Drachenreiter 3 Der Fluch der Aurelia
Nicht einmal Baby-Drachen können Ben und die Wiesengrunds davon abhalten, nach Kalifornien aufzubrechen, wo die Ankunft eines der außergewöhnlichsten Wesen erwartet wird.
Ein gigantisches Wesen aus der Tiefsee wird an Land kommen und seine Saat streuen. Ausgerechnet im dicht besiedelten Kalifornien. Wichtig ist, dem Ungeheuer friedlich zu begegnen. Und: Jede der vier Samenkapseln muss von einem Fabelwesen der vier Elemente entgegengenommen werden. Passiert das nicht, droht eine Katastrophe. Und als wäre das noch nicht genug, wittert ein Feind von Barnabas seine Chance.
- Erstmals erschienen 2021
- Lesealter Ab 10 Jahren
- Illustriert von Cornelia Funke
- Verlag Dressler
- Erhältlich bei genialokal.de
- Auch erschienen als Hörbuch · eBook
In Neuseeland ist der Januar ein Sommermonat, doch der Morgen war kühl und frisch, und Guinever Wiesengrund entdeckte elf Tauelfen, während sie ihrem Vater zu dem Boot folgte, das sie beide auf die Bucht hinausbringen sollte. Tauelfen liebten kühles Wetter. Sie hatten sich natürlich gut getarnt, wie alle Fabelwesen, und Guinever war ziemlich sicher, dass niemand sonst die winzigen Elfen bemerkte – weder die Männer, die ihre Boote am Kai beluden, noch die drei Angler, die nebeneinander auf dem Holzsteg saßen und ihre Leinen ins Wasser baumeln ließen.
»Unglaublich. Es fühlt sich fast so an, als wäre die Welt hier jünger«, flüsterte Guinever ihrem Vater ins Ohr. »Tauelfen, Möwlinge, Windreiter ... Ich hab noch nie so viele Fabelwesen auf einmal entdeckt!«
»Und wieder mal sind wir wohl die Einzigen, die sie bemerken«, flüsterte ihr Vater zurück. »Wie können die Leute nur so blind sein?«
Er warf einen Blick auf die Angler. »Vermutlich haben die fabelhaften Freunde, die wir dabeihaben, ihre Artgenossen angelockt.«
Guinever hörte Stimmen aus dem kleinen Holzkoffer, den er trug. Doch bevor sie ihren Vater nach dessen Bewohnern fragen konnte, blieb Barnabas vor einem Boot stehen, dessen Name mit blauer Farbe auf den weißen Rumpf gemalt stand. Kaitiaki. So hießen die heiligen Wächter der Māori.
»Du hast übrigens recht, meine Liebe«, sagte Barnabas Wiesengrund, bevor er auf den schmalen Anlegesteg trat, »die Welt ist in Neuseeland tatsächlich jünger. Die beiden Inseln haben sich, soweit ich weiß, als letzte der größeren Landmassen aus dem Meer erhoben, und Menschen haben sich vermutlich frühestens 900 nach Christus hier angesiedelt. Außerdem ist Neuseeland der einzige Ort der Erde, wo viele der einheimischen Vögel zu Fuß unterwegs sind.«
»Was sich als ziemlich tödliche Angewohnheit erwiesen hat.« Der Mann, der jetzt hinter der Reling auftauchte, trug die traditionellen Tätowierungen der Māori im Gesicht. »Unsere Vögel haben nicht vorhergesehen, wie viele Raubtiere eines Tages per Schiff auf diese Inseln kommen würden, zusammen mit vielen weißen Männern.«
Er war ein Bär von einem Mann, und die kraftvolle Umarmung, mit der er Barnabas begrüßte, ließ Guinever einen Moment lang befürchten, er könne ihren schlaksigen Vater in der Mitte durchbrechen.
»Guinever, darf ich dir Kahurangi Ngata vorstellen?«, sagte Barnabas, als der Māori ihn schließlich losließ. »Er ist der einzige Mensch, der die Dialekte von dreizehn verschiedenen Walarten beherrscht.«
»Die weit einfacher zu erlernen waren als die drei Schildkrötensprachen, die ich spreche, ganz zu schweigen von den Kiwi-Dialekten, die ich mit meiner bleiernen Menschenzunge kaum herausbringen kann.« Kahurangi Ngata hielt Guinever eine Hand hin, die mit wirbelnden Linien und Blättermustern tätowiert war. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Guinever Wiesengrund, Beschützerin der letzten Pegasi, Freundin von Moosfeen und Flussnixen.«
Auf sein T-Shirt war ein Kiwi gedruckt, der berühmteste Laufvogel Neuseelands. Guinever hätte liebend gern einen gesehen, doch sie zeigten sich nie am Tag und waren für ihre Schüchternheit bekannt.
Guinever und Barnabas waren eigentlich auf dem Weg zum Himalaja, um dort ihren Bruder Ben und dreizehn frisch geborene Drachen zu besuchen. Den Abstecher nach Neuseeland hatte Barnabas bislang nur sehr vage erklärt, doch Guinever war so betört von all der Schönheit, die sie umgab, dass sie nicht weiter nachfragte. Neuseeland war schon immer ein Ort gewesen, an den sie gern hatte reisen wollen. Aber während Kahurangi Ngata das Boot durch ein Archipel aus Inseln steuerte, die wie moosbewachsene Schildkröten aus dem glasklaren Wasser ragten, fragte sie sich langsam doch, was der Zweck dieses Ausflugs war. In den letzten Monaten hatten Guinevers Eltern oft davon gesprochen, eine Farm in Neuseeland zu kaufen, denn MÍMAMEIÐR, die Zufluchtsstätte für Fabelwesen, die sie in Norwegen aufgebaut hatten, bot inzwischen kaum noch genug Platz für all die Flüchtlinge, die in der Hoffnung auf Schutz und Sicherheit zu ihnen kamen. Viele hatte eine neue Straße oder ein Staudamm heimatlos gemacht. Andere waren durch neue Felder, Abholzung oder Menschenkriege vertrieben worden. MÍMAMEIÐR bot ihnen allen Schutz, doch für einige war der Norden Norwegens einfach zu kalt. Deshalb war Guinever sicher gewesen, dass die Suche nach einem zweiten Zufluchtsort der Grund für den Umweg war. Doch als sie das zu ihrem Vater gesagt hatte, hatte Barnabas nur gemurmelt: »Nein, nein, mein Schatz, den Ort werden wir doch woanders einrichten, mein Herz. Aber es gibt da etwas, das ich mir kurz ansehen muss.«
Etwas, das ich mir kurz ansehen muss ...
Das klare Wasser um sie her wimmelte von noch mehr Fabelwesen als der kleine Hafen. Guinever entdeckte sogar ein grünes Seepferdchen, ein so seltenes Wesen, dass ihr Vater sich unter normalen Umständen vor Begeisterung kaum hätte halten können, doch Barnabas warf nur einen flüchtigen Blick auf die winzige Kreatur. Er wirkte abwesend und besorgt, und er senkte die Stimme, als er mit seinem Māori-Freund sprach – ein Verhalten, das Guinever von ihren Eltern nicht kannte. Normalerweise hatten weder ihr Vater noch ihre Mutter Geheimnisse vor den Kindern.
Etwas, das ich mir kurz ansehen muss ... Warum waren sie hierhergekommen? Das Ganze wurde immer rätselhafter. Und Hothbrodd hatte ihr auch nichts verraten wollen. Der Troll war wie immer ihr Pilot (schließlich hatte er auch das Flugzeug gebaut). »Wenn dein Vater es dir nicht sagt, werde ich das auch nicht tun, Guinever Wiesengrund!«, hatte er geknurrt. »Und falls es dich tröstet – mir hat er auch nicht viel verraten.«
Zwei Fliegende Fische sprangen über das Boot. Ihre winzigen Nixling-Reiter winkten Guinever zu. Ben wird so neidisch sein, wenn ich ihm von diesem Ort erzähle!, dachte sie. Nein, Guinever, korrigierte sie sich und lehnte sich noch weiter über die Reling, um ja nichts zu verpassen, dein Bruder ist gerade auf niemanden neidisch. Der hat wahrscheinlich gerade einen jungen Drachen auf dem Schoß.
Weitere Teile der »Drachenreiter«-Serie