Das blinde Herz
Geschrieben von Tine
Nele konnte ihre kurzen Beine kaum noch spüren. Sie kniete gespannt auf der Fensterbank und wartete. Er musste doch endlich kommen. Die Nase platt gedrückt am Fenster und die Augen weit aufgerissen, beobachtete sie den Bürgersteig der gegenüberliegenden Straße. Ihre braunen Haare waren ordentlich zu kleinen Zöpfchen geflochten und schienen nichts zu merken von der Anspannung ihrer Trägerin. Dann sah sie ihn. Mit langsamen Schritten lief ein alter Mann mit schulterlangen, leicht welligen Haaren und einer Sonnenbrille auf der schmalen Nase die Straße entlang. Er sah sehr grau aus mit seinen grauen Haaren, der grauen Kleidung und dem grauen Stock. Wahrscheinlich wäre er einfach mit dem Bürgersteig verschmolzen, wäre da nicht seine gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten, die Nele stutzig machte.
Nächte hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, was die Armbinde bedeutet, und letzte Nacht war sie endlich auf die Lösung gekommen: Der alte Mann gehörte einer geheimen Organisation an, und das war sein Erkennungszeichen. Die Sonnenbrille schützte ihn vor Blicken. Er war so eintönig gekleidet, damit er keine Aufmerksamkeit erregte und die Leute ihn in Ruhe lassen würden. Doch Nele konnte er nichts vormachen, sie war ein kluges Köpfchen und hatte ihn sofort durchschaut.
Vor Aufregung verlor Nele beinahe das Gleichgewicht und kippte fast von der Fensterbank. Schnell versuchte sie mit den schon eingeschlafenen Beinen die Treppe herunter zu rennen. „Das Wetter ist furchtbar! Wo willst du denn hin?“, hörte sie ihre Großmutter rufen. „Schnecken sammeln!“, kreischte Nele zurück. Das klappte immer. Natürlich hatte sie überlegt, ihre Großmutter in ihre unfassbare Entdeckung einzuweihen. Doch Nele hatte Angst, dass die Großmutter die Polizei riefe und sie somit nie die Möglichkeit hätte, mit jemandem von einer geheimen Organisation zu sprechen.
Völlig außer Atem kam sie bei dem geheimnisvollen Mann an und stellte sich direkt vor ihn. „Hallo Herr Geheimmann“, strahlte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Wenn die Augen nicht fest säßen, das wäre der Moment, wo sie einfach herauskullern würden. „Aus dem Weg“, brummte der Alte und tippte ihr mit dem Stock gegen die Schuhe. „Nein, sie verstehen nicht. Ich weiß alles. Sie können ruhig ehrlich zu mir sein. Bitte, ich hab doch so viele Fragen!“ Der alte Mann hielt inne: „Was genau weißt du und was willst du von mir?“ „Ich hab das Symbol an ihrem Arm gesehen, sie gehören zu einer geheimen Organisation, wahrscheinlich sogar zu der geheimsten! Ich will wissen, was ihr macht und wo ihr euch trefft. Bitte, nimm mich mit!“ Jetzt wurde der alte Mann allmählich sauer. „Ich weiß nicht genau wer dir beigebracht hat, so einen Unsinn zu reden, aber du hörst jetzt auf, meine Zeit zu verschwenden.“ Brummig schob er mit seinem Stock das kleine Mädchen beiseite und trottete weiter. „Wenn sie mich nicht einweihen, geh ich zur Polizei!“ Der Alte hörte das Mädchen nun wieder unmittelbar neben sich laufen. Obwohl es sich nicht wie Laufen anhörte, eher wie ein Hüpfschritt. „Polizei, Polizeii, Polizeiieiii.“
Nele hatte Gefallen an ihrem Sing-Sang und fing an, kleine Strophen zu dichten: „Sie sind geheim und sehr gemein. Die Polizei ist gleich da und ich hol meine Großmama …” Nun hatten die beiden eine Bank erreicht, auf die der Alte sich seufzend setzte. Dreimal atmete er langsam ein und wieder aus. Er spürte den gespannten Blick des kleinen Mädchens auf sich ruhen. Kurz hielt er die Luft an und hörte, dass auch sie die Luft angehalten hatte.
„Ich weiß, dass du sehr jung bist. Also nochmal: Ich bin von keiner geheimen Organisation, und ich weiß auch nicht, warum du die Polizei rufen willst. Was ich weiß, ist, dass ich gerne meinen Nachmittagsspaziergang in Ruhe machen würde und du mir unheimlich auf die Nerven gehst.“
„Es ist deine Armbinde. Drei schwarze Punkte auf Gelb. Klassisches Symbol für Geheime Gruppen, die geheime Sachen machen.“ Ihr Blick verhärtete sich. „Tötet ihr Menschen?“
„Nein und nein.“ Seine Stimme klang nun noch grimmiger. „Die Armbinde bedeutet, dass ich blind bin. Ich sehe nichts, deswegen trage ich sie. Die anderen Leute sollen wissen, dass ich nichts sehen kann und Rücksicht auf mich nehmen. Das ist alles. Keine Geheimniskrämerei.“ „Du kannst nichts sehen? Gar nichts?“ Mit beiden Händen fuchtelte sie vor seinen Augen herum.
„Nein, es herrscht Nacht vor meinen Augen. Ich habe mich damit abgefunden. Ich laufe die Wege, die ich kenne, und gehe in die Läden, wo ich mich zurechtfinde. Ich habe meine Rituale. Ich komme klar.“
Kurz herrschte Stille, dann ergriff das kleine Mädchen seine Hand. „Wenn du keine neuen Wege gehst, dann kennst du meine Lieblingsplätze ja noch gar nicht.“ „Wahrscheinlich nicht, aber das muss ich auch nicht. Es wird langsam spät, ich gehe jetzt wieder zurück.“ Mit diesen Worten stand er auf und ging in die entgegengesetzte Richtung. Nele haderte. Zwar war der Geheimmann kein Mitglied einer geheimen Gruppe, aber er konnte nichts sehen, und das war mindestens genau so spannend. „Weißt du eigentlich, dass du total grau aussiehst? Dein Haar ist grau, deine Klamotten sind grau. Du siehst aus wie ein Herr Grau.“ „Das macht mir nichts, ich sehe ja nicht, was ich anhabe. Es ist gut so wie es ist.“ Die beiden liefen noch ein wenig nebeneinander her und Nele erklärte ihm, wie die Häuser aussehen mit ihren kleinen Vorgärten und identisch aussehenden Fenstern. Der Alte hörte einfach nur zu. Als sie an ihrem Haus ankamen, umarmte das Mädchen ihn und sagte: „Nächste Woche, gleicher Tag, gleiche Zeit!“ Der Alte schüttelte nur den Kopf, wandte sich ab und ließ seinen Stock den Rhythmus für den Nachhauseweg vorgeben.
Von diesem Tag an trafen sie sich einmal die Woche zum Spazierengehen. Obwohl „Treffen“ eher bedeutete, dass der Alte versuchte seine gewohnten Weg zu gehen und das kleine Mädchen ihn so lange nervte, bis er aufgab und sich von ihr neue Plätze zeigen ließ. Nele hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm ihre Sicht der Welt zu zeigen. Nach und nach fand sie einen Schlüssel nach dem anderen, um die Schlösser seines Herzens zu öffnen.
Eines Nachmittags saßen die beiden an einem kleinen Teich in einem Park, den Nele „Märchenwald“ getauft hatte. „..und wenn man die Augen zusammenkneift und versucht, auf dem Teichboden etwas zu erkennen, kann man sie manchmal sehen.“ Der Alte band sich einen kleinen Zopf aus seinen welligen grauen Haaren. „Wen kann man sehen?“ „Na die grünen Kobolde. Sie sitzen da unten und warten, bis eine Libelle oder ein Vögelchen das Wasser berührt und dann macht es Schnapp! – Nele klatschte einmal laut in die Hände – und sie essen den Eindringling. Man muss sie aber verstehen, weißt du, sie wünschen sich nämlich zu fliegen und denken, wenn sie alles essen, was fliegt, sie eines Tages selbst Flügel bekommen.“ Sie seufzte. „Sie wissen nicht, dass das nicht klappen wird. Ich mein du kannst ja auch nicht wieder sehen, wenn du Augen isst. Oder?“ Nele betrachtete ihn argwöhnisch von der Seite, dachte kurz nach und schob sich dann gleich vier Kekse gleichzeitig in den Mund.
„Mfeine Augpfen krieffst du nämflich nif!“ Der Alte lächelte. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Die Luft roch nach Wärme und dem Versprechen, Knospen zu Blüten werden zu lassen. Eine Kinderhand legte sich sanft in seine. „Fühl mal!“ Nele nahm die Hand des Alten und streifte sich damit über den Arm. „Ich hab mir auch eine Geheimbinde gebastelt.“ Sie wirkte sichtlich stolz. Der Alte erschrak. „Aber das darfst du nicht, du bist doch gar nicht blind.“ „Na und? Jetzt tragen wir das gleiche Symbol. Das, was ich sehe, siehst du auch. Wir gehören zusammen.“ Mit diesen Worten stand sie auf und klopfte das Gras von ihrer Hose. „Wir müssen langsam heim, sonst krieg ich Ärger.“ Sie nahm seine Hand, und so machten sie sich auf den Rückweg.
„Nächste Woche hab ich Geburtstag, weißt du, und ich wünsche mir, dass du kommst. Ich werde nämlich zehn Jahre alt. Eine Null mehr, und wir wären gleichalt“ - der alte Mann räusperte sich empört - „Es gibt sogar mein Lieblingsessen, Banku!“ Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen. „Banku?“
Sie schaute fragend zu ihm hoch. „Ja, genau. Macht meine Oma immer.“ Zögernd ging der alte Mann weiter, den Mund zu einem dünnen Strich zusammengekniffen. Dann platzte es aus ihm heraus: „Nele... bist du schwarz?“ Das Mädchen überlegte kurz und erwiderte dann freudig: „Nein, heute fühl ich mich eher so Orange... und du bist heute für mich Hellgrün! Wie frisches Gras!“ Der Alte zog seine Hand weg und wirkte sichtlich angespannt. „Nein, deine Hautfarbe... was hast du für eine Hautfarbe.“ „Ohh, das meinst du. Also, sie ist ähnlich wie Vollmilchschokolade, etwas dunkler, eher wie Zartbitterschokolade. Auf jeden Fall ist sie wunderschön.“ Voller
Stolz betrachtete Nele ihre Arme und verglich sie mit seinen. „Du bist so ein richtiges Weiß. Noch nicht mal beige, nein, weiß wie eine Wand. Ist aber auch ganz schön.“ Die beiden waren an der Haustür angekommen und wurden von Neles Großmutter bereits erwartet. Die Hände zu Fäusten geballt, ging sie auf die beiden zu und nahm die Kleine am Arm. „Nele, du gehst in das Haus. Sofort!“ Das Mädchen verstand die Welt nicht mehr, doch gehorchte ohne Widerworte. Die beiden Alten standen sich gegenüber, bis sie das Wort ergriff: „Hören Sie mir zu. Ich weiß nicht genau was Sie mit meiner Enkelin vorhaben, aber Sie halten sich gefälligst von ihr fern. Es ist schon 30 Jahre her, aber ich höre ihre Worte in meinem Kopf hallen als wäre es erst gestern gewesen. ‚Das kann nicht sein, dass diese Leute jetzt auch hier einziehen. Die sollen verschwinden. Aus meiner Nachbarschaft, aus meinem Land.’ Sie sind blind, doch nicht nur mit den Augen. Ihr Herz ist blind. Halten Sie sich von meiner Enkelin fern.“ Der alte Mann blieb stumm und das Blut schoss ihm in den Kopf. Langsam drehte er sich um und ging in Richtung seines Hauses. Scham und Erinnerung bildeten ein Duett, welches wie ein Sturm durch seinen Körper zog und Raum und Zeit eins werden ließen.
Woche um Woche verging, und die Türen seines Herzens schlossen sich wieder. Ein Tag glich dem anderen, und der Alte fing an, die Tage bis zu seinem Tod zu zählen. Eines Tages ging er seinen üblichen Rundgang, bis er auf einmal innehielt und nachdachte. Wenn er einfach immer weiter laufen würde, dann würde er vielleicht einfach irgendwann vor Erschöpfung sterben und alles wäre vorbei. Mit diesem Entschluss lief er weiter. Die Geräusche um ihn herum wurden leiser und die Luft kühler: Es fing langsam an zu dämmern. Nach einer Weile drängte sich ihm ein vertrauter Geruch auf - nach frischem Gras, alten Bäumen und einem Teich voller Kobolde. Er war, ohne es zu bemerken, im Märchenwald angekommen. Langsam tastete er sich weiter voran und setzte sich dann ins kühle Gras.
„Herr Grau, Herr Grau!“ Der Alte erschrak und spitzte die Ohren. Plötzlich wurde er umgeworfen von einem zehnjährigen Mädchen, was ihn umarmte, als wolle sie ihm alle Knochen brechen. „Herr Grau, oh Herr Grau, wie hab ich dich vermisst!“ „Nele, was machst du denn hier? Es ist viel zu spät für dich! Du kannst hier nicht sein!“ Der Alte war hin und hergerissen zwischen Freude und Wut. „Nur fünf Minuten, dann geh ich nach Hause, okay? Ich wollte Ihnen doch so gerne etwas zeigen!“ „Fünf Minuten und dann geht es ab nach Hause!“, erwiderte der alte Mann, zwar streng, doch auch lächelnd. Es war nun spät geworden. Die Nacht brach herein, und zahlreiche Sterne zeigten ihr helles Gesicht. Das ungleiche Paar lag auf dem Rücken im Gras und schaute nach oben. „Du kannst doch die Sterne nicht sehen, ich würde sie dir gerne zeigen. Sie sind so viele und so wunderschön.“ Das Glitzern der Sterne schien sich in den Augen des Mädchens zu spiegeln. Der Alte hatte die Augen geschlossen, bereit ihre Welt zu sehen. „Da oben links ist ein Kreis von Sternen. Das ist ‚das Brötchen’, und rechts daneben, das Lange mit den vielen Sternen drinnen, das ist ‚die Laugenstange mit viel Salz’.“ Der Alte schmunzelte. „Wenn ich dir von den Sternen erzähle, musst du mir sagen, wie das Gras heute für dich riecht“, sagte Nele leise und legte sich auf die Seite, um ihn genauer betrachten zu können. Der Alte ließ das Gras durch seine Finger gleiten, wie als ob er es streicheln würde und prustete dann los: „Heute riecht es nach frisch gebackenem Gebäck. Irgendwie habe ich Hunger bekommen durch deine Sternzeichen.“ Nele stimmte in sein Lachen ein. Ihres hell und klar, seines heiser, fast erstorben. Leise stand sie auf und kletterte auf einen naheliegenden Baum. „Ich hol dir jetzt so eine Laugenstange vom Himmel. Ja, das tu ich für dich. Ich hol dir die Brötchen vom Himmel!“ Erschrocken richtete sich der Alte auf: „Nele, nein! Es ist dunkel, komm da runter! Wenn etwas passiert, ich kann doch nichts...“ Doch es war zu spät. Mit lautem Knacken brach der Ast, auf dem Nele saß und sie fiel hinunter in das Gras, was jetzt wie Beton wirkte. Der alte Mann rutschte verzweifelt auf seinen knochigen Knien herum, suchend, doch er konnte sie nicht finden. Plötzlich hielt er inne. Ein metallischer Geruch stieg ihm in die Nase: Der Geruch nach Kinderblut, Menschenblut. Alles um ihn herum begann sich zu drehen. Er konnte das Blut riechen, schmecken, es in seinen Ohren rauschen hören. Panik stieg in ihm auf. Auf einmal konnte er sehen, Erinnerungen sehen, die er nicht mehr sehen wollte und wo einmal Licht war, da war nichts mehr. Sein Körper wurde taub und das Herz schloss seine Augen.
Er hörte ein Stöhnen. Neles Stöhnen. Da drängte sich ihm eine Farbe auf: Alles war Gelb, Nele war Gelb. Sie war für ihn immer die Farbe Gelb gewesen, seitdem er sie das erste Mal getroffen hatte: Die Farbe von Licht und Leben. Langsam rappelte er sich auf: „Hilfe, hilf mir doch jemand!“, robbte zu Neles Körper und hielt ihren kleinen Kopf. Dann hob er sie trotz seiner knochigen Knie hoch und ging los, in irgendeine Richtung, ohne Orientierung und Ziel. Seine Hilferufe schienen ins Leere zu gehen. Er horchte auf. Waren da Schritte oder doch nur das Echo seiner eigenen Verzweiflung?
Die Schritte wurden lauter, und auf einmal hörte er eine Frauenstimme neben seinem Ohr: „Was ist passiert? Oh nein, das Mädchen blutet ja am Kopf! Ich ruf sofort einen Krankenwagen!“ Der Alte sackte in sich zusammen und versuchte ausweglos mit aufgelegter Hand die Blutung zu stillen. Von der Ferne kommend, hörte man Sirenengeheul.
„Ding“, langsam ging ein alter Mann zu seiner Mikrowelle und öffnete sie. Er holte das Essen heraus, setzte sich an einen Tisch und begann zu essen. Es schien, als kaue er auf Kieselsteinen, anstatt auf dem frisch aufgewärmten Reis. „Ding Dong“, diesmal schaute er nicht zur Mikrowelle, sondern zur Haustür. Jemand hatte geklingelt, aber er wollte die Tür nicht öffnen. Es war bestimmt die Post. Päckchen nahm er nicht an, sollten die jungen Leute doch einfach mal zu Hause bleiben und selber darauf warten. „Ding Dong.“ Genervt schnaubte er ein Reiskorn aus, ergriff seinen Stock und tastete sich den Weg zur Tür. Die Erscheinung, die er spürte, war nicht die des gestressten Postboten, sondern eine stolze, fast überwältigende, die ihn einen Schritt zurücktreten ließ. Neles Großmutter stand vor der Tür. Sie schien hin und hergerissen, so als ob sie eigentlich wieder kehrt machen wollte, aber etwas hielt sie zurück.
„Hallo, Herr Guttensberg“ zerbrach ihre Stimme, die Stille wie Porzellan. „Kommen Sie herein“, erwiderte Herr Guttensberg und öffnete die Tür. Mit schweren Schritten betrat sie die Wohnung, dabei huschte ihr Blick kurz über die kahlen Wände bis hin zum Tisch, an den sie sich schließlich setzte. Der Alte nahm einen Stuhl und setzte sich dazu. Der Tisch schien nun sehr klein, und doch war er groß genug, um zwei Welten zu trennen.
Die Frau machte keine Anstalten, etwas zu sagen. Seine Hände verkrampften sich leicht. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust, schob das Kinn leicht nach vorne und begann langsam zu sprechen: „Ich bin hier, weil Nele sie braucht. Sie liegt im Krankenhaus und fragt ständig nach Ihnen: ‚Herr Grau, wo ist Herr Grau’. Ich kann es einfach nicht mehr hören. So wie es aussieht, wird sie sonst nicht gesund oder will sonst nicht gesund werden. Ich weiß es nicht. Ich halte Sie für einen verbitterten, alten Fremdenhasser, aber Nele sieht etwas in Ihnen, was ich nicht sehen kann.“ Nun betrachtete sie ihn argwöhnisch, ähnlich wie Nele, als sie überlegt hatte, ob ihm ihre Augen schmecken würden.
Der alte Mann holte einmal tief Luft, öffnete leicht die Lippen und fing mit leiser Stimme an zu reden: „Wissen Sie, Sie haben gesagt, mein Herz sei blind, doch das stimmt nicht. Ich kann die wunderschönen Blumen in meinem Garten nicht sehen, aber ich kann in Neles Herz sehen, und das hat die Farbe Gelb. Ihr Herz ist aus purem Gold. Wissen Sie, wie sie mich nennt? Herr Grau. Einen besseren Namen könnte ich mir selbst nicht geben. Ich bin grau und mein Herz ist grau. Mein Herz ist ein Stein. Es tut mir so leid, was passiert ist. Einfach alles. Es tut mir so leid, und ich kann es nicht mehr ändern. Ich sollte sterben, aber ich bin immer noch am Leben. Mein Herz ist ein Stein, aber es schlägt weiter. Ich weiß nicht wieso, aber es will einfach nicht aufhören.“
Die alte Frau zog überrascht die Augenbrauen hoch. Ihr eiskalter Blick taute auf und offenbarte die Wärme ihrer braunen Augen. Der alte Mann setzte die Sonnenbrille ab und ließ den Kopf in die Hände sinken. Es schien wie Stunden, vielleicht waren es aber auch nur Minuten, in denen die beiden einfach nur da saßen und dem Ticken der Wanduhr zuhörten.. Dann standen sie auf, packten ihre Sachen und verließen gemeinsam das Haus.
„Herr Grau, Herr Grau sie haben es geschafft! Sie sind da! Oh, Herr Grau, ich freu mich so sehr! Aber Herr Grau, sie sehen ja gar nicht mehr so grau aus! Sie sehen aus wie … wie ein Herr Gelb!“ Das kleine Mädchen war so voller Freude, dass die Kinderschwester sie an den Armen zurückhalten musste, damit sie nicht aus ihrem Krankenbett fiel. Herr Guttensberg stand in der Tür in einem gelben Hemd und in den Händen einen Strauß voller Sonnenblumen. Er setzte sich an ihr Bett. „Hier, die hab ich dir mitgebracht. Ich kann sie nicht sehen. Kannst du mir erzählen, wie sie aussehen?“
Das Kind streckte die Arme aus, jedoch nicht nach den Sonnenblumen, sondern nach dem alten Mann mit der Sonnenbrille. „Ich habe Sie vermisst, und es tut mir alles so leid, und ich hoffe, Sie haben keinen Hunger mehr. Falls doch, können Sie mein Krankenhausessen haben, das finde ich eh eklig.“ Der alte Mann lachte. Sein Herz schlug die Augen auf, holte tief Luft und stimmte in das Lachen ein.
Zu dieser Geschichte gibt es 4 Kommentare
Einen Kommentar hinterlassenDu hättest sicher das Zeug zur Autorin. Überlege dir mal, daraus ein Bilderbuch zu machen!
Vielen lieben Dank euch!
Liebe Tine, das ist eine wundervolle und unglaublich berührende Geschichte! Wenn nur alle ein bisschen wie deine Nele wären, wäre die ganze Welt ein bisschen goldener.
Ich wünsche dir, dass jemand deine Geschichte findet und ein Bilderbuch daraus macht. Ich sehe die Bilder schon vor mir. Liebe Grüße, Katharina
Das hier hat meinen Tag besser gemacht. Was immer du noch im Leben tust, du hast einen Tag schon besser gemacht. Die Geschichte ist toll, Nele ist so süß und ich mag, wie sich Herr Grau der Welt öffnet. Alles ist so herzerwärmend erzählt. Danke sehr.