Tintenwelt 4 - Die Farbe der Rache

Tintenwelt 4 Die Farbe der Rache

Fünf Jahre sind seit den Geschehnissen in "Tintentod" vergangen. Fünf glückliche Jahre. Aber dann wird Eisenglanz gesichtet, der Glasmann von Orpheus, dem erbitterten, silberzüngigen Feind von Meggie, Mo und Staubfinger. Der Grund: Orpheus plant Rache an allen, die ihn zu Fall gebracht haben, doch vor allem an Staubfinger, und er nutzt einen furchtbaren Zauber. Sind Bilder mächtiger als Worte? Staubfinger zieht aus, die Antwort zu finden. Der Schwarze Prinz aber macht sich auf die Jagd nach Orpheus.

Schwarz war die Welt. Es war Nacht in Ombra. Nur die Mauern der Burg färbten sich rot, als hätte die untergehende Sonne sich zwischen ihnen versteckte. Auf den Zinnen standen Wächter aus Feuer zwischen Soldaten aus Fleisch und Blut. Auch unten zwischen den Torbögen und auf dem Hof, wo die Lebenden sich drängten, formten die Flammen die Silhouetten von Frauen, Männern und Kindern. Es herrschte Frieden in Ombra, seit mehr als fünf Jahren. Doch in dieser kühlen Septembernacht gedachte die Stadt all derer, die für diesen Frieden gestorben waren, und wie jedes Jahr gab ihnen ein Mann durch die Flammen eine Gestalt.

Feuertänzer. Staubfinger hörte, wie die Menge den Namen, den sie ihm gegeben hatte, voll Dankbarkeit murmelte. Durch ihn beschwor das Feuer nicht bloß einmal im Jahr Ombras Tote auf der Burg. Es erhellte nachts die Gassen und wärmte sie im Winter, spendete Trost und Freude, wenn er es spielen ließ, und war Staubfingers Dank für all das Glück, das diese Stadt ihm in den letzten Jahren beschert hatte.

Die Fürstin, die nun schon lange Ombras Frieden hütete, stand auf dem Balkon, von dem aus sie ihren Untertanen schon gute und schlimme Nachrichten verkündet hatte. Violante hieß nicht länger die Hässliche. Die Tapfere nannten man sie nun, bisweilen sogar die Gütige. Violante trug gewöhnlich schwarz, doch in dieser Nacht war ihr Kleid weiß, denn das war die Farbe der Trauer in Ombra.

Staubfingers Tochter stand wie immer an ihrer Seite. Brianna glich Roxane inzwischen sehr, obwohl sie Staubfingers rotes Haar geerbt hatte. Sie lächelte ihrer Mutter zu, als Roxane sich aus der wartenden Menge löste und den Kopf vor Violante neigte.

Roxanes langes Haar war mittlerweile grau, und sie flocht es nun meist, statt es wie früher offen zu tragen, doch die Jahre hatten sie für Staubfingers Augen nur noch schöner gemacht. Es wurde still, als sie zu singen begann, so still wie damals, als er ihre Stimme zum ersten Mal gehört hatte, auf einer anderen Burg, vor Fürsten und reichen Händlern, die über ihrem Gesang sogar ihre Schönheit vergessen hatten.

Das Feuer zeichnete Roxanes Schatten auf die Mauern, als sie von denen sang, die Ombra verloren hatte. Ihre Stimme füllte den Hof mit der Sehnsucht nach ihnen, mit Erinnerungen an ihr Lachen und Weinen, und gab ihnen für eine Nacht, wie Staubfingers Feuer, das Leben zurück.

Verloren und gefunden ...

Staubfinger ließ den Blick über die Menge streifen.

So viele Gesichter. So viele Geschichten.

Nicht alle waren mit der seinen verwebt, aber einige von ihnen hatten das Muster seines Lebens für immer verändert. Da stand Fenoglio, dessen Worte ihm so viel Unglück beschert hatten, mit seinem Glasmann auf der Schulter und Dante an der Hand, dem kleinen Sohn von Resa und Mortimer, der so alt wie der Frieden in Ombra war. Resa lächelte Staubfinger zu, als sie seinen Blick bemerkte. Sie teilten Erinnerungen, die dunkler als der Himmel über ihnen waren. Ihre Geschichten hatten sich oft überschnitten, in dieser und in einer anderen Welt. Mortimer war inzwischen wieder ein Buchbinder, doch niemand hatte die Lieder vergessen, die man über ihn gesungen hatte, als er die Maske des Eichelhähers getragen und die eigene Freiheit für das Leben von Ombras Kindern eingetauscht hatte.

Mortimer blickte zu Staubfinger herüber, als hätte er seine Gedanken gehört. Zauberzunge. Mortimers Stimme hatte eine andere Macht als die von Roxane, doch zum Glück machte er schon lange keinen Gebrauch mehr davon. Dass er ebenso wie Fenoglio aus einer anderen Welt stammte, wusste natürlich niemand in Ombra.

Nein. An all das wollte er sich heute Nacht nicht erinnern: an all die Jahre in der falschen Welt, die verzehrende Sehnsucht ... Du bist hier, Staubfinger, erinnerte er sich, während sein Blick von Roxane erneut hinauf zu Brianna wanderte. Du hast, was du dir ersehnt hast. Deine Frau, deine Tochter und die Welt, die du liebst. Warum fühlte er trotzdem die alte Rastlosigkeit, die ihn schon in seiner Jugend umgetrieben hatte? „Du willst dich wieder davonmachen, oder?“ Roxane hatte ihn das erst gestern halb im Scherz gefragt. Sing sie fort, Roxane!, dachte Staubfinger. Sing sie einfach fort, die Unrast in meinem dummen Herzen.

Ihr Gesang füllte den nächtlichen Burghof mit dem Schmerz, den es brachte, die zu verlieren, die man liebte, aber auch mit der Gewissheit, dass die Liebe den Schmerz immer wert war. Mortimers Tochter Meggie glaubte das derzeit sicherlich. Aus dem Mädchen, das Staubfinger einst so feindselig angestarrt hatte, war eine junge Frau geworden, und ganz Ombra liebte Doria, dem sie ihr Herz geschenkt hatte. Kein Wunder. Wie konnte man einem Jungen widerstehen, der sich Flügel aus Holz und Leinen baute und damit von der Stadtmauer flog? Meggie küsste ihn zärtlich, als Roxanes Stimme verklang, und Staubfingers Flammengestalten wurden zu feurigem Pollen, den der Wind hinauf in den dunklen Himmel trug.

„Roxanes Stimme wird mit jedem Jahr schöner, aber dein Feuer war auch nicht schlecht.“ Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter.

Der Umhang, den der Schwarze Prinz trug, war so blau, dass er Staubfinger an einen tiefen See oder dunkle Sommerhimmel denken ließ. Nyame liebte Blau. Blau und Gold waren schon immer seine Farben gewesen, lange bevor man begonnen hatte, ihn den Schwarzen Prinzen zu nennen.

Violante winkte der Menge ein letztes Mal zu, bevor sie in ihren Gemächern verschwand, und der Burghof begann sich zu leeren. Es war eine kalte Nacht ohne das Feuer.

„Wo ist dein Marder? Langweilt dein sesshaftes Leben Gwin?“ Nyame schenkte ihm ein wissendes Lächeln. Sie waren schon so lange Freunde, dass er wusste, wie sehr der Marder Staubfingers Rastlosigkeit verkörperte. Für den Schwarzen Prinzen hatten die letzten Jahre wenig Frieden gebracht. Es gab immer einen Fürsten, der seine Untertanen schlecht behandelte, und wenn Nyame sich ein paar ruhige Tage im Lager der Spielleute gönnte, tauchte sicher bald eine Abordnung verzweifelter Bauern auf und bat ihn um Hilfe.

„Da! Bist du blind? Dort hinten beim Tor!“ Die schrille Stimme von Fenoglios Glasmann schnitt durch die Nacht. Rosenquarz spitzte dem Tintenweber seit vielen Jahren die Schreibfedern. Er fiel fast von Fenoglios Schulter, so aufgeregt wies er mit seinem blassroten Finger dorthin, wo die Menschen an den Wachen vorbei nach Hause strömten.

„Unsinn!“, fuhr Fenoglio ihn an. „Es war irgendein anderer Glasmann, und nun reg dich ab. Du wirst noch eines Tages zerspringen, weil du dich wegen jeder Nichtigkeit aufregst!“

„Nichtigkeit?“, schrillte Rosenquarz’ feine Stimme. „Eisenglanz ist ein Schurke! Und hast du vergessen, wem er diente? Orpheus!“

Staubfinger glaubte zu spüren, wie ihm das Herz zu Eis wurde.

Orpheus.

Nein. Er war tot oder weit, weit fort.

„Schluss!“, rief Fenoglio entnervt. „War Orpheus bei ihm? Nein. Na bitte!“

„Und?“, zeterte Rosenquarz. „Das beweist gar nichts. Und der Kerl, auf dessen Schulter er saß, sah alles andere als vertrauenerweckend aus!“

„Ich sage Schluss!“, fuhr Fenoglio ihn erneut an. „Mir ist kalt, und Minerva hat sicher schon die köstliche Suppe aufgewärmt, die sie heute Morgen gekocht hat.“

Dann war er in der Menge verschwunden, die durch das Burgtor drängte. Staubfinger aber stand da und hielt zwischen all den Menschen Ausschau nach einer Schulter, auf der ein Glasmann mit grauen Gliedern hockte. Wie schmerzhaft schnell sein Herz schlug. So schnell von all der alten Furcht, die der Klang eines Namens zurückbrachte.

Orpheus.

Was, wenn Rosenquarz recht hatte? Was, wenn nicht nur Orpheus’ Glasmann, sondern auch Orpheus selbst in Ombra war? Schrieb er schon in irgendeiner Kammer Worte, die Staubfinger erneut alles rauben würden, was ihn glücklich machte?

„Was?“ Nyame schlang ihm den Arm um die Schulter. „Guck nicht so besorgt drein! Selbst wenn es Orpheus’ Glasmann war. Du hast gehört, was Rosenquarz gesagt hat. Er hat längst einen anderen Herrn! Glaubst du allen Ernstes, wir hätten all die Jahre nichts von Orpheus gehört, wenn er noch am Leben wäre?“

Er klang tatsächlich unbesorgt.

Aber für Staubfinger kamen die Erinnerungen zurück, ob er wollte oder nicht. Ein Gesicht, zornrot wie das eines gekränkten Jungen, blassblaue Augen hinter runden Brillengläsern, verschlagen trotz ihrer scheinbaren Unschuld. Und dann die Stimme, so voll und schön, die ihn aus der falschen Welt zurück in diese gebracht hatte. Du hast dich auf die Seite des Buchbinders gestellt, Feuertänzer. Das war grausam, sehr grausam.

Violantes Wachen verriegelten hinter ihnen das Burgtor für die Nacht, und die Menschen, die sich versammelt hatten, um die Toten zu ehren, verloren sich in den Gassen der Stadt. Trug einer von ihnen den Glasmann auf der Schulter, der Staubfinger die Antwort hätte geben können, ob sein Herr noch lebte?

Geh, Staubfinger. Such nach ihm!

Roxane hatte sich den anderen Spielfrauen angeschlossen. Sie wollten sich noch im Lager unten am Fluss treffen. Aber Staubfinger hatte die samtene Stimme im Kopf, die er zum ersten Mal in einer anderen Welt gehört hatte: Mein schwarzer Hund bewacht deine Tochter, Feuertänzer. Aber ich habe ihm befohlen, sich einstweilen nicht an ihrem süßen Fleisch und ihrer Seele satt zu fressen. Die Schrecken der Vergangenheit waren so viel mächtiger als die feurigen Schatten, die er heute Nacht beschworen hatte.

„Nardo! Kommst du?“ Nyame blickte sich fragend zu ihm um. Dass ihre Vornamen mit demselben Buchstaben begannen, hatten sie in ihrer Jugend beide als Beweis dafür betrachtet, dass ihre Freundschaft vom Schicksal beschlossen war. Warum hatte er Nyame und Roxane bloß nie die Wahrheit gesagt? Über das Buch und die andere Welt, über all die furchtbaren verlorenen Jahre und den Mann, dessen Stimme ihn zurückgebracht hatte? Hatte das Leben ihn nicht oft genug gelehrt, wie einsam Geheimnisse machten?

Du verstehst nicht!, wollte er Nyame zurufen. Es gibt ein Buch, das von uns erzählt. Nur deshalb ist Orpheus in diese Welt gekommen.

Aber Staubfinger schwieg, wie er es all die Jahre seit seiner Rückkehr getan hatte. Der Glasmann musste sich irren. Orpheus war tot. Oder zurück in seiner Welt, wo der Feuertänzer und der Schwarze Prinz bloß die Helden einer erfundenen Geschichte waren.

Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal ein ganzes Buch schreiben würde, das in der Tintenwelt spielt. Kurzgeschichten ...ja, vielleicht. Aber ein ganzes Buch? Es begann dann auch alles mit einer Kurzgeschichte. Ich schrieb etwas über Orpheus — wenn ich mich recht erinnere, für meinen britischen Verleger.

Und als ich die Geschichte fertig hatte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass da wohl Dinge geschehen werden, über die ich werde schreiben müssen.

Dann ...vergaß ich den Gedanken erstmal wieder.

Manchmal braucht es drei Bäche, um einen Fluss zu machen.

Der zweite war die Tatsache, dass ich mehr und mehr illustrierte und die Bilder immer wichtiger wurden. Und ich mich eines Tages fragte, was wohl mächtiger ist: die Bilder oder die Worte.

Der dritte Bach schließlich war vielleicht sogar der mächtigste und tiefste. Seit ich die Tintenbücher schrieb, wollte ich eins über den Schwarzen Prinzen schreiben und über seine Freundschaft mit Staubfinger.

Eines Tages flossen die drei Bäche zusammen und formten einen unwiderstehlich dahin strömenden Fluss. Und "Die Farbe der Rache" schwemmte mich mit sich.

Weitere Teile der »Tintenwelt«-Serie