Das Ende

Written by Sophia

Das hier ist keine Drohung, keine Strafe. Es ist das Ende. Realität. Für jeden von uns. Jedes Tier, jeden Menschen. Jeden auf der ganzen Welt, selbst für die Pflanzen. Jeden, außer mir. Ich bin derjenige, der euch annimmt, wenn ihr geht, wenn eure Körper euch verstoßen oder andere Lebewesen es tun. Wenn ihr sterbt. Ich bin der Tod, der euch armen Seelen ein neues Zuhause gibt, wenn alles andere euch nicht mehr haben will oder kann. Ich bin derjenige, der euch vor der vollständigen Vernichtung bewahrt, indem ich euch mitnehme, derjenige der euch rettet, indem ich euch nicht zusammen mit euren Körpern verwelken lasse. Ich bin immer unter euch und doch versucht ihr, mich zu vergessen oder mich zu verdrängen. Ich weiß nicht was ich falsch gemacht habe oder was ihr findet, dass es nicht richtig von mir ist. Versteht mich nicht falsch, ich verstehe vollkommen, dass ihr Angst habt, zu sterben. Dass ihr alles was ihr liebt und mögt verliert und dass ihr keine Ahnung habt, was danach kommt. Keine Frage, ich würde wahrscheinlich genauso ängstlich sein, wäre ich wie ihr. Aber das ist nicht das einzige was ihr mir entgegenbringt, die Angst. Das andere ist der Hass. Ja, ihr hasst mich. Ihr braucht nicht so tun als würdet ihr es leugnen, niemand von euch. Ihr könnt mir versichern, dass es nicht so ist, aber ich sehe es doch in den tiefsten Ebenen eurer Seele. Jedes mal, wenn ich eine Seele aus einem toten Körper herausnehme, um sie zu bis zum Tor zu begleiten und ihr den Weg zu zeigen, schlägt er mir entgegen. Der Hass. Manchmal bin ich es leid, manchmal bin ich traurig darüber. Denn im Grunde bin ich wie ihr, außer meines unendlichen Lebens. Jemand der weint, rettet und manchmal sogar lacht. Ja, auch das kann ich. Ich bin einer wie ihr und trotzdem hasst ihr mich. Warum? Hassen die Menschen ihre Brüder und Schwestern auch? Ich weiß es nicht. Aber halt. Das stimmt nicht ganz. Manchmal müsst ihr euch hassen. Es gibt keine andere Erklärung dafür. Denn hier kommt eine Geschichte und eine Frage an euch und ich bitte euch sie mir zu beantworten.

Linh betrachtete sich argwöhnisch im Spiegel. Am liebsten würde sie gleich wieder absagen. Noch nie war ihr so bewusst gewesen, das sie nichts Hübsches zum Anziehen hatte. Sie musste ihre Mutter dringend um Geld bitten um sich wieder einen Rock zu besorgen. Aber das half ihr jetzt nicht. Jetzt konnte sie in keinen Laden mehr gehen und wenn er direkt unter der kleinen Mietwohnung wäre, die Linh mit ihrer Mutter und ihrem Vater bewohnte. Sie hatte nur noch 28 Minuten Zeit, dann würde sie sich mit Leo treffen. Mit Leo! Wenn sie an seinen Namen dachte verbrannte ihr Herz jedes mal von neuem. Leo, Leo, Leo. Seit der sympathische Junge vor sechs Wochen in ihre Stadt gezogen war, drehte sich alles nur noch um ihn. Sie konnte sich nicht einmal mehr auf ihr Medizinstudium konzentrieren, das sie seit zwei Semestern besuchte. Linh riss sich seufzend aus ihren romantischen Gedanken und zog ihre Jeans wieder an. Mit dem verwaschenem Rock würde sie auf gar keinen Fall gehen. Halbwegs zufrieden mit dem, was sie jetzt im Spiegel sah, ging sie aus ihrem Zimmer und stolperte dabei fast über ihre Unterlagen über Medizin. Der Abend fing ja gut an! Fluchend sprintete sie in den Flur und schnappte sich ihre Tasche und ihre Jacke. Sie war schon wieder viel zu spät dran.

"Ich geh jetzt!", rief sie ihrer Mutter zu, die ihr aus der Küche entgegenkam.

"Viel Spaß", sagte sie leise und umarmte Linh. Verblüfft erwiderte sie die Geste. He Xie mochte es nicht sonderlich, andere zu berühren. Sie war eine in sich gekehrte Frau mittleren Alters, die ihre einzig große Freude in der Kunst fand. Oft malte sie stundenlang vor sich hin und schenkte die Bilder dann anderen. Es war eine Geste indem sie zeigte, dass sie jemanden mochte. He Xie hatte einen anderen Weg gefunden, Leuten ihre Verbundenheit und Liebe zu zeigen. Mithilfe ihrer Zeichnungen.

"Danke", flüsterte Linh und drückte noch einmal ihre Hand bevor sie die Tür hinter sich schloss.

Draußen empfingen sie Dunkelheit und Kälte, wie schon den ganzen Winter. Wie ein guter Freund standen sie vor der Tür und begleiteten Linh. Es machte ihr nichts aus, heute nicht. Nicht an einem Tag mit Leo. Zügig marschierte sie in Richtung Kino. Wenn sie sich beeilte würde sie in zwanzig Minuten da sein. Kurz blieb sie unter einer der Straßenlaternen stehen und sah auf ihre Armbanduhr. 19:53 Uhr. Mist! Wenn sie pünktlich sein wollte- und das wollte sie unbedingt- musste sie durch den unbeleuchteten Park gehen. Eigentlich war Linh das gar nicht geheuer, aber was hatte sie für eine Wahl? Wenn sie Leo wollte- und auch das wollte sie unbedingt- musste sie dadurch, komme was wolle. Seufzend ging sie hinein und fing an zu joggen. Sie hatte schon fast die Hälfte des Weges hinter sich, als sie etwas Angst bekam. Es war etwas ganz anderes, durch die beleuchteten Straßen ihres Viertels zu laufen, als durch den dunklen Park. Sie blieb kurz stehen um ihre Handylampe anzumachen, als sie es hörte: ein unterdrücktes Husten und leise Schritte. Linh rannte los. Sie lief weiter und weiter, ohne zu wissen wer sie da verfolgte. Aber Linh wusste dass jemand da war. Der Park schien kein Ende zu nehmen. Sie rannte an so vielen Bäumen und Parkbänken vorbei, bis es passierte. Es waren nur noch dreißig Meter bis zur nächsten beleuchteten Straße, aber das half Linh nichts. Sie stolperte, wie sie es vor einer halben Stunde in ihrem Zimmer getan hatte. Nur das es jetzt weitreichendere Folgen hatte. Sie fiel hin und dann... nichts mehr. Dank ihrer Ohnmacht hörte sie den ohrenbetäubenden Schuss gar nicht mehr.

Ich habe nicht viel Zeit, wirklich nicht. Es gibt so viele Menschen denen ich den Weg zur Tür zeigen muss. Aber das hier beschäftigt mich so sehr, dass ich mir die Pause hier nehme. Während ich Linhs Seele von ihrem Körper trenne, schlägt mir wieder die Angst und ein wenig Hass entgegen und: ihre Zukunft. Ich sehe sie deutlich vor mir, wie sie als Ärztin in einem Krankenhaus arbeitet, wie sie einen Mann küsst den sie Leo nennt und wie sie zwei Kinder hochhebt und mit ihnen lacht. Ihr Job, ihr Mann, ihre Kinder. Alles gelöscht durch einen anderen Menschen, der sie tot sehen wollte. Muss ich das verstehen? Ich gebe mir große Mühe, aber so sehr ich euch auch ähnele. Das unterscheidet uns wohl. Ich rette, ihr tötet. Aber warum habt ihr dann Angst vor mir?

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