelkostüm, ist das lustig? Ja natürlich. Nimmt man die Sache zu ernst, glaubt man Ende noch, man könne fliegen mit der Klamotte und stürzt sich aus dem Fenster. Er nahm die Vogel-Auftritte mit Humor. Genau wie Harry Potter, den habe er auch mit Humor genommen, sagt er.

"Humor ist auch der Grund, warum ich "Harry Potter" gekauft habe. In jener Zeit war das Fantasy-Genre nicht gerade für Spitzenwitze bekannt. Man nahm die Sache eher sehr ernst. "Harry Potter" dagegen ist verdammt komisch. Die lachen im Angesicht größter Gefahr, und anders würde ihre Gemeinschaft gar nicht zusammen halten können. Wenn sie nicht über diese wesentliche Lächerlichkeit des Gefährlichen lachen könnten, würden sie es nie schaffen, dieser Gefahr auch nur zu begegnen. Genau aus dem Grund mochte ich "Harry Potter" und kaufte es. Genau das findet ihr auch in Cornelias und anderen großen Kinderbüchern: Humor. Cornelias Geschichten haben eine Menge Wortwitz."

"Du behauptest ja den Unterschied zu kennen zwischen dem, was Kinder wirklich mögen und dem, was ihnen nur andere vorgeben wollen. Was also spricht Kinder wirklich an, was meinst du?"

"Sie reagieren auf die verschiedensten Dinge. Humor zum Beispiel ist etwas ganz wichtiges. Das Allerwichtigste aber, glaube ich, ist...

Pause. Stille. Lange Zeit im Herzen wühlen, suchen, in seinem Kindbewusstsein unterwegs sein, Schränke unter der Spüle aufreißen, hinter Türen und in dunkle Ecken gucken, um bloß das Wichtigste, Größte, Beste wirklich zu finden... Und dann: Wie er sich still freut, wenn er es gefunden hat und wenn er es ausspricht, als ob er’s herzeigen wollte, stolz und doch bescheiden, eine Bescheidenheit, die rührt aus der Gewissheit, dass ihm tatsächlich das Kind im Inneren nie abhanden kam, nie verloren ging. Es muss stimmen. Wie sonst könnte er zugleich so ein Scherzkeks und so ein leise weiser Mensch sein?

... mit Schwierigkeiten zu kämpfen zu haben! Roald Dahl nannte das..

Dahl imitierend, plötzlich lauter, rauer und mit Nachdruck sprechend, so als haue man das Wort gegen die Rinde eines alten Baums.

... TAPFERKEIT! Darum geht es in meinen Büchern, Barry, TAPFERKEIT, mutig sein und zu sich selbst stehen. Ich bin sicher, dass alle Kinder eine Ader dafür haben: sich durch Schwierigkeit kämpfen und sich selbst treu bleiben. Das spricht sie an. Kinder haben dauernd Ärger oder fühlen sich unverstanden, und deshalb reagieren sie sehr darauf, wenn andere Kinder oder Helden in einer Geschichte missverstanden werden oder unterdrückt oder verschaukelt und wenn sie trotzdem weiter an sich glauben und einen Weg durch den Schlamassel finden. Tiere sind auch so was. Ich stelle mir vor, dass die meisten Kinder glauben, dass wir Tiere total missverstehen und dass es im Leben der Tiere geheime Seiten gibt, von denen wir alle nichts wissen. Ich zumindest habe noch kein Kind kennen gelernt, das nicht glaubte, eine Ente oder ein Hund wüssten eine ganze Menge über uns ohne uns das jemals zu verraten. Außerdem interessieren sich Kinder für die Gegenständlichkeit der Welt. Leuten, die mit dem Schreiben anfangen, sage ich oft, dass sie beschreiben müssen, wie die Menschen aussehen, die körperlichen Eigenschaften. Und was sie zum Beispiel essen. In einer Fantasiewelt voller Glurps und Gurgons würde man doch auf jeden Fall wissen wollen, was für einen Kuchen solche Wesen gerne essen. Sehr spannend, Gurgonen-Torte, ziemlich wichtig."

"Du hast mal gesagt, dass Kinder Bücher beinahe so lieben als wären es lebendige Wesen. Wie stehst du so zu deinen Büchern?"

"Ich bin nicht pingelig mit ihnen. Ich verliere welche, verschenke sie, verschütte Kaffee darüber. Und ich mag Secondhand-Bücher, solche, in die schon jemand etwas rein geschrieben hat zum Beispiel. Ich finde es gut, wenn man sieht, wie ein Buch schon genutzt wurde, weil es vielleicht Essensflecken hat oder eine Einkaufsliste ist auf eine Seite notiert. Ich bin also nicht zimperlich mit meinen Büchern. Aber ich war auch einer von denen, die früher ihre Bücher regelrecht in die Arme schlossen, so wie man das sieht bei manchen Mädchen, die Schlange stehen, um von Cornelia ein Autogramm zu bekommen. Sie umarmen ihre Bücher richtig. Kann sein, dass das so ist als würden sie Cornelia umarmen. Und sie stecken die Bücher nachts unter ihr Kissen, bestimmt. Es gibt da bei Cornelia dieses Zitat, dass die Magie der Geschichte eure Träume erfüllt, wenn ihr mit dem Buch unterm Kopfkissen schlaft. Und wer wollte daran zweifeln, dass es für Kinder auch wirklich so ist?"

"Von den Büchern zu Tieren. Welches ist dein Lieblingstier?"

"Was ich immer gesagt habe, war: Hunde. Denn ich dachte, ich sei ein Hunde-Mensch, ich mag Hunde sehr gern."

Barrys Hund heißt Marley. Es ist ein dunkler Tibet-Terrier, der einem charmant den Kopf aufs Knie legt, wenn er meint, er könne was zu futtern abstauben, um einen fünf Sekunden später anzubellen, wenn er merkt, dass das nicht funktioniert.

"Wenn es in Strömen regnet, und du sagst zu deinem Hund, komm, wir hängen die Wäsche raus, springt er auf und ist vollkommen begeistert von der Idee. Niemand hat das bisher probiert, genau, wir gehen raus und hängen die Wäsche auf, lass mich vorgehen, welch ein großartiger Einfall, die Wäsche in den Regen hängen."

Froh wie ein Hund, der gleich im Regen spazieren darf, sitzt er da grinsend im Sessel. Und es liegt, wenn man ihn so sieht, nicht jenseits aller Vorstellung, dass er im nächsten Schauer wirklich mit dem Hund raus geht, um die Wäsche in den Regen zu hängen. Nur, um’s mal gemacht zu haben. Seine Stimme überschlägt sich fast wie ein kleiner Spanielwelpe, der einem Ball hinterher jagt und über die eigenen Füße fällt, selbst zum Ball wird und über die Wiese kullert. Wow! Ich bin gefallen und gepurzelt, habt ihr das gesehen, was für eine Show! Wo ist der Ball?

"Hunde können einen solchen Optimismus ausstrahlen, und das liebe ich. Andererseits stelle ich fest, dass ich mit den Jahren meine Katze Mabel mehr und mehr mag. Katzen hängen ja eher ein bisschen mit dir rum, und wenn sie keine Lust mehr haben, verschwinden sie. Ich bin eine Weile da, sagt die Katze, und dann verdrücke ich mich wieder."

"Was ist mit Giddy?"

"Giddy? Oh, Giddy, meine Giraffe! Ihr wisst von Giddy! Ist eigentlich ein Geheimnis. Es ist das einzige Buch, das ich jemals geschrieben habe: "Giddy finds a job". Tja, es geht um eine Giraffe, die ein Problem hat mit ihrer Größe. Und als Giraffe, fürchte ich, ist das wirklich hart."

"Wenn du für einen Tag noch mal Kind sein könntest, tatsächlich, so als wärest du auf dem magischen Karussell im Herrn der Diebe gefahren, was würdest du machen? Wo würdest du hingehen? Was würdest du essen?"

"Na ja, essen und trinken ist wirklich leicht. Ich würde zurückgehen in der Zeit und meine erste Portion Fish and Chips noch einmal essen, die allerersten Fish and Chips. Und dazu würde ich eine Dose Tizer trinken, ein ziemlich süßes und sprudelndes Zeug, das ich früher nie trinken durfte. Ein bisschen wie Irn Bru in Schottland. Und zum Nachtisch würde ich eine ganze Packung Toffees allein essen. Es hat mich früher zu Tode geärgert, dass ich immer nur einen bekam. Was ich dann noch machen würde, wäre, ich würde... Mein Vater ist gestorben als ich noch sehr jung war. Und es gibt da eine Sache, die wir zusammen gemacht haben, die ist mir bis heute so sehr im Kopf beblieben. Mein Vater nahm mich mit zum Volksfest im Battersea Park in London und wir verbrachten einen ganzen Tag auf dem Rummel. Und ich wollte mit ihm wieder und wieder die Wasserrutsche runter. Es war eine echt hohe Rutsche und ich gab nicht Ruhe, wir rutschten wieder und wieder und wieder und wurden nass bis auf die Knochen und wir verbrachten dort den ganzen Tag zusammen. Wir bekamen ziemlich Schwierigkeiten als wir nach Hause kamen. Ein paar Jahre später erst habe ich erfahren, dass meine Eltern an dem Tag einen schlimmen Streit hatten und mein Vater mich ohne eine Wort zu sagen einfach mitgenommen hatte. Es war also eigentlich gar kein so schöner Tag, aber das habe ich damals nicht gewusst. Und wenn ich jetzt könnte, würde ich zurückgehen und einen guten Tag daraus machen. Und ich bin mir nicht sicher, ob es noch etwas anderes gibt, wofür ich noch mal zurück wollte."

Ein bisschen Traurigkeit. Denn er weiß, das geht nicht. Aber das muss ja nicht heißen, dass er aufhört davon zu träumen, dass es doch irgendwie möglich ist.

"Kannst du dich erinnern, was du einmal werden wolltest, als du ein Kind warst?"

"Mit acht oder neun etwa wollte ich Archäologe werden. Ich hatte dieses Buch gelesen und dachte, ich müsste nur den Garten hinterm Haus umgraben, um Tutenchamun zu finden. Ganz sicher läge der da im Boden am Rand von Reading. Also wühlte ich eine ganze Menge Zeug aus dem Garten und machte aus meinem Zimmer ein Museum mit kleinen Schildchen an den Sachen: Metallsplitter – möglicherweise von Römischem Streitwagen. Dann kam eine Zeit, als mir alles mit Wissenschaft eher langweilig vorkam. Da wollte ich dann erst Journalist werden und später lieber Rockstar."

"Und dann bist du doch Archäologe geworden, irgendwie, denn was du machst, ist..."

"Ausgrabungen vornehmen, ganz genau. Ich befördere interessante Gedanken aus den Köpfen der Leute zu Tage. Ich lege ihre Fantasie frei und grabe ihre Gedanken aus."

"Stell Dir vor, Mo aus "Tintenherz" würde dir anbieten, eine Figur aus einem Buch herauszulesen. Wen würdest du dir aussuchen? Long John Silver?"

"Möglicherweise... Long John Silver."

Sehr zögerlich kommt das. Er weiß wohl nicht, ob der ihm nicht doch zu viel Angst machen würde.

"Echt? Du müsstest sicher deine ersten Fish and Chips mit ihm teilen, und unter Umständen würdest du ihn nicht wieder los."

"Aber nein, aber nein. Wen würde ich wollen, hm? Wartet. Was sollte er für mich aus einem Buch in mein Leben lesen?"

Er ist überfallen von der Frage, gleichzeitig begeistert von der Möglichkeit, die da als pure Vorstellung im Raum schwebt. Für ihn also: nicht minder real ist als seine Diätcoladose, die er unterdessen längst leer genuckelt hat.

"Jemand aus einem Buch lebendig hier bei mir? Wow, mein Gott! Gut, also es wäre Cathy. Aus "Wuthering Heights". Oder lieber Becky Sharp aus "Vanity Fair"?"

"Jaaaaa, Cathy Earnshaw, Catherine aus "Wuthering Heights", in die bin ich mein ganzes Leben lang schon so was von verliebt. Und Becky Sharp aus "Vanity Fair", die ist einfach so was von einer Frau. Wahnsinn! Aber, nein, Ich nähme Catherine aus "Wuthering Heights", keine Frage."

"Cathy!"

"Die volle Gefühlspackung! Und sie würde mit mir zu diesem Platz in Wuthering Heights gehen, wo sie mit Heathcliffe war, zu dieser Stelle im Moor, wo selbst im Sommer manchmal noch der Schnee liegt."

"Romantische Angelegenheit?"

"Klingt wohl ziemlich danach, was? Also ich finde, wir sollten weiter machen!"

Nicht weil es ihm peinlich wäre, nein, aber schon hat ihn die Fantasie zur Hälfte ins Moor und an die Seite von Cathy gezogen. Und nicht dass die Sache hier aus dem Ruder läuft. Dass der so durchtriebene Frauenfiguren aus hundert Jahre alten Gesellschaftsschinken wählen würde? Diese Cathy und Becky sind ja nicht eben liebe Lämmchen, mit denen man nur allzu gern seine Toffees teilt. Man muss sich fast Sorgen machen um ihn.

"Was, wenn es anders herum wäre, wenn Mo dich in ein Buch hinein lesen würde?"

"Gute Frage. Wo würde ich gerne hin?"

"Zu Cathy?"

"Oh, nö, Ich schätze, ich sollte besser nicht in "Wuthering Heights" auftauchen. Wohin sollte ich wollen?"

Die Stirn wirft Falten, die Räder, der Finger bohrt sich wieder in die Schläfe, drehen sich. Mit übereinander geschlagenen Beinen in seinem alten Sessel reist er in Sekunden – Magie – durch die Literaturgeschichte, kurze Stops in der viktorianischen Periode der großen Erzähler, ein Abstecher zu Fantasy? Nicht lustig genug, amerikanischer Realismus ganz sicher nicht. Gut passen würde er in einen frühen Schelmenroman. Dann aber, plötzlich, kommt er an:

"Ich hab’s. Ganz ehrlich: Ich würde gerne nach Hogwarts gehen. Ich habe mich so lange mit "Harry Potter" beschäftigt, da wäre es nicht schlecht, einmal wirklich nach Hogwarts zu kommen. Nur so als einer der Typen im Hintergrund, das würde mir schon reichen."

"Und wenn es keinen Weg zurück gäbe?"

"Wäre mir das auch Recht. Immerhin weiß ich von der Geschichte ein bisschen mehr als jeder andere, denn ich habe ein paar Kapitel aus dem ersten Buch herausgenommen, müsst ihr wissen. Ich könnte den Leuten da also das ein oder andere von dem verraten, was hätte passieren können."

"Wenn du auf der Stelle das Haus verlassen müsstest, sagen wir so wie Meggie in "Tintenherz". Als Staubfinger auftaucht, müssen sie und Mo am nächsten Morgen verschwinden. Fünf Dinge, die du mitnehmen würdest."

"Mann!"

Stößt er nur kurz hervor, als wolle er sich beschweren über diese so unlösbare Aufgabe, doch dann kommt, ohne einen Moment des Zögerns oder Zauderns, ohne ein Hin oder Her als erstes:

"Meinen iPod, fürchte ich. Das müsste sein, weil ich da meine gesamte Musik drauf habe."

Der Mann ist ein Musik-Irrer, was Töne hervorbringt liebt er. Er hat sechs Kinder, nun, das vielleicht, nein, ganz sicher sogar aus anderen Gründen. Aber sonst: Musik. Beatles Alben, leer, die Cover nur, hängen an den Wänden seines Büros, Schallplatten stauen sich meterlang in den Regalen, und in der Küche überstiege die Höhe des CD-Turms, legte man alle aufeinander, die dort herum fliegen, die Größe des Eisbärs, den Barry im Flur stehen hat. Dann ein kurzes ’Äääähm’ und es kommt Nummer zwei.

"Ein Buch namens "Staying Alive". Das ist eine Gedichtsammlung, und vermutlich die beste Gedichtsammlung überhaupt. Nummer drei wäre die Katze. Wir kommen so gut miteinander aus. Bleiben zwei mehr. Hm."

Da kommt das ’Hm’, das er für den iPod nicht bemühen musste. Und dann der Schock! Was sagt er? Eine Unmöglichkeit, wirklich, auf die man nie käme, so wie er diese ausgelutschten Turnschuhe mit Klettverschluss trägt. Nun ja, vielleicht ist das ein klarer Hinweis auf das Schräge, das sein Wesen offenbar von links oben nach rechts unten durchzieht, so wie er herumläuft, die Haare als hätte der englische Wind sie ihm geföhnt, das Braun des Einreihers von zartrosa Streifen gebrochen, die sich mit der roten Kante der grünen Strickjacke darunter, ja, beißen. Also, er sagt:

"Meine Cowboystiefel. Ich liebe diese Cowboystiefel."

Eine skurrile Vorstellung, dieser nicht eben groß gewachsene Mensch, wenn er die Füße in ein paar krumme Cowboystiefel steckt. Ist er nicht viel zu britisch, um solche Stiefel zu tragen, die man eher an einem John Wayne Typ sehen würde? Nein?

"Ich mag sie so, weil sie, wisst ihr, sehr nützlich sein können in schwierigen Situationen."

Was stellt er sich darunter vor? Eine Autopanne mit 15 Meilen Fußweg zur nächsten Tankstelle oder eine Invasion ein fremden Macht aus dem All, die mit Spezialkanonen alle pulverisieren, die nicht Cowboystiefel tragen?

"Hm, Nummer fünf. Echt schwierig, oder?"

"Nein."

"Oh, weil ich ja verschwinden müsste, würde ich das Auto nehmen. Auto, Cowboystiefel, "Staying Alive", Mabel und meinen iPod. Schätze, das ist alles, was ich brauche."

"Das Auto steht schon draußen vor der Tür. Das zählt also nicht."

Er zieht diese mächtigen Augenbrauen hoch, und diese Anstrengung hilft ihm einen Moment dabei die Fassung zu wahren. Eigentlich will er sagen shit, ich dachte, ich hab’s, und dann diese miese Nummer, verdammt. Aber er bleibt höflich, mit sich und mit uns auch, also sagt er:

"Das Auto ist also schon draußen, hm? Diätcola villeicht? Nein. Ich würde meinen Eisbär mitnehmen. Keine Diätcola, mein Eisbär natürlich."

"Warum ist er so schmutzig?"

Der Bär steht im Flur mit einem albernen roten Fes schief auf dem einst weißen Haupt. Das zumindest nimmt man doch an, dass der Bär mal weiß war, so sehen sie aus, die Eisbären im Fernseher und im Zoo. Eisbären sind Weißbären, denkt man doch, oder etwa nicht? Der hier aber, ausgestopft bei Barry im Flur, ist bräunlich gräulich wie eine Gardine, die schon zu lang am Schlafzimmerfenster einer alten Frau den Schmutz gelebten Lebens sammelte.

"Na ja, er, oder besser sie, denn tatsächlich ist sie eine Lady, ist nicht mehr ganz neu. Ich habe sie seit meinem 21. Geburtstag. Sie stand in einem Süßigkeiten-Geschäft namens Fox’s Glacier Mints. Als meine Schwester mich gefragt hat, was ich mir denn zum Geburtstag wünsche, habe ich einfach so dahergesagt, dass ein zwei Meter großer, ausgestopfter Eisbär nicht schlecht wäre."

Er sagt es wieder so leichten Herzens wie vor Jahren.

"An den Quatsch habe ich keinen Gedanken mehr verschwendet. Bis ich, glaubt es oder nicht, einen zwei Meter großen, ausgestopften Eisbär zum Geburtstag bekam. Und seitdem wohnt sie bei mir. Zunächst in einer sehr engen Wohnung, wo sie mit einem Tuch überm Kopf stand. Hier erst hat sie den Platz, den sie braucht. Aber ihre Pfoten trocknen so langsam aus, und ich muss mal mit einem Präparator sprechen, damit er sich um sie kümmert. Vom Britischen Naturkundemuseum hat mir einer gesagt, ich solle sie in die Badewanne stecken, um sie wieder anzufeuchten, aber, ganz ehrlich, ich kann mir nicht so wirklich vorstellen, mit dieser Eisbärin nach oben zu gehen, um ihr ein Bad einzulassen."

"Dazu ein Gläschen Champagner. Musik. Kerzenlicht."

"Nein, nein, sie ist nicht diese Sorte Bär."

"Aus welchem Land oder aus welcher Region würdest du gerne mal ein Buch publizieren?"

"Da gibt es eine Menge. Aus Japan würde ich gerne ein Kinderbuch veröffentlichen, kein Manga allerdings. Mich interessiert die andere Art des Geschichten erzählens. Auch verschiedenes aus Afrika, geschrieben aus einem afrikanischen Blickwinkel, habe ich mir schon angesehen. Bücher, die einem eine andere Vorstellungswelt eröffnen, so etwas würde ich gerne verlegen. Bücher aus Afrika und Indien, die in Englisch geschrieben sind, unterscheiden sich von unserer Sichtweise oft nicht. Da ist alles ziemlich ähnlich. Aber was ich aus Japan gelesen habe, ist so irre und anders, dass ich auch gerne ein paar Kinderbücher von dort entdecken würde. Brasilien ist auch so ein Fall. Die meisten Geschichten, die wir in englischer Übersetzung veröffentlichen, stammen aus Deutschland oder Frankreich, ein paar wenige aus Holland."

Er kichert unterdrückt dabei, als wäre das eine unglaublich absurde Vorstellung. Und das ist es in gewisser Weise ja auch: da gibt es eine ganze Welt voller Bücher und Geschichten und Vorstellungen, alle anders, alle so besonders, doch so viele Vorstellungen, mit denen wir unseren Lesehunger füttern, kommen von um die Ecke, rein kulturell gesehen.

"Kinder haben doch auf der ganzen Welt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Da sollte es möglich sein, ein paar mehr Bücher weltweit zu veröffentlichen. Schwierig ist das, weil die Übersetzungen oft nichts taugen und man sich vorstellen muss, wie wohl eine gute Übersetzung der Geschichte wirken würde. Als ob man den Klang einer Symphony erahnen sollte, wenn jemand nur eine lausige Version der Melodie pfeift. Es braucht eine Menge Vertrauen ein Buch aus dem Finnischen zu kaufen, ohne zu genau zu wissen, worum es eigentlich geht. Sehr schwierig. Aber gut, Japan fasziniert mich, die Erzählkultur und die Kultur überhaupt. Und dass die Kindheit dort eine andere Bedeutung hat, eine andere Rolle spielt als bei uns, ist interessant."

"Chicken House, hast du gesagt, gibt gern neuen Autoren eine Chance. Ist es nicht seltsam, dass Bücher und Geschichten Fantasie und Offenheit voraussetzen, die Buchindustrie aber eine eher geschlossene und sich um sich selbst drehende Welt ist? Kann es nicht sein, dass es bei neuen Autoren für Chicken House auch darum geht, ihnen nicht viel, zumindest nicht so viel zahlen zu müssen wie etablierten Autoren? Denn ein Neuling kann doch froh sein, wenn eine Geschichte überhaupt veröffentlicht wird."

"Das stimmt, das stimmt. Neue Talente bergen stets höhere Risiken, versprechen aber auch höhere Einnahmen. Für ein kleines Unternehmen kann das die richtige Strategie sein. Wenn sich allerdings erweist, dass neue Autoren nicht das Talent sind, für die du sie gehalten hast, bedeutet das einen Totalausfall. Wenn man das Buch eines bekannten Autors kauft, macht man damit nicht so viel Geld, aber man läuft auch nicht Gefahr so viel zu verlieren. Das ist ein unternehmerisches Abwägen, ähnlich wie mit neuen Interpreten in der Musik. Höheres Risiko, höhere Gewinnchancen, weil die Autoren weniger Geld nehmen können, da du ein höheres Risiko für sie eingehst. Für die Autoren sind die Gefahren überschaubar. Für uns als Verleger sind vielleicht fünf oder sechs von zwanzig Büchern ein totaler Reinfall, sei’s weil wir die Sache falsch beurteilt haben oder einfach wegen schlechten Timings. Als hätten wir ein Riesending wie "Die Schatzinsel" im falschen Jahrhundert auf den Markt gebracht."

"Oder mit dem falschen Ende. Ist es nicht manchmal leichter mit neuen und unbekannten Leuten zu arbeiten?"

"Nie!"

Es platzt aus ihm heraus, noch bevor er das Ende der Frage gehört hat.

"Als ich für Penguin gearbeitet habe, waren fast alle Bücher, die ich eingekauft habe, schon veröffentlicht. Wir kauften die Rechte von kleinen Verlagen, und dann ging es nur noch ums Marketing. Ich war damals Marketing Direktor, und die Frage, um die sich das Geschäft drehte, war: Wie verkaufen wir die Bücher? Ob die Geschichten etwas taugten, war für die tägliche Arbeit zweitranging. Wie platzieren wir das Buch am Markt, wie bewerben wir es, welches Format wählen wir, welchen Preis? Das waren die wichtigen Fragen. Das war kein leichtes Geschäft, und noch dazu nicht so kreativ, denn an den Geschichten war ja nichts mehr zu machen. Auch mit neuen Autoren ist es manchmal echt schwierig. Man verlangt vielleicht Dinge, die sie nicht umsetzen können. Und vielleicht ist ein Autor nur im Stande ein einziges Buch zu schreiben. Für kurze Zeit war ich früher im Musik-Business, und da gab es viele Künstler, die konnten nur ein Album produzieren. Sie hatten Jahre lang daran gearbeitet, und sie schafften es nicht, eine zweite Platte schnell genug nach zu legen. Genau so haben viele Probleme damit, schnell genug ein zweites Buch zu schreiben, wenn sie zu lang am ersten gesessen haben. Und heute kannst du dir so lang nicht Zeit lassen. Wenn das zweite Buch nicht innerhalb von drei oder fünf Jahren erscheint, bist du vergessen. Also: Es ist risikoreicher mit neuen Leuten, aber auch lohnender, und das nicht nur finanziell."

Sagt’s, als wäre es ein großes spannendes Spiel wäre, bei dem man eben mal verliert und mal gewinnt. Vielleicht ist das die genügsame Gelassenheit von einem, der oft gewonnen und trotzdem nicht vergessen hat, dass es im Spiel um den Spaß an der Sache geht.

"Hast du schon mal daran gedacht ein Buch zu verlegen, das ein Kind geschrieben hat?"

"Ja, und wir haben auch schon mit Kindern zusammen gearbeitet, haben versucht sie dazu zu bringen, ihre Bücher zu Ende zu schreiben. Ich erinnere mich an ein Mädchen, die oft bei Chicken House war, die Tochter des Ladeninhabers vom Ende der Straße. Ihre Geschichten steckten voller guter Ideen und sie schrieb wirklich brilliant, also ermutigte ich sie weiter zu machen. Ich brachte ihren Vater dazu, sie abends vorbei zu bringen, aber dann hatte sie irgendwann einen Freund und ging aus und das war’s dann mit dem Schreiben. Ich weiß nicht, ob Kinder ihr eigenes Leben überhaupt schon so richtig im Blick haben können. Viele haben auch noch keine eigene Stimme und imitieren beim Schreiben oft die anderer Autoren. Ist es nicht interessant und zugleich seltsam, dass die ganze Kinderbuchwelt von Erwachsenen gemacht wird? Es sind die Erwachsenen, die sich fragen: Was könnte die Kinder wohl interessieren? Und auf dieser Annahme beruht dann das ganze Geschäft. Ich glaube allerdings, dass ich das tatsächlich ganz gut einschätzen kann. Und Cornelia findet wohl auch, dass ich ein gutes Näschen dafür habe. Wie JK Rowling. Aber ob Roald Dahl das ebenfalls so gesehen hat? Keine Ahnung."

Nun ja, vermutlich war auch Dahl dieser Meinung, hätte es aber nicht über sich gebracht, das so offen zu sagen. Man hat ja nicht als Softie gelten wollen. Worüber Barry sich ganz offensichtlich keine Sorgen macht. Albernes Getue. Am Ende liegt das daran, dass das Erwachsensein ihn wirklich noch nicht ganz gefangen genommen und er sich das Kind im Inneren, auch wenn das nur wie eine Floskel klingt, bewahrt hat. Wie er die Belange von Kindern auf den Punkt bringt, geheime Wünsche, ein schlechtes Gewissen, das Kleinsein, das Alleinsein, das Unsichersein und das Unverstandensein. Das Entdecken und Bestehen wollen. Wie er es in Worte kleidet, so dass die Besonderheit, das Einzigartige, das eminent Wichtige des Kindlichen – das Wichtige für die Kinder und für die Erwachsenen – hervor leuchtet. Wie die Freude, die er daran hat, Bücher zu entdecken, Geschichten sich entwickeln zu lassen und sie zu verlegen.

"Vielen Dank, Barry. Vielen, vielen Dank."

"Bitte, gerne. Jetzt kommt und lasst uns was zu Mittag essen."

Zu dieser Geschichte gibt es 1 Kommentar

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Mel – 21. März 2022

Ein spannendes Interview, vielen Dank! Als eines der Mädchen, die Bücher umarmen, kann ich sagen: auf diese Weise bin ich dichter an der Geschichte, an der fantastischen Welt, den Figuren. Nicht unbedingt dichter an Cornelia, aber dichter an der Welt, die sie erschaffen hat. Wenn ich Bücher umarme, dann, weil es mich der Welt so nahe bringt, wie es eben geht, wenn man sich nicht hineinlesen lassen kann