"Das ist hier eine andere Welt"
Im Interview erzählt die Geophysikerin Alicia Rohnacher von ihrem Forscherleben in der Antarktis, neugierigen Pinguinen, dem Kofferpacken für eine Überwinterung an einem der kältesten Orte der Erde, die letzten Tomaten auf dem Teller, den vielen Farben im ewigen Eis, Polarlichtern und singenden Eisbergen.
25. Mai 2022
Hallo Alicia, guten Morgen. Es sieht alles ziemlich technisch, ziemlich wissenschaftlich aus hinter deinem Rücken.
Ja, ich habe mich für unser Skype-Gespräch ins Labor begeben. Ich wollte nicht in meinem Zimmer skypen, falls noch jemand nebenan schläft.
Wie kalt ist es gerade bei euch da draußen? Und wie warm hast du es dort, wo du sitzt?
Bei mir hier drin haben wir angenehme 20 Grad. Das ist unsere Durchschnittstemperatur. Und draußen — ich muss gestehen, ich hab’ heute Morgen noch nicht aufs Thermometer geschaut. Aber gestern hatten wir -25 Grad.
Oh, das ist ja recht mild für die Antarktis, oder?
Es kann sogar sein, dass es heute noch milder ist, denn immer wenn wir ein Sturmtief haben, ist der Himmel bedeckt, und es wird wärmer. Und dann kann es auch sein, dass wir nur -16 oder -18 Grad haben. Aber gerade vor zwei Tagen, als es ganz klar war, hatten wir -35 Grad.
Es ist Mittwoch, 10 Uhr. Was machst du normalerweise um diese Zeit?
Bei uns ist es gerade 8 Uhr, zwei Stunden Zeitunterschied zu Deutschland. Was würde ich jetzt tun? Ich würde wahrscheinlich gerade frühstücken. Davor schaue ich meist kurz im Büro, ob alle Instrumente laufen oder irgendetwas ausgefallen ist. Wir haben ganz viele Monitore, die uns zeigen, dass Daten ankommen. Man fiebert hier ja mit und möchte, dass alles läuft. Deshalb guckt man nach dem Aufstehen als allererstes, ob alles funktioniert. Dann checke ich kurz die Emails, und danach würde ich mit der Routine anfangen. Das ändert sich immer ein bisschen, weil ich mich mit meiner Geophysik-Kollegin Benita abwechsle, damit wir nicht jeden Tag dieselben Abläufe haben. Heute hätte ich mir zum Beispiel die Erdbeben-Daten angeschaut. Wir messen die Erschütterungen im Boden an verschiedenen Stellen. Ich würde mir heute die Daten von gestern ansehen. Ich schaue mir an, wann Erdbeben stattfanden, lokalisiere sie, bestimme, in welcher Tiefe sie auftraten, solche Sachen.
Wo Erdbeben in eurer Gegend oder wo Erdbeben weltweit gerade auftreten?
Wir können tatsächlich Erdbeben auf der ganzen Welt messen, wenn sie groß genug sind. Wir messen zum Beispiel auch Erdbeben in Japan oder Fidschi. Quasi vor unserer Haustür sind die South Sandwich Islands, ein sehr aktives Erdbebengebiet. Bei diesen großen Beben ist es natürlich so, dass sie auch schon von anderen Forschungsinstituten detektiert wurden. Aber wir hier finden auch Erdbeben, die nicht in den Katalogen sind, die sonst "verloren" gehen würden. Und das sind eben teilweise die Fidschi- und South Sandwich- Beben. Da sehen wir ganz viele, die von großen, globalen Netzwerken übersehen würden, weil die Beben einfach zu klein sind.
Lass uns später noch mal detaillierter auf deine spannende Arbeit zurückkommen. Gibt es denn überhaupt einen antarktischen Alltag? Und fühlt der sich auch an wie Alltag, selbst wenn man in der Antarktis sitzt?
Was mich wundert, ist, wie schnell man sich daran gewöhnt. Am Anfang war alles neu und man konnte kaum begreifen, was so passiert ist. Aber jetzt hat sich alles eingespielt. Aufstehen, frühstücken, ins Büro gehen, selbst wenn sich das dann eben einfach nur einmal über den Gang befindet, ist es wie zu Hause. Und es gab tatsächlich Tage, wo ich keinen Schritt raus gegangen bin, weil so viel zu tun war. Aber das ist zum Glück selten, Wir haben doch oft noch Zusatzprojekte, oder fahren zu Mess-Stationen, um Daten abzuholen oder Instrumente zu reparieren. Aber Markus zum Beispiel, unser Meteorologe, hat tatsächlich einen durchgetakteten Zeitplan und beobachtet alle drei Stunden das Wetter. Abends übernimmt das dann unser Luftchemiker. Das ist schon ein strafferer Ablauf als bei uns anderen. Was bei uns allen aber gleich ist: Wir treffen uns zum Abendessen und sitzen gemütlich zusammen.
Und gibt es ein Wochenende?
Es gibt auf jeden Fall sieben Tage die Woche etwas zu tun. Aber wir versuchen, mindestens einen Tag oder einen Nachmittag weniger zu machen, nur das Allernötigste zu erledigen. Dann nehmen wir uns die Zeit und fahren zum Beispiel zu den Pinguinen raus.
Du überwinterst mit acht Kollegen auf einer Forschungsstation im ewigen Eis. Warum macht man denn so etwas? Was reizt dich an diesem Projekt?
Ich glaube, für mich war es zum einen dieser besondere Ort: die Antarktis. Das ist eine ganz andere Welt. Durch mein Studium der Geophysik konnte ich schon an vielen verschiedenen Orten auf der Welt draußen messen. Es ist spannend, wenn man selbst die Messwerte erhebt und vor Ort sein kann. Aber die Antarktis ist noch mal etwas ganz, ganz Anderes, Neues. Denn zusätzlich zu dem wissenschaftlichen Aspekt ist da das Zusammenleben mit acht Menschen in der Station. Man lebt ein ganzes Jahr miteinander, ist nur auf sich gestellt und macht etwas Gutes daraus: dieses gemeinsame Projekt. Das kann natürlich auch in die Hose gehen. Man kennt sich ja nicht. Der erste August 2021 war der Tag, an dem wir uns alle zum ersten Mal gesehen haben. In Bremerhaven. Alle waren wir riesig aufgeregt. Man hatte ja keine Ahnung, wer kommt. Und ich habe einfach das Glück, dass es nicht hätte besser laufen können. Ich bin so happy mit dem Team.
In eurem wunderschönen Blog ist zu lesen, wie die Ankunft und das Kennenlernen und die Vorbereitungszeit in den WGs in Bremerhaven gelaufen ist. Das war ja schon ein Abenteuer für sich. Es ist doch bestimmt ein bisschen so, als wenn man danach zusammen ins All geschossen wird, oder?
Ich glaube tatsächlich, dass man von der ISS schneller weg kommt als von hier. (lacht) Wir haben hier auch eine medizinische Studie laufen, die sich anschaut, was in der Isolation mit uns passiert. Wir können aber natürlich raus, an die Luft. Es ist nicht so eingeengt wie auf der ISS.
Fühlt es sich für euch an, als würdet ihr am Ende der Welt sitzen?
Gute Frage. Ja und nein. Dadurch, dass wir super einfach über What’s App oder andere Messenger mit zu Hause kommunizieren können, ist man sich teilweise sehr nah. Aber was die Geschehnisse angeht, ist man teilweise auch sehr weit weg. Wir sind ja letztendlich aus einer ganz anderen Welt hierher gekommen. Man bekommt natürlich weiter über die Nachrichten alles mit, aber es fühlt sich trotzdem so an, als sei da eine riesige Distanz. Und es ist auch ein bisschen surreal. Wir haben unseren Alltag, andere wichtige Aufgaben, die hier für uns gerade super direkt sind. Das ist voll schön. Wenn man zu Hause ist, dann muss man irgendwelchen Bürokratenkram machen. Und hier sagt man: "Ok, wir müssen jetzt die nächste Mess-Station aufbauen." Man geht raus, ist viel zielstrebiger. Oder wenn irgendetwas kaputt gegangen ist, dann muss es halt auf jeden Fall jetzt repariert werden. Es ist alles viel direkter.
Tut es gut, weil du sagst, es ist viel fokussierter dort? Ist es auch eine Form von Runterkommen, Entspannung, zu sich kommen?
Es ist sicherlich für jeden ein bisschen anders, aber ich finde es schon ganz cool, weil man seine To Dos abarbeiten kann, und weil man immer wieder draußen sein kann. Wir bewegen uns in einem genau definierten Rahmen, aber man hat viel Freiheit, in diesem Rahmen etwas zu gestalten. Man hat eben nicht die Wahl zwischen zwanzigtausend Dingen, sondern nur zwischen fünf. Man hat quasi die Freiheit im Kleinen.
Gibt es Langeweile?
Nicht wirklich. (lacht) Einmal, weil einfach so viel zu tun ist. Aufregend ist es auch immer, wenn wir zu einer Außenstation fahren. Dort stehen zum Beispiel Messinstrumente, bei denen die Batterien zu wechseln sind und etwas an der Konfiguration geändert werden muss. Das ist immer ein bisschen heikel, denn man muss einen Laptop anschließen, und beim Bedienen des Laptops bei minus 30 Grad werden die Finger doch schnell kalt. Das Gute aber ist, dass man auch ein paar Kabel aus dem Schnee graben muss. Dabei wird meist allen wieder warm. Wenn man wirklich mal keine Lust hat, etwas zu arbeiten, dann kommt trotzdem keine Langeweile auf. Man kann bei den anderen vorbeischauen oder ein Buch lesen. Manchmal schauen wir abends einen Film oder spielen Billard, oder es stehen die Vorbereitungen für den nächsten Geburtstag an.
Kannst du beschreiben, wie es aussieht auf eurer Station? Stellt man sich das vor wie in einem Schiffscontainer — sehr nüchtern, sehr technisch? Oder ist es eher wie ein normales Institutsgebäude, so dass man gar nicht merkt, dass man auf einer Antarktis-Forschungsstation ist?
Ich finde, es sieht aus wie eine Mischung aus Jugendherberge und Forschungsstation. Es gibt hier diesen lustigen, blauen Kunststoffboden, in dem so kleine Knöpfe hochstehen. Diese Hubbel, die man, glaube ich, auch in Kindergärten hat. Die Lounge, die wir haben, ist supergemütlich. Weil die Station von einer Reederei betrieben wird, sind bei uns alle Begriffe aus dem Schiffsjargon. Wir haben die Messe, nicht das Esszimmer, wir haben verschiedene Decks und keine Stockwerke, und auch die Windgeschwindigkeit wird immer in Knoten angegeben. Das heißt, wir sind sozusagen unser eigenes kleines Schiff. Die Station steht auf Stelzen. In der Mitte befinden sich die Wohn- und Arbeitsraum-Container. Und außen herum gibt es noch mal eine Hülle von circa zwei Metern. Das schafft eine Luftisolierung, damit es nicht so ganz kalt wird. Den Wohncontainern sieht man eigentlich nicht an, dass es Container sind. Sie sehen aus wie normale Büros.
Und eure Zimmer? Könnt ihr euch das gemütlich machen dort, bringt ihr euch persönliche Dinge mit — ein Kuschelkissen, Bilder -, oder wie stellt man sich das vor?
Wir haben tatsächlich vom Alfred Wegener Institut die Chance bekommen, ganz viele Sachen mitzubringen. Beliebt sind bei uns zum Beispiel Lichterketten oder Tücher, die das Zimmer gemütlicher machen. Als wir hier eingezogen sind als neue Überwinterer, da gab es eine riesige Umräumaktion. In jedem Zimmer stehen Möbel. Davon wurden viele rausgeschoben in ein leeres Zimmer und andere Möbel dazu geholt, Schränke wurden verrückt, und jeder hat das Zimmer für sich zu seinem eigenen gemacht. Unser Elektroniker Micha hat sogar das Licht komplett geändert und ganz viel indirekte Beleuchtung eingebaut.
Um den 20. Mai herum hat bei euch die Polarnacht begonnen. Das ist sicher eine ganz fremde Erfahrung. Wie fühlt sich das an?
Ich wusste auch nicht, wie ich mir das vorstellen soll. Das Licht ist nicht sofort weg. Es nimmt nach und nach ab. Ich bin froh, dass sich mein Schlafbedürfnis bisher nicht groß geändert hat. Ich kann morgens problemlos aufstehen und abends ins Bett gehen. Aber wenn man den Sonnenuntergang um 14 Uhr sieht, dann ist das schon komisch. Bisher finde ich es aber einfach nur schön. Wir haben ganz lange Dämmerung, und das taucht die Antarktis in wunderschönes Licht. Und man hat viel mehr von dem Sternenhimmel und dem Mondlicht. Ab und zu sehe ich auch Polarlichter, aber da hoffe ich, dass die noch intensiver werden.
Wie seid ihr überhaupt in die Antarktis gekommen? Mit dem Flugzeug, dem Hubschrauber oder einem Schiff?
In der Vorbereitungszeit war noch nicht klar, wann und wie wir anreisen. Dann wurde die Entscheidung getroffen, dass wir mit dem Flugzeug fliegen, so wie die anderen Wissenschaftler vor uns auch. Und erst als wir schon gar nicht mehr zusammen in Bremerhaven waren, kam die Info, dass wir einen Tag früher fliegen als geplant, um mit dem Forschungs-Eisbrecher Polarstern weiter zu fahren. Die Polarstern war auf Forschungsfahrt im Südozean und hatte gerade Besatzungs-Wechsel in Kapstadt. Da sie ohnehin Richtung Antarktis fuhren, nahmen sie uns mit. Die Mannschaft musste unseretwegen enger zusammenrücken. Für die war das aber überhaupt kein Problem. Die haben uns herzlich aufgenommen. Das war superschön.
Mit dem Schiff anreisen, das ist noch mal eine ganz andere Hausnummer. Man hat dann viel mehr Zeit. Normalerweise fliegt man nach Kapstadt und von dort aus auch mit dem Flugzeug weiter in die Antarktis, und plötzlich ist man dann angekommen. Aber wir hatten ganz viel Zeit zu spüren, dass es kälter wird, zu beobachten, dass das erste Eis auftaucht. Die ersten Pinguine wurden gesichtet, und dann haben wir mit dem Fernglas die Schelfeiskante gesehen und die Station. Die letzten Tage auf der Polarstern sind irgendwie vergangen wie im Traum. Man hat das gar nicht mehr so richtig begriffen. Man hat seine Sachen gepackt und auf den Hubschrauber gewartet, der uns rüber geflogen hat zur Station. Und da standen wir dann: in der Antarktis. Ich habe noch zwei, drei Tage gebraucht, um zu verstehen, was eigentlich passiert ist.
War das Koffer packen schwer?
Oh ja, das war ein Riesending. Wir haben eigentlich schon im September gepackt, weil da unsere Kisten ins Hafenlager mussten. Das war alles super knapp, denn wir hatten uns ja erst im August kennengelernt, waren eine Woche beim Bergkurs in den Alpen, und dann war schon relativ bald die Abgabefrist für die Kisten. Dann musste man erst noch mal nach Hause, denn man hatte die Sachen, die man mitnehmen wollte, ja nicht alle in Bremerhaven. Die musste ich dann hoch in den Norden transportieren. Natürlich steht man da und fragt sich: Was brauche ich denn wohl? Wie viele T-Shirts und Pullis? Soll ich Sportsachen mitbringen? Welche Bücher möchte ich dabei haben? Duschgels, Zahnpasta und so Sachen werden allerdings von der Reederei mitbestellt. Das heißt, wenn man in diesem Bereich etwas Besonderes möchte, dann muss man es selbst mitnehmen, sonst riecht man halt das ganze Jahr über gleich.
Wie ist das mit den Lebensmitteln? Wird da für ein Jahr komplett alles mitgeliefert oder bekommt ihr nach drei vier Monaten noch mal eine neue Lieferung?
Im antarktischen Sommer gibt es verschiedene Liefermöglichkeiten. Das meiste kommt dann mit dem Schiff. Manchmal wird aber auch per Luftfracht geliefert. Als die "Sommergäste" abgeholt wurden, kam noch mal frisches Obst und Gemüse mit dem letzten Flieger, und da haben wir uns erst mal drüber hergemacht. (lacht) Das ist mittlerweile aber leider alles schon längst weggefuttert. Die Melone ist weg, die Tomaten sind aus. Es gibt noch Äpfel und Orangen. Das muss dann tatsächlich reichen. Über den antarktischen Winter sind wir unerreichbar und die nächste Lieferung kommt dann erst im Oktober. Aber unser Koch Werner hat das alles super geplant.
Ist Werner auch derjenige, der sozusagen portioniert, der dann sagt: "Also, Alicia, mehr als eine Tasse Kaffee ist heute nicht. Sonst kommen wir nicht mehr über den Winter."?
Ja, genau so ... (lacht) Nein, ich glaube, wir haben wirklich von dem meisten so viel da, dass nichts ausgeht. Das heißt, bei uns wird nichts rationiert. Wenn doch etwas aus ist, dann improvisieren wir und es gibt etwas anderes. Es war zum Beispiel mal so, da waren in einem Abendessen Tomaten drin und Werner sagte: "Übrigens, das sind die allerletzten Tomaten." Das war einem dann bewusst beim Essen und wir haben sie auf unseren Tellern noch mal extra schön angerichtet. Wir haben hier auch jede Menge Lebensmittel, aus denen wir dann selbst etwas machen können. Wir haben unter uns zwei begeisterte Brotbäcker. Aber die frischen Sachen, die vermisst man schon ein bisschen mit der Zeit.
Gibt es bei euch Vegetarier oder sogar Veganer?
Hier gibt es zwei Vegetarierinnen und eine Veganerin, was natürlich auch für Werner eine Herausforderung ist. Aber Werner ist super entspannt. Wir haben ganz viel Tiefkühlgemüse. Es gibt so viel leckeres Essen. Ich glaube, ich esse hier viel mehr als Zuhause.
Ist es gefährlich da, wo ihr seid?
In gewisser Hinsicht natürlich schon: Wenn man nicht aufpasst, kann man schnell in ungute Situationen kommen. Zum einen ist die Kälte gefährlich, und falls man bei Sturm die Orientierung verliert, ist das natürlich auch nicht so praktisch. Aber wenn man sich an bestimmte Regeln hält, ist es mindestens so sicher oder sogar sicherer als zu Hause. Wir haben hier ein gutes System. Wir haben eine Tafel, wo wir unsere Namen auf einem kleinen Zettel drauf stecken, ob wir draußen sind oder nicht, damit man nachschauen kann, wenn jemand fehlt. Und wenn wir weiter weg fahren, tragen wir uns in ein Fahrtenbuch ein und fahren mindestens zu zweit. Und wir haben dann auch eine Survivalbox dabei. In der ist alles Mögliche für den Notfall: Schlafsäcke und Zelt, Nahrung, ein Kocher, und, ganz wichtig, Ersatzhandschuhe. Außerdem gehen wir niemals ohne Funkgerät und GPS-Gerät raus. Und natürlich lernen wir auch dazu. Am Anfang weiß man nicht, wie man sich am besten einpackt um draußen nicht zu frieren oder zu schwitzen. Mit der Zeit hat man dann aber den Dreh raus.
Ist in der Antarktis alles weiß? Wie sieht es aus, wenn du aus dem Fenster schaust?
Im Moment grau, weil es stürmt. Dann sieht man auch nicht weit. An einem klaren Tag ist draußen schon alles weiß. Aber trotzdem gibt es in der Antarktis ganz viele Farben. Da gibt es zum Beispiel das tiefe Blau der Eisberge, die sich nördlich in der Atka-Bucht befinden. Und auch der Himmel ist unglaublich farbenfroh. Gerade jetzt in der Zeit, wo wir noch ein kleines bisschen Dämmerung haben, oder wenn die Sonne gerade untergegangen ist. Das ist ein sehr besonderes Farbenspiel. Da vermischt sich das tiefste Orange bis zum grellsten Pink. Ich glaube, ich werde nach dieser Zeit den Himmel viel mehr schätzen. Ganz eindrucksvoll sind auch die Wolkenformationen am Himmel, die im unterschiedlichsten Licht angeleuchtet werden. Was auch ziemlich schön ist, sind Eiskristalle, die bei Wind über den Boden ziehen. Das sieht dann aus wie ein Fluss aus Schnee, der die Füße umspült. Wenn dann noch die Sonne darauf scheint, dann bekommt man Gänsehaut.
Und du machst täglich hunderte von Bildern?
Ich selbst habe keine ganz gute Kamera dabei, aber andere im Team sind gut ausgerüstet. Vor kurzem habe ich die Kamera von unserem Luftchemiker mitgenommen und bin aus dem Fotografieren gar nicht mehr raus gekommen. Das nimmt aber natürlich auch ein wenig ab. Ist man länger da, ist nicht mehr alles so unglaublich spannend, beziehungsweise neu. Trotzdem: Ich weiß nicht, wie viele Sonnenuntergänge ich schon fotografiert habe.
Was hat es auf sich mit dieser eigentümlichen Faszination, die die Antarktis ausübt?
Es gibt wohl so etwas wie ein Polarfieber. Immer wieder trifft man Leute, die von der Antarktis so gefangen genommen werden, und ich kann das voll und ganz nachvollziehen. Es ist einfach so anders. Und auch sehr hart. Für ein normales Lebewesen ohne Station ist die Antarktis ein superharter Ort. Wie die Pinguine das da machen ist unglaublich. Die brüten in der Polarnacht bei Sturm und den kältesten Temperaturen. Das ist beeindruckend und dadurch auch so schön ... ich komme ins Schwärmen.
Wenn ihr raus geht aufs Eis, wer oder was begegnet euch da — außer den Eisbergen?
Unsere eigenen Fußstapfen zum Beispiel. (lacht) Das ist ganz witzig. Man sieht seine eigenen Fußspuren, aber der Wind hat den Schnee fortgeblasen. Das heißt, die Fußstapfen stehen nach oben weg, so als hätte man Sandkuchen gebaut. Was die Tiere betrifft: Robben sehen wir gerade eher selten, weil das Meer noch zugefroren ist. Die Pinguine beobachten wir aber relativ häufig. Sie befinden sich im Moment auf dem Meereis in ihrer Kolonie. Pinguine sind ziemlich neugierige Tiere, für die wir auch eine spannende Abwechslung sind. Wir halten natürlich unseren Abstand, aber werden von den Pinguinen auch aufmerksam beäugt.
Ansonsten kacken euch noch ein paar Möwen auf den Kopf, aber mehr Kontakt zur Fauna habt ihr da draußen dann nicht?
Richtig. Nur finde ich es absolut faszinierend, dass es hier Vögel gibt. Das war auch auf der Polarstern schon so eindrucksvoll. Mitten auf dem Meer, und plötzlich sind da Vögel. Wo kommen die denn bitte her? Und auch hier bei uns ist es einfach so, so, so kalt. Und trotzdem habe ich vor ein paar Wochen noch Schwärme von Vögeln vorbeifliegen sehen. Und die sind auch neugierig, kreisen dann über unseren Köpfen oder fliegen manchmal ein, zwei Meter an einem vorbei.
Wie ist es mit Walen?
Haben wir noch keine gesehen, aber die gibt es natürlich auch, und Überwinterer vor uns haben sie auch gesehen, wenn die Bucht frei ist. Am häufigsten sind sie dann wohl am sogenannten Nordanleger zu sehen. Das ist der Anlegeplatz für das Versorgungsschiff an der Schelfeiskante zum offenen Meer. Unser Elektroingenieur Micha will unbedingt einen Orca sehen, bevor es wieder nach Hause geht.
Merkst du, dass die Antarktis dich verändert, deine Sicht auf dich selbst, auf die Natur, auf die Welt, auf die Welt, in der du dich normalerweise bewegst?
Wenn ich auf Reisen bin, dann schätze ich auch immer wieder mehr, was ich zu Hause habe. Die Natur, alles Mögliche. Ich finde es unglaublich schön und spannend, andere Länder zu entdecken, aber immer wenn ich zurückkomme, denke ich, dass es auch in Deutschland ganz schöne Ecken gibt. Die Wälder dort, also vor allem die Bäume, die hier ja fehlen. Bevor es losging in die Antarktis, sind wir noch mal in den Wald gegangen, so im Sinne "Machts gut, Bäume, nächstes Jahr sehen wir euch wieder". Das lernt man viel mehr zu schätzen, denke ich. Und ich selbst? Wie mich die Zeit hier generell verändern wird, kann ich noch nicht genau sagen. Aber gerade in der Isolation und der Polarnacht, passiert es schon, dass man vielleicht manchmal ein bisschen anders reagiert oder empfindet. Da hilft es dann, sich einfach innerlich zurückzulehnen und die Situation von außen zu betrachten. Das merke ich auch, wenn ich zum Beispiel ein kleines bisschen gereizter bin als sonst. Dann ist es halt gerade so, und wenn man sich das bewusst macht, kann man auch wieder besser damit umgehen. Ich glaube, ich beobachte mich selbst hier ein bisschen mehr, als sonst. Und man freut sich auch irgendwie mehr über die kleinen Dinge.
Gibt es etwas, das du in der Station vermisst und etwas, was du in der Antarktis vermisst?
Eigentlich sind wir hier in der Station super ausgerüstet und uns ist bewusst, dass es ein Privileg ist, hier zu sein. Es gibt ja auch in der Antarktis so viel zu sehen. Trotzdem fallen mir ein paar Dinge ein. Was ich hier zum Beispiel ein bisschen vermisse, ist Wasser, in dem man schwimmen kann. Auch wenn ich nicht die absolute Wasserratte bin, ist es schon schön, mal im See zu schwimmen. Das ist tatsächlich etwas, an das man manchmal denkt, gerade wenn Freunde schreiben, dass sie sich gleich zum See aufmachen. Und ich glaube, ich vermisse das Grün in der Natur. Den Frühling. Saftige Wiesen. Manchmal hat man doch im Hinterkopf: "Bäume wären jetzt nett".
Was mir hier noch im Vergleich zu Deutschland auffällt, ist, dass man dort so viele Gerüche hat. Im Wald riecht das Holz, das Moos. Die Antarktis dagegen ist einfach geruchsarm, man riecht nichts, selbst Pinguin-Hinterlassenschaften riechen in der Kälte nicht. Ansonsten gibt es wenig, was uns fehlt. Wir haben einen Sportraum, einen Billardtisch und einen Tischkicker. Wir haben ein großes Medienangebot, wir haben einen Server, wo ganz viele Hörbücher zur Verfügung stehen, und dann gibt es ja auch noch die Bibliothek im Eis. Klar, wir können jetzt abends nicht ins Theater oder in die Kneipe gehen, aber wir haben ja auch unsere Lounge. Wir haben hier sogar schon Kinoabende veranstaltet, haben Eintrittskarten gebastelt, Filmplakate aufgehängt, Popcorn gemacht ...
Wer wählt die Filme aus?
Ganz unterschiedlich. Gerade gab es mal einen Fußballabend, weil wir zwei Fußballbegeisterte im Team haben. Wir haben aber auch die Harry Potter Filme durchgeschaut oder Herr der Ringe.
Du bist Geophysikerin. Was ist Geophysik? Was macht eine Geophysikerin?
Wusste ich vor meinem Studium auch nicht so genau. Ich hab’ angefangen, Geophysik zu studieren, weil ich in der Schule Physik cool und physikalische Phänomene super interessant fand. Aber ich hatte keine Lust, nur kleinen Teilchen hinterher zu laufen. Dann hab’ ich von Geophysik gehört. Die Verbindung der Erforschung der Erde durch physikalische Methoden fand ich unglaublich spannend. Und ich bin nach wie vor sehr glücklich über meine Entscheidung, weil sie mir sehr viel ermöglicht hat. In der Geophysik versucht man in die Erde reinzuschauen, um zum Beispiel herauszufinden, wie die Erde aufgebaut ist, quasi ohne sie aufzubohren. Die tiefste Bohrung, die es gibt, ist, glaube ich, zwölf Kilometer tief. Das ist schon viel. Aber wenn man sich überlegt, dass der Radius der Erde zirka 6000 Kilometer groß ist, ist es so, als würde man von einem Luftballon nicht einmal die Hülle durchstechen. Alles, was man über den Aufbau der Erde weiß, weiß man letztendlich durch die Geophysik. Es ist faszinierend, wie tief man in die Erde schauen kann und welche Methoden man sich zu Nutze macht. Da bekommt man ein bisschen Licht ins Dunkel, indem man sich zum Beispiel anschaut, wie sich Erdbebenwellen ausbreiten. Ein gutes Beispiel ist der äußere Erdkern, der flüssig ist. Und das weiß man nur, weil sich eine bestimmte Art von Erdbebenwellen in Flüssigkeiten nicht ausbreitet. In dem Bereich des äußeren Erdkerns treten diese Wellen nicht auf und daher muss er flüssig sein. Manchmal ist es aber auch ein bisschen frustrierend, weil man Sachen nicht ganz genau rauskriegt. Aber wenn man verschiedene Methoden nutzt, gibt es mehr Puzzleteile, die das Bild deutlicher machen.
Was kannst du als Geophysikerin in der Antarktis erforschen, was du sonstwo auf der Welt nicht herausfinden würdest?
Wir haben zwei — oder sogar drei — Schwerpunkte: Die Seismologie, also die Erforschung von Erdbebendaten oder Erschütterungen. Dann die Magnetik. Da schauen wir uns das Erdmagnetfeld an. Und es gibt noch ein Infraschall-Array. Darüber lassen sich zum Beispiel Explosionen in der Atmosphäre messen, auch über sehr weite Entfernungen hinweg. Es ist hier in der Antarktis zwar viel schwieriger, eine Messstation aufzubauen und zu betreiben, aber für die Erforschung vieler Phänomene ist es wichtig, auf der ganzen Welt verteilt zu sein. Ein bisschen ist das wie bei einem Computertomographen, wo man ja auch von allen Seiten durchleuchtet wird, um ein komplettes Bild des Körpers zu bekommen. Ähnlich verhält es sich auch mit unserer Erde. Wenn wir Wissenschaftler nicht überall sind, können wir unter anderem nicht alle Laufwege von Erdbebenwellen überprüfen. Oder nicht alle Spuren erkennen, die Atombombentests hinterlassen. An so etwas denkt man erst mal gar nicht, aber auch das fällt in den Aufgabenbereich der Geophysik. Natürlich messen die Instrumente hier auch ohne uns, aber wenn etwas kaputt geht, muss jemand da sein. Wir sind also so etwas wie die Hausmeister für die wissenschaftlichen Geräte. Für die Magnetik allerdings müssen wir selbst regelmäßig Messungen vornehmen, weil wir auf dem Schelfeis ständig in Bewegung sind. Und das Erdmagnetfeld ist es auch. Die magnetischen Pole, zum Beispiel, verändern ihre Lage jeden Tag. Es ist vorstellbar, dass Nord- und Südpol in ganz ferner Zukunft einmal die Plätze tauschen.
Du bist jetzt wie lange dort?
Ich bin seit Januar hier, also schon vier Monate.
Vergeht die Zeit schnell?
Ja, sie fliegt. Ich hab’ mir angewöhnt, abends immer aufzuschreiben, was alles passiert ist. Gerade am Anfang, in der Sommersaison war noch so viel los und alles ging Schlag auf Schlag. Ich bin gespannt, ob sich das noch ändert und die Zeit irgendwann wieder langsamer vergeht. Aber im Moment rennen wir auf den Mittwinter am 21. Juni zu. Ab dann werden die Tage wieder länger. Man rennt darauf zu und denkt: 'Es ist fast schon Halbzeit'.
Macht ihr schon Pläne für die Zeit nach der Antarktis?
Unterschiedlich. Ein paar von uns können in ihrem vorherigen Job wieder einsteigen. Bei mir weiß ich es ehrlich gesagt noch nicht. Es kommt vielleicht noch der Zeitpunkt, wo ich mich damit näher auseinandersetze, aber im Moment finde ich es hier so schön, dass ich alles mitnehmen möchte, was ich mitnehmen kann. Wenn ich dann zurück bin, kann ich mich darum kümmern, wie es weiter geht. Man hat schon von den Überwinterern vor uns gehört, dass es komisch ist, wenn alles wieder auf einen einprasselt, dass man Zeit braucht, um wieder richtig anzukommen. Aber wir haben ja auch das Glück, dass unser Vertrag — also wir kommen im Januar oder Februar zurück — noch bis Ende Juli läuft. Wir haben auch noch Nachbereitung.
Zum Schluss noch die Frage, ob man euch überhaupt etwas zukommen lassen kann, Briefe, Postkarten, Päckchen?
Wir sind jetzt abgeschnitten bis Oktober. Es gibt aber die Möglichkeit, dass meine Familie mir etwas zu Weihnachten schickt. Das kommt dann allerdings erst im Oktober oder November an. Die Post geht an das Alfred Wegener Institut, und die leiten es dann weiter an die Neumayer Station.
Dann kommt ein kleines Dankeschön zum Auspacken für eure Weihnachtsfeier ...
Tatsächlich wird Weihnachten hier weniger groß gefeiert. Unser größtes Fest ist Mittwinter am 21. Juni, und das wird von allen Stationen in der Antarktis gefeiert. Darauf freue ich mich sehr.
Vielen Dank, liebe Alicia. Das war sooo spannend und hat einen tollen Einblick gegeben in euer Leben und Arbeiten dort. Danke, dass wir ein bisschen teilhaben durften an eurem Antarktis-Abenteuer. Passt auf euch auf!
Es hat voll viel Spaß gemacht. Ich sage danke.
Zu dieser Geschichte gibt es 3 Kommentare
Einen Kommentar hinterlassenRichtig tolles und spannendes Interview Mein Bruder Micha kommt auch öfters im Interview vor, ist gerade dort, daher kannte ich schon vieles, aber es gibt dennoch immer noch vieles neues zu entdecken. Danke schön für die kurze Reise dorthin!
Und danke dir, liebe Annika, für das schöne Feedback
Super spannendes Interview! Vielen Dank für die Einblicke
Danke für das coole Interview mit vielen tollen, auch für uns neuen Eindrücken!