Schweine, Engel und Piraten: Eine Bilderbuchgeschichte

Kerstin Meyer ist Illustratorin. Sie hat schon viele Bücher von Cornelia illustriert, und mit ihren Bildern trifft sie ganz wunderbar den Ton der Geschichten. Wir haben Kerstin im Sommer 2016 in ihrem Atelier in Hamburg-Altona besucht.

In einem Hinterhof in Hamburg Altona. Aus einem der Fenster des alten Schulgebäudes schwappt kerniges Gelächter nach draußen in die warme Herbstluft. Oben im Atelier von Kerstin Meyer sitzen sie mit ihren schmuddeligen Piratenhosen auf dem weißen Sofa und haben sich über die portugiesischen Törtchen hergemacht. In ihren struppigen Bärten hängt noch der Zucker vom süßen Gebäck, das eigentlich unser Frühstück sein sollte.

Bis auf den letzten Krümel sind die Törtchen mittlerweile weggefuttert. Die kugelrunden Bäuche vollgeschlagen liegen sie alle kreuz und quer auf und über dem Sofa und fangen furchtbar an zu schnarchen: Käpten Knitterbart, der Fiese Freddy, Harald die Holzhand und der Bucklige Bill. Jule nutzt die Gelegenheit, schleicht sich vorsichtig an den stinkenden Piraten vorbei und legt sich unter dem Zeichentisch auf Kerstins Füße.

So kann man sich das vorstellen in Kerstins Atelier. "Eins von den Schweinen, das wäre bestimmt ein nettes Haustier", meint sie. "Die sind ja auch so intelligent." Oh ja, dem Piratenschwein Jule würde man gerne mal über den Rüssel streicheln. Kerstins Figuren sind so charmant und so präsent, dass man sich wirklich vorstellen kann, sie würden hin und wieder mal aus den Seiten kriechen und bei Kerstin im Atelier einen Kaffee trinken. Oder Kakao. Dass sie so lebendig wirken hat bestimmt auch damit zu tun, dass Kerstin früher mal für Trickfilme gezeichnet hat. "Mein Denken ist filmisch.

Ich stelle mir die Figuren auch immer gleich in Bewegung vor. Vielleicht haben manche von Euch ein Buch von Cornelia und Kerstin im Regal stehen: Das Piratenschwein, Käpten Knitterbart, Prinzessin Isabella, Emma und der Blaue Dschinn, Der geheimnisvolle Ritter Namenlos, Der verlorene Wackelzahn, Der Wildeste Bruder der Welt und zuletzt Der verlorene Engel, Cornelias Liebeserklärung an Los Angeles. Kerstin ist dafür sogar nach Kalifornien geflogen, um einen Eindruck zu bekommen und viele Bilder im Kopf mit nach Hause zu nehmen. Für den Engel gab es keinerlei Vorgaben vom Verlag. Sie hatte alle Freiheiten und konnte drauf los arbeiten.

Zwischen den Farbtöpfchen und Pinseln auf Kerstins Arbeitstisch raschelt es. Ein kleiner, durchsichtiger Schutzengel versucht verzweifelt, sich einen Tuschefleck aus dem Flügel zu reiben und schaut ärgerlich zu uns rüber.

Ihr Handwerk hat Kerstin an derselben Schule erlernt wie Cornelia: an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Beide haben dort Illustration studiert. Und wie geht es dann weiter? "Los geht es damit, dass man sich auf Buchmessen zeigt und sich bewirbt. Dann nehmen die Verlage einen in ein Archiv auf. Wenn man das erste Buch illustriert hat, dann wird es leichter, denn dann trauen sich auch andere Verlage, einen zu veröffentlichen."

Das Schnarchen auf dem Sofa geht über in ein Pfeifen und Schmatzen und Jule versucht erfolglos, sich mit den kurzen Beinen die Ohren zuzuhalten.

Es gibt eine Wand in Kerstins Atelier, an der jede Menge Tiere hängen. Eisbären, Wale, ein Eichhörnchen mit einer dicken Brille und einem ziemlich grimmigen Blick, und ein netter, kleiner, weißer Hund. "Den kenne ich wirklich", sagt Kerstin. "Und wenn ich ein Tier wirklich kenne, dann fällt die Figur, die daraus entsteht, auch viel leichter. In den Buchillustrationen tummeln sie sich und tauchen überall in kleinen, zärtlich-komischen Szenen auf. "Als Vorlage habe ich ein altes Biobuch von meinem Vater, noch mit Kupferstichen. Und auch moderne Tierbücher mit farbigen Illustrationen. Dann war ich aber auch mal selbst in Afrika auf Safari und habe so einen Elefanten direkt neben meinem Auto stehen und atmen und stinken gehabt. Das ist schon toll, wenn ich Tiere wirklich erlebe."

Auf der Fensterbank bewegt sich was. Beobachten uns da zwei Meerschweine hinter dem Blumentopf?

Was für eine Bedeutung haben Tiere in Deinem Leben und in Deinen Bildern?

"Also ich hatte mal eine Katze und mit der habe ich mich auch sehr gut verstanden. Dann hatte ich eigentlich sehr lange gar nichts mit Tieren zu tun. Vor Hunden hatte ich sogar ein bisschen Angst. Bis ich den netten, kleinen, weißen Hund kennengelernt habe und merkte, dass es, wenn er knurrt, nicht gleich heißt, dass er böse ist, sondern dass er nur so erscheinen will, obwohl er eigentlich ein Angsthase ist. Und so etwas dann in die Bilder reinzubringen, zu versuchen, dieses Verhalten zu verstehen und auch einen Witz darin zu erkennen, das macht mir Spaß. Allein die Tatsache, dass wir den Tieren oft menschliche Züge andichten, finde ich schon lustig. Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass sie so komisch sind in den Illustrationen." Dort streunt eine Piratenkatze mit Augenklappe an Deck umher, Sanitäter-Meerschweinchen fahren mit ihrem Krankenwagen durchs Kinderzimmer-Durcheinander, ein Elefant hängt seinen Rüssel in ein Tässchen Tee, und ein paar Schweine geben sich im Stall der Lektüre hin. "Ich kann mir schön kleine Geschichtchen für diese neutralen Wesen erfinden, die ja in den Texten nicht näher beschrieben sind. Da kann ich mich austoben, ich kann machen was ich will."

Und weil wir so einen Spaß mit ihren Tierfiguren haben, ist uns auch gleich eine klitzekleine Tiergeschichte eingefallen, die wir Kerstin zum Illustrieren mitgebracht haben. Da liegt sie jetzt auf Kerstins Zeichentisch und wartet auf ein Bild.

Hund sitzt auf dem Hügel und wartet auf Katze. Katze ist mal wieder zu spät. Irgendwann wird's Hund zu bunt und er fängt an, den Picknickkorb auszupacken. Mist! Katze hat wieder nur gegrillte Mäuse reingelegt. "Dann geh ich jetzt halt zu Ente", sagt sich Hund. "Da gibt es ordentlich Fisch." Ente sitzt mit Katze am Fluss und isst Forelle. "Blödes Katzenvieh!", denkt Hund, geht nach Hause und macht sich ein Käsebrot.

Kerstin denkt nach, schaut auf das leere Blatt vor sich. Still sitzt sie da, ein bisschen schief auf ihrem Drehstuhl, rückt vor und zurück, zur Seite, legt den Kopf schräg, hält inne, geht mit dem Stift über dem Bild spazieren. "Manchmal muss man ein bisschen graben, bis die Bilder kommen", sagt sie. "Oft ist es auch ein Angehen gegen die alten Gewohnheiten und gegen das, was man kennt, was leicht von der Hand geht.

Da hilft es zum Beispiel, wenn ich einfach mal mit der linken Hand zeichne, anstatt mit der gewohnten rechten. So geht man automatisch auch im Kopf in eine andere Richtung. Es fühlt sich anders an und das andere Anfühlen bringt andere Ideen, andere Gedanken. Dieses Forschende, diesen Zustand beim Zeichnen mag ich." Ein letztes kurzes Grübeln noch, dann setzt sie den Bleistift aufs Papier und fängt an. Auf dem Blatt wächst der Hund mit dem Picknickkorb. Nein. Anders. Noch mal von vorn. Radieren. Neuer Entwurf.

Okay, Kerstin, Du hast den Text, Du hast eine Idee, dann machst Du eine Skizze mit Bleistift ... " Ja, ich hatte anfangs eine andere Idee — die Geschichte nachzuerzählen wie in einem Comic. Aber dann hab ich mich umentschieden, nämlich das Ganze eher rückblickend, zusammenfassend zu erzählen."

Sie sagt tatsächlich "erzählen".

Und das ist es, was sie macht: sie erzählt in Bildern. Sie nimmt nicht allein Figuren aus der Geschichte und zeichnet sie auf. Denn das ist Illustrieren: über die Wörter der Geschichte hinaus in Bildern zu erzählen.

Langsam, Strich für Strich, bekommt unser Hund ein Gesicht. Ein bisschen enttäuscht, ein bisschen beleidigt, aber auch ein bisschen traurig sitzt er da, den Kopf in die Pfote gestützt. Er hat Katze im Kopf, wie sie satt und zufrieden den letzten Rest Fisch von den Gräten lutscht. Blödes Katzenvieh!

Hast Du eigentlich schon als Kind gemalt und gezeichnet wie verrückt? "Ich erinnere mich, dass wir im Religionsunterricht oft Geschichten erzählt bekamen und dazu durften wir dann Bilder malen. Ich habe das Blatt immer bis auf den letzten Quadratmillimeter vollgemalt. Mein Vater hat mir auch eine ganze Menge gezeigt, zum Beispiel, wie man Figuren zeichnet, auch realistisch. Er kann sehr gut zeichnen, mein Vater."

In einer Ecke des Ateliers steht ein Leuchttisch. Das ist ein Tisch mit einer von unten beleuchteten Milchglasplatte. Und auf der platziert Kerstin die Skizze, die sie soeben gezeichnet hat. Das Licht strahlt durch das einfache Skizzenpapier und so kann Kerstin die Hund-Katze-Zeichnung auf ein besseres Papier übertragen, auf dem sie später dann auch mit Farbe arbeiten wird.

Dann geht es zurück an den Arbeitstisch, wo leere Joghurtbecher und Kaffeedosen die vielen Pinsel und Federn halten. Da liegen vier Äpfel, gelb und rot und mit vielen Macken. Ein dunkelroter Bleistiftspitzer, Federn aus Metall und Holz, Tuschetiegelchen und Zeichenpapier. "Am liebsten arbeite ich mit Pigmenttuschen, da ist unglaublich viel Farbe drin, man muss ganz vorsichtig mischen. Getrocknet sind sie wasserfest, das heißt, ich kann ganz viele durchscheinende Schichten übereinander malen." Dem Hund wächst mit jedem Pinselstrich das braune Tusche-Fell. Ein Schatten fällt über sein Gesicht und Katze thront in seiner Gedankenblase, eingepackt in bunte Farben, satt und zufrieden.

So entsteht also ein Bild zu einer Geschichte: Zuerst ist da der Text, dann lässt Kerstin die Atmosphäre, die Stimmung der Geschichte sich ausbreiten, reitet selbst mal wie ein Wildfang mit Lanze und Rüstung über den Turnierplatz. Und dann legt sie eben nicht einfach los mit der ersten Idee, sondern überlegt und probiert, welchen Augenblick sie zeigen will und welches Bild wohl die beste Wirkung hat. Zum Beispiel, wie groß das Monster sein muss, damit es noch irgendwie Angst einflößend aussieht, man sich aber gleichzeitig noch darüber lustig machen kann. Das muss man ausprobieren als Illustrator — im Kopf und auf dem Papier.

Der kleine Engel schwebt runter zu den Piratenfüßen. Der Tuschefleck geht nicht raus aus seinem Flügel. Und dann noch diese Schnarcherei. Frustriert tritt er Knitterbart vors Schienbein. Der merkt nicht mal was und grunzt zufrieden in seinem Mittagsschlaf.

Das Illustrieren ist aber nicht nur kreative Arbeit mit Bleistift, Feder und Farbe. Wenn ein ganzes Buch illustriert werden soll, überlegt sich Kerstin zuerst ein Konzept. Dafür sitzt sie oft am Computer und bastelt die Skizzen in die richtige Größe und die richtige Reihenfolge. "Da kann es sein, dass ich drei Wochen nur am Rechner hocke, schon gar keine Lust mehr habe und nicht weiß, wofür dieser Beruf überhaupt gut ist. So frustriert denke ich mir manchmal: Mach halt erst nen Farbentwurf. Irgendwann kommt dabei der Spaß wieder, weil ich merke, dass es mir einfach gefehlt hat, mit Farbe zu arbeiten, den Pinsel in der Hand zu halten und auf Papier zu malen."

Kurz gluckert und plätschert das Wasser im Topf, als sie den Pinsel eintaucht, um die Tusche auszuwaschen, abzustreifen am Rand und in der Porzellan-Palette die im Pinsel verbliebene Farbe zu mischen — braun, gelb, rotbraun: der Hundepelz.

Um die wilde Katze herum lässt Kerstins Pinsel noch ein paar wilde Farben laufen, dann ist unser Bild fertig. Normalerweise wird es jetzt an die Bilderwand gehängt, die Lektoren kommen und sagen, was Kerstin vielleicht noch ändern soll. Aber wir waren ja vom ersten Bleistiftstrich an dabei.

Zeit zu gehen, denn die Piratenbande wird wach. Jule kriecht wieder in ihre Atelierecke und der Engel schrubbt weiter mit zornig-rotem Kopf seinen Flügel. Schön war's im Atelier und wir freuen uns auf all die neuen Illustrationen, die dort in Zukunft entstehen werden. Dankeschön, Kerstin, für Kaffee, Natas (die portugiesischen Törtchen), viele, viele Antworten und natürlich für "unser Bild".

Text: Insa Funke und Michael Orth, Fotos: Michael Orth, Illustrationen: Kerstin Meyer

Zu dieser Geschichte gibt es 2 Kommentare

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Josephine – 12. Dezember 2022

Es ist wunderbar, Geschichten von dir zu lesen.

Marú – 6. Juni 2022

Ich fand diese Geschichte gemeinsam mit "Magische Bildermacher am besten" weil ich auch mal Illustratorin werden will und dann ist es erst Recht spannend, Tips und Inspiration zu finden. Vielen Dank für alles, Marú