Die kleine Drachensuche

In Cornelias Buch "Drachenreiter" machen sich der Drache Lung, Koboldmädchen Schwefelfell und Menschenjunge Ben auf die Suche nach dem Ort, von dem angeblich alle Drachen herstammen: dem Saum des Himmels. Wir haben uns auch auf die Suche gemacht: nach den Spuren von Lung

In Cornelias erstem großen Roman, "Drachenreiter", fliegt der junge Silberdrache Lung mit dem Koboldmädchen Schwefelfell zu den höchsten Gipfeln der Welt, zum Saum des Himmels. Sie starten von Schottland, und auf ihrem Weg landen sie in Hamburg zwischen, um jemanden zu treffen, der ihnen wichtige Reiseinformationen liefern könnte.

Und da liegt das Problem: Wo bitte steigt man in Hamburg ab, wo kann man bleiben – wenn man ein Koboldmädchen in Begleitung eines Drachen ist? Sollte man ins erste beste Hotel spazieren und fragen: „Hallo zusammen, haben Sie zwei Einzelzimmer für mich und meinen Kumpel hier?“ Wohl kaum.

Die beiden, heißt es in einem der ersten Kapitel von "Drachenreiter", seien in einer dunklen Ecke der großen Stadt gelandet und Lung schwimme in schmutzigen Kanälen umher, auf der Suche nach einem Versteck, in dem es nicht allzu sehr nach Menschen riecht.

Von Betonmauern ist die Rede, aber auch von spitzgiebligen Häusern aus rotem Backstein. Dort in der Nähe finden sie eine dunkle Luke kurz über der Wasseroberfläche...

Kann sich eigentlich nur um Hafen oder, noch besser, die Hamburger Speicherstadt handeln. Und da doch wohl ein anständiger Drache in Begleitung eines Pilze futternden Koboldmädchens sich dort nicht herumgetrieben haben kann, ohne Spuren zu hinterlassen, haben wir uns aufgemacht, nach diesen Spuren zu suchen. Wo, in welchem Haus, hinter welcher Luke haben Lung und Schwefelfell, Gilbert Grauschwanz und Ben sich aufgehalten?

Wir steigen am Meßberg aus der U-Bahn, die uns zur Speicherstadt gebracht hat. Hier machen wir uns auf die Suche nach Lung, hier irgendwo muss er sich versteckt haben, hier in der Nähe der hohen Backsteinhäuser, die roten Häuser mit den spitzen Giebeln. So steht es beschrieben in "Drachenreiter".

Das Problem ist nur: Hier ist alles voller solcher Häuser, voller alter Speicher, Fleete – also die Kanäle zwischen den Gebäuden – überall sind hier Luken über dem Wasser, Holzklappen, morsche Türen kurz oberhalb des Wasserspiegels. Überall und nirgends, nirgends und überall könnte sich hier ein Drache verstecken oder versteckt haben. Da, wo unter einer Brücke ein Holzpfeiler aus dem Wasser ragt, wird unser Hund vorsichtig, und wir glauben schon die Spuren von Krallen am Holz zu sehen, breit und tief, doch kurz danach sehen wir dort ein Boot anlegen und stellen fest, dass die Macken im Holz mitnichten die Abdrücke von Drachenkrallen sind; sie stammen nur von den Booten, die dort festmachen.

Wir ärgern uns noch, da läuft ein Drache durchs Bild: rot und grün ist er, streckt die Krallen, reißt das Maul auf, und spaziert keine fünf Meter von uns entfernt über das Kopfsteinpflaster; geschlängelt um die Wade eines Bauarbeiters. Ein Bauarbeiter mit Drachentätowierung.

Wenn jemand weiß, wo ein Drache hier rumschwimmen könnte, dann so jemand. Ein Mann, ein Drache, wir sind so von den Socken, dass wir keinen Ton rausbekommen, obwohl uns der Mund offen steht. Wir stehen also da wie angewurzelt, unsere Münder stehen also offen, nur der Mann steht nicht; er verschwindet zu seinen Kollegen in einen VW-Bus mit Pritsche und rauscht davon. Wieder nichts.

Neben der U-Bahn hatten wir ein Schild gefunden: Ziele in der Hamburger Speicherstadt steht drauf. Was hatten wir gehofft?

Nun ja, ein paar Hinweise zumindest, eine Beschreibung des einen oder anderen Gebäudes vielleicht, eine Beschreibung, die passen würde auf das, was wir in Drachenreiter gelesen haben, von schmalen Kanälen, plumpen Brücken, dunklen Ecken.

Ja, alles da, massenhaft, aber: Welches Gebäude, welche Brücke, welche dunkle Ecke? Und auf dem Schild? Nichts weiter als Zahlen, die in roten und blauen Kreisen stehen, Zahlen, die auf Museen verweisen oder Touristeninformationen. “Sag mal“, meint Insa später, “verlieren Drachen eigentlich Schuppen?“ “Du meinst, weil wir dann nach denen Ausschau halten könnten?“ “Genau das meine ich, wäre doch eine Möglichkeit, vielleicht finden wir ja eine Schwanzschuppe oder eine vom Bauch, und die könnte uns doch weiterbringen.“ “Könnte sie. Aber ist Lung nicht durch die Kanäle geschwommen? Hat er sich nicht im Schutz des trüben Wassers bewegt? Ich meine schon, und das macht die Sache schwierig.“, sagt Micha.

Es ist nichts darüber bekannt, ob Drachenschuppen auf dem Wasser schwimmen oder ob sie untergehen. Wenn sie zum Grund sinken, werden wir nie auf eine Schuppe von Lung stoßen, da können wir stundenlang aufs Wasser starren, klar. Doch selbst wenn die Schuppen an der Oberfläche trieben, es wäre unmöglich, sie in dem silbernen Glitzern und Schimmern zu entdecken.

Es hilft nichts, wir müssen fragen. Aber wen? Der Bauarbeiter war schneller weg als wir ihn entdeckt haben, und sonst wimmelt es hier mittlerweile von Designern, Rechtsanwälten, Teppichhändlern. Und Touristen. Denn die alten Gebäude sind seit einer Weile schon schwer angesagt, sie dienen als Büros für Unternehmen und Agenturen, als Räumlichkeiten für Ausstellungen und Museen. Glauben Designer, Rechtsanwälte, Touristen an Drachen?

Kennen sie sich hier zwischen den Speichern überhaupt gut genug aus? Kennen sie die geeigneten Winkel, in denen sich ein tageslichtscheues Wesen wie Lung verstecken kann? Vielleicht sind die Menschen aber auch gar nicht die richtigen Wegweiser. Vielleicht sollten wir lieber eine Speicherstadtmöwe fragen. Oder eine Wasserratte. Fänden wir eine silberne Schuppe, dann könnten wir sie auch unserem Hund vor die Nase halten und ihm auf der Drachenspur folgen. Nur: Die Spur müssten wir erst mal haben.

Lung stemmte sich aus dem Wasser, schüttelte sich und zwängte seinen schuppigen Leib durch die Luke. Neugierig sah er sich in dem Menschenhaus um.

Ziemlich planlos irren wir zwischen den Backsteinspeichern umher, bis Velos plötzlich die Nase auf den Boden senkt, nein, er senkt sie nicht, er klebt sie aufs Pflaster und zieht uns rüber zu einer Tür, wo er aufgeregt schnüffelt.

Hier? Riecht er was? Hat er was? Ja! Aber leider nur die Marke eines Kollegen neben der Tür des Speicherstadtmuseums in der Nase.

Wir sind erst ein bisschen enttäuscht, aber wer weiß, ob sie uns im Museum nicht helfen können. Immerhin sollten die sich mit der Speicherstadt doch auskennen. Über ausgetretene Treppenstufen führt uns das Stiegenhaus hoch zum Museum. Wo wir kurz darauf gespannt vor einem Stapel Jutesäcken stehen, Säcke mit Kaffee, Kakao und exotischen Harzbrocken. Doch nicht der Inhalt versetzt uns in Spannung; es sind die Löcher in den Säcken, Löcher und Risse, die aussehen, als hätten scharfe Klauen sie in den groben Stoff geschlagen. Und Klauen waren es tatsächlich, nur nicht die eines Drachen, sondern die der Lagerarbeiter. Mit Metallhaken – Griepen – schlugen sie früher in die prall gefüllten, schweren Säcke, die sie anders nicht hätten zu fassen bekommen. So wenig wie wir Lung und Ben und Schwefelfell.

“Sie hätte das ruhig alles ein bisschen genauer beschreiben können, deine Schwester“, grummelt Micha, denn langsam verlieren wir die Hoffnung und werden ungeduldig. Die einzigen Schuppen, die wir im Museum dann doch entdecken, sehen wir auf einem der alten Fotos: Schuppen, so hießen die offenen Kähne, die zum Ende des 19. Jahrhunderts beim Ausbau des Hafens über die Kanäle schipperten.

“Drache? Gesprengte Fabrik?“, überlegt Museumsmitarbeiter Peter. “Eine Fabrik gab es hier eigentlich nie, das waren alles nur Lagerhäuser, in denen es ganz ähnlich aussah wie hier im Museum.“ Wir suchen ein Versteck, wo sich ein Drache durch eine Luke in einen Keller hätte schlängeln können, erklären wir ihm, und das Ganze sollte hier in der Speicherstadt oder im Umkreis von zehn Minuten gewesen sein.

“Das einzige, was mir da einfällt, ist das Kesselhaus. Das sieht anders aus, weil es nämlich kein Speicher war. Wenn man so will, doch, dann war das eine Art Fabrik. Man hat dort den Dampf erzeugt für die Kräne der umliegenden Speicher.“ Peter beschreibt uns den Weg. Keine fünf Minuten zu Fuß. Vielleicht haben die Menschen die Fabrik damals ja doch nicht gesprengt, als sie dort plötzlich Lung gegenüber standen und er ihnen sein blaues Feuer entgegenspuckte. Vielleicht haben sie sich nicht getraut zurückzukommen.

Hinter dem alten Kesselhaus, von dem Peter erzählt hat, es sieht tatsächlich ganz anders aus mit seinen hoch aufragenden Schornsteinen, treffen wir Ernesto. Ernesto ist arg verschlafen und zunächst mürrisch.

“Was glaubt ihr?“, entgegnet er auf unsere Frage nach dem Drachen, “dass ich hier ruhig schlafen würde, wenn so ein riesiges Biest durch den Kanal geschwommen kommt? Mir reichen schon die ganzen Ausflugsboote.“ Und Ratte? “Wie, Ratte, ich bin eine Ente, Leute, eine Ente, und mit Ratten habe ich nichts am Hut. Ohnehin, wenn ihr hier Ratten finden wollt, seid ihr ’n büschen (Ernesto spricht Hamburgisch und meint: ein bisschen) spät dran, längst weg hier die Ratten.“ Dann zieht Ernesto die Ente kurz den Schnabel durchs Wasser, nimmt ein paar Schritte Anlauf und fliegt Richtung Elbe.

Velos, unser Hund, blickt dem Federvieh begehrlich hinterher. Den ganzen Tag schon haben wir den Eindruck, er konzentriert sich gar nicht richtig, ihm wäre es viel lieber, so eine Ente zu erwischen oder eine Taube. Da schlägt das Wasser an die bemoosten Backsteinmauern gegenüber. Wellen, und zwar große. Lung? Wären es nicht genau solche Wellen, wenn ein junger Silberdrache durch den Kanal schwimmt? Zacken? Schuppen? Ein Horn? Ein leuchtendes Auge?

Nichts, das leuchtende Auge ist die Laterne eines Ausflugsbootes, das unter der nächsten Brücke verschwindet. Anhand der Brücken hatten wir anfangs gehofft, Lungs Weg durch die Kanäle nachverfolgen zu können. Von einer großen Weide war die Rede gewesen in Drachenreiter, einer Weide, deren Zweige auf dem Wasser treiben, und von einer Brücke, die sich gleich bei dieser Weide über den Fluss schwingt, breit und klobig. Doch keine der Brücken sieht für unser Empfinden breit und klobig aus, und was noch viel enttäuschender ist: Hier finden wir nicht mal ein Gestrüpp unter den Brücken, geschweige denn eine Weide.

“Ratte hat gesagt, es ist der letzte Speicher vor dem Fluss“, raunte Schwefelfell. “Ihr Vetter wohnt im Keller.“

Und im Kesselhaus? Finden wir das schick aufgemachte Infocenter der Hafencity. Dunkle, glänzende Fliesen und viel Glas. In der Mitte des großen Raumes steht ein Modell der Speicherstadt und des Hafens, das zeigt, wie das Gebiet mit teuren Appartementhäusern neu bebaut werden soll. Aus Pappe und Holz gefertigt ist das Modell und fünfhundert Mal kleiner als die Wirklichkeit.

So sehen wir die Kanäle, wie sie sich zwischen den schlanken Speicherhäusern entlang ziehen und verzweigen, sehen jede einzelne Brücke, sehen den letzten Speicher vor dem Fluss, wo Rattes Vetter im Keller wohnen soll. Nur, aus dem Speicher bauen sie gerade die Elbphilharmonie, eine Konzerthalle, die 2012 fertig sein soll, und das ist dann sicher keine gemütliche Kellerwohnung mehr, nicht mal für Gilbert Grauschwanz. Genau so wenig hat dieses Kesselhaus noch mit einer Fabrik zu tun. Es gibt nicht mal mehr eine Treppe, die runter führt in den Keller. Wir suchen in Nischen und hinter Wänden, doch dabei erschrecken wir nur eine Frau, die von der Toilette kommt, als wir gerade den Kopf um die Ecke stecken. Sie findet Velos ganz entzückend, also fassen wir uns ein Herz und fragen sie einfach mal. “Einen Drachen?“ Sie sagt gar nicht mehr als das. Alles andere sagt ihr Gesicht. Sie denkt, wir sind nicht ganz gesund. Kopfschüttelnd lässt sie uns stehen. Vielleicht hat sie ja ganz Recht. Vielleicht fauchen und fliegen und schwimmen Drachen wirklich nur in unserer Fantasie und die ganze Suche war von Anfang an eine dumme Idee. Wie aber hätte Cornelia Lungs Geschichte erzählen können, wenn es ihn nicht gäbe, ihn und Schwefelfell und Ben? Soll also das das Ende sein, das Ende unserer Suche?

“Die Menschen kommen! Sie haben ihre Maschinen geweckt, sie gefüttert und auf den Weg gebracht ... irgendwann sind sie hier, denn ihr Ziel ist euer Tal.“

Mit einer lausigen Laune schlurfen wir vom Kesselhaus weg, überqueren die Straße und suchen ein Plätzchen um zu überlegen, wie und ob wir überhaupt weitermachen. Nicht weit von uns sitzen zwei Männer von der Hafenmeisterei Sandtorhafen und rauchen. Die haben die Kanäle hier doch eigentlich immer gut im Blick. Vielleicht haben sie ja zwischen all den Booten auch mal eine Drachennase an der Wasseroberfläche gesehen?

“Nein,“ meint Detlef, der eine von den beiden, “keine Drachennasen.“ Was er uns erzählen kann dreht sich um die Geschichte der Speicherstadt, dass dort einmal entlang enger Gassen alte Fachwerkhäuser standen, dass dort 20000 Menschen ein Zuhause hatten, aber umgesiedelt wurden, um dem Freihafen und den Speicherhäusern Platz zu machen – erinnert ja fast schon an die Drachen, die man aus ihrem Tal vertrieben hat... “Ich an eurer Stelle“, sagt er, pustet den Rauch seiner Zigarette in den Wind und zeigt zur Elbe, “würde mal zu den Landungsbrücken gehen und einen der Barkassenkapitäne fragen.“

Das machen wir. Unseren Barkassenkapitän treffen wir kurz nachdem wir die Niederbaumbrücke überquert haben. Er trägt ein blütenweißes Hemd und eine ebensolche Mütze auf dem Kopf, eine Kapitänsmütze, keine Frage.

Er heiße Pit, sagt er, und dass er gar kein Barkassenkapitän sei.

Und in der Speicherstadt kenne er sich auch nicht aus, aber “ein Drache in den Kanälen, ja, das ist ein schöner Gedanke, der gefällt mir.“? Uns gefällt er auch, aber wir wollen nicht daran glauben, dass es nur ein Gedanke ist. Es fängt an zu nieseln und durch den feinen Regenschleier sehen wir die Industrieanlagen auf der anderen Elbseite.

Jan Weitendorf, ein Freund von Cornelia, hatte uns schon den Tipp gegeben, durch den alten Elbtunnel zu gehen, wenn wir eine Fabrik finden wollten, wie sie im Buch beschrieben ist. Auf halber Strecke, wir stehen mitten im Tunnel, 23 Meter unter der Erde, über uns zwölf Meter hoch das Wasser, sehen wir auf die Uhr.

Das kann nicht stimmen. Noch weitere 200 Meter Tunnelröhre liegen vor uns und schon jetzt laufen wir von der Speicherstadt aus weit mehr als zehn Minuten. Doch genau das hatte Ben Lung und Schwefelfell erzählt: “wo die Hafenspeicher stehen, keine zehn Minuten zu Fuß von hier.“ So sagt er das den beiden. Und entweder er hat sich gewaltig vertan mit der Entfernung. Doch wieso sollte er, er kennt den Weg. Oder, und der Verdacht erhärtet sich immer mehr, Cornelia hat absichtlich eine falsche Spur gelegt, falsche Angaben gemacht, um uns alle in die Irre zu treiben. Um uns nicht dort suchen zu lassen, wo Lung vielleicht tatsächlich Unterschlupf gesucht hat. In ganz Hamburg wimmelt es von Kanälen.

Und, das ist kein Witz, in der Stadt gibt es mehr Brücken als in Venedig und Amsterdam zusammen. Außerdem: ist es nicht gerade der Sinn eines Verstecks, dass es nicht entdeckt wird? Und der Mensch hat doch schon viel zu viele Verstecke entdeckt, die besser unentdeckt geblieben wären.

Insofern ist es nicht schlimm, die Suche abzubrechen. Insofern ist es sogar viel schöner daran zu glauben, dass die Drachen in Hamburg nach wie vor eine sichere Zwischenstation haben auf ihrem Weg zum Saum des Himmels.

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