Jene Nacht, in der der Traum starb – Die Gelegenheit, die Neumond gab

Geschrieben von Yomi

Vorwort

"Himmelsstürmer" ist jetzt offiziell beendet und damit fange ich jetzt etwas Neues an.

Kurze Zusammenfassung der Handlung, ohne viel zu verraten: Katsu Aratsuki lebt ein relativ normales in einem Dorf. Eine Schwester, ein Bruder, ein Elternteil in Tokyo. Es gibt nur eine Schule mit einer Klasse für alle Stufen und irgendwie kennt jeder jeden. Aber genau das kommt Katsu in letzter Zeit so merkwürdig vor. Als hätte es noch etwas anderes gegeben, das plötzlich aus ihrer aller Leben radiert wurde. Aber warum kann sich dann niemand an irgendetwas erinnern?

Kapitel 1

Frau Sakura hatte die nervige Angewohnheit, so an die Tafel zu schreiben, dass die Kreide kreischte. Das hatte Katsu schon immer gestört. Seit er sechs Jahre alt war, ging er in diesem Dorf zur Schule und jetzt war er vierzehn. Und all die Jahre hatte er Frau Sakura – Anrede Sakura-sensei –, Tsubakis Mutter, als Mathe- und Chemielehrerin gehabt. Sie war eine gute Lehrerin, aber wenn sie etwas an die Tafel schrieb, war es ein Albtraum. Genau, dachte Katsu und sah abwesend auf die Aufgabe vor ihm. Seit er denken konnte, hatte er immer in diesem Dorf gelebt. Urlaub war nicht der Stil der Einwohner hier – einschließlich seiner Familie. Wer hier lebte, blieb hier. Katsu persönlich störte sich nicht allzu sehr daran. Schließlich hatte er sich Freunde dafür zugelegt, dass es nicht langweilig wurde und hier passierte genug zwischen dem normalen Alltag – dafür sorgten die Flausen gewisser Individuen. Aber manchmal wüsste er schon gerne, wie Kyoto, Osaka oder Tokyo aussahen, wenn man sich selbst in der Stadt befand. Sein Vater arbeitete in Tokyo. Katsu hatte schon ein paarmal darüber nachgedacht, ob sich das mit einem Stadtbesuch verbinden ließe, aber in letzter Zeit rückten für ihn Fragen nach Urlaub und anderen Aktivitäten eher in den Hintergrund. Katsu sah gedankenverloren aus dem Fenster. Weil er sich schon seit einiger Zeit seltsam fühlte. Als würde nicht nur mit ihm, sondern mit dem ganzen Dorf etwas nicht stimmen. Es war nichts mit dem Wetter oder der Atmosphäre, die waren wie immer, es war anders. Aber wie anders?

Katsu drehte den Stift zwischen seinen Fingern. Er hatte ihn immer um den Finger wirbeln können wollen, so wie Hajime, hatte aber nach ein paar Versuchen aufgegeben und es einfach nur beim langsamen Hin- und Herdrehen belassen. Katsu betrachtete, was er sah. Seine Spiegelung im Fenster. Draußen standen die ersten Bäume als dürre Skelette ohne Blätter da. Es war also Spätherbst. Interessant, da hatte er in der letzten Zeit gar nicht drauf geachtet. Die verbliebenen Blätter an den Bäumen wogen hin und her, über die Straßen wehten bereits gefallene. Es war ein leichter Wind. Durch die dünnen Fensterscheiben drang die kühle Luft ins Klassenzimmer und durch den Stoff seines Hemds an seine Haut. Der rote Zug der hier schon immer vorbeigefahren war passierte das Dorf. Also war es um Mittag herum. Der graue Himmel, an dem sich Krähen tummelten, tauchte alles in ein kaltes, gedämpftes Licht. Alles sah aus wie immer, wenn der Herbst ins Dorf einkehrte. Er könnte auch problemlos beschreiben, wie es im Klassenzimmer aussah, ohne auch nur eine einzige Sekunde lang hinzuschauen. Was war also falsch? Katsu drehte den Stift einmal in der Hand, sodass die Spitze nun zu ihm zeigte, und fuhr mit dem Hin- und Herdrehen fort.

Die Dorfälteste sagte immer, man muss seinen Geist beisammen haben, um mit seinem vollen Potential denken zu können. Katsus Griff um den Stift festigte sich. Und dann muss man die richtigen Fragen stellen, dachte er. Eine Weile dachte er nach, was die richtigen Fragen waren, dann fand er einen Punkt, an dem er ansetzen konnte. Was war anders: Das Dorf oder die Menschen dort? Katsu dachte über seine Frage nach, aber dann bemerkte er, dass alles, was ihm beim Denken durch den Kopf zuckte, Bilder von Menschen waren. Außerdem war er ja zu dem Schluss gekommen, dass das Wetter und das Aussehen der Häuser und Wege in Ordnung waren. Das gab ihm seine Antwort. Die Menschen also. Zweite Frage: Wie können Menschen sich verändern? Das war zwar die richtige, aber eine ziemlich schwierige Frage. Menschen konnten sich verändern, das war ihm schon immer klar gewesen. Aber gab es da überhaupt ein Muster, in das diese Veränderungen fielen? Stell die richtigen Fragen und suche dann die passenden Antworten. Die passenden Antworten findest du, indem du analysierst und verbindest, was du weißt. Du hast mehr Informationen, als du denkst. Nach diesem Vorgehen hatte Katsu bereits allerlei Probleme gelöst. Jede Schwierigkeit, die ihm in den Weg kam, hatte er damit beseitigt. Denn das Prinzip ließ sich auf jede erdenkliche Entscheidungssituation und Frage anwenden. Er hatte sich schon immer gefragt, wie die Polizei und Detektive ermitteln können, was an einem Tatort geschehen ist, obwohl sie selbst nicht dabei waren. Als Hajime dann einmal versehentlich einen Fußball durch Katsus Fenster geschossen und dieser dann die Scherben aufgekehrt hatte, war es ihm klar geworden. Die Scherben lagen innen, weil der Ball von außen geschossen worden war. Und die Stelle im Garten, an der Hajime auf dem Gras ausgerutscht war, war plattgedrückt. Und das platte Gras war parallel zum Fenster. Katsu war klar geworden, dass man stets mehr Informationen hatte, als man dachte. Genauer gesagt, so viele, dass man sie nicht mal mehr bemerkte. Quasi den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah, die Tanne vor lauter Nadeln. Und er hatte sich dafür verflucht, so lange für diese Erkenntnis gebraucht zu haben, weil er normalerweise direkt visualisierte anstatt sich auf die Umgebung zu fokussieren. Aber wenn man es schaffte, sich zu konzentrieren und sie wahrzunehmen und dann die Informationen miteinander verband, ließ sich auf so gut wie jede Frage eine passende Antwort finden. Aber wie sollte er denn eine passende Antwort finden, wenn es sich anfühlte, als würde etwas mit seinem…? Katsu ließ den Stift auf die Heftseite fallen, als er es realisierte. Wie sollte er denn eine passende Antwort finden, wenn es sich anfühlte, als würde etwas mit seinem Kopf nicht stimmen?

Mal abgesehen davon, dass es Katsu wahnsinnig machte, wenn er sich nicht auf seine Erinnerung und sein Denkvermögen verlassen konnte: Das war eine wichtige Information. Katsu hatte Angst, sie beim weiteren Grübeln zu vergessen und weil er sich gerade nicht besser zu helfen wusste, schlug er die letzte Seite seines Hefts auf und schrieb genau diese Frage dort auf. Auch wenn er sich seltsam fühlte, es war ja nicht nur er. Das Gefühl bekam er auch davon, wie sich die Menschen um ihn herum verhielten. Was ihn zurück zu seiner anderen Frage brachte: Wie können Menschen sich verändern? Das ‚wie‘ ließ sich auf drei Arten auffassen, dachte Katsu und starrte wieder aus dem Fenster. Die erste Art war, es in ein ‚warum‘ umzuwandeln und sich auf den Anlass zu beziehen, sich zu verändern. Die zweite war, sich auf den Prozess des Veränderns zu beziehen. Wie veränderte sich der Mensch? In welche Richtung? In seinem Fall entschied Katsu sich aber für die dritte Art, für den Mittelweg. Er musste das ‚wie‘ in ein ‚was‘ umwandeln. Konkret: Was hat der Prozess der Veränderung immer gemeinsam? Katsu griff auf jede Veränderung zurück, die er je bei seinen Mitschülern beobachtet hatte.

In der ersten Klasse hatte Hajime die Angewohnheit gehabt, im Unterricht hereinzurufen, selbst wenn er sich nebenbei noch meldete. Das hatten die Lehrerinnen ihm rasch abgewöhnt. Das war eine Veränderung in Hajimes Verhalten gewesen, durch mehrfachen Tadel und ein paar Strafarbeiten bewirkt. In der vierten Klasse hatte er selbst gemerkt, dass er schneller bei der Schule ankam, wenn er zwischen den Häusern abkürzte. Seitdem ging er nur noch dort entlang. Und seit einem Jahr machte seine Schwester zusätzlich zu Kalligrafie auch Gärtnern. Und alle anderen Ereignisse, die ihm einfielen, hatten etwas mit den ersten drei gemeinsam. Katsu machte vor lauter Triumphgefühl eine Faust. Na ja, für eine Millisekunde voller Triumphgefühl, bevor ihm einfiel, wie wenig das allein nutzte. Menschen können sich auf drei Arten verändern, schloss er. Bei der ersten Art verliert man etwas. Hajime hat sich demnach nur noch gemeldet. Sein Hereinrufen ging ihm verloren. Bei der zweiten verliert und gewinnt man etwas. Ich gehe nur noch den neuen Weg, dafür habe ich den alten zurückgelassen. Und bei der dritten Art gewinnt man etwas dazu, wie Sakiko ihr Gärtnern zusätzlich zu Kalligrafie. Aber auf welche Art haben nun ich und mein Umfeld verändert? Haben wir etwas verloren und dafür etwas gewonnen? Nein… Sie hatten definitiv etwas verloren. Aber…

„Hey! Aratsuki Katsu! Hörst du mir überhaupt zu?!“, schimpfte Frau Sakura plötzlich und nur knapp duckte Katsu sich unter dem Kreidestück durch, das auf ihn zuflog und an der Wand hinter ihm krachend zerbrach. Entgeistert starrte er nach vorne an die Tafel. „Ich habe dich gefragt, wie die Lösung dieser Aufgabe lautet“, wiederholte Frau Sakura und deutete auf die Tafel, während ihre Augen ihn lauernd ansahen. Katsu sah kurz die Aufgabe an, konnte aber das Ergebnis nicht im Kopf ausrechnen. Dann blieb nur noch die Flucht nach vorn, entschied er. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und entschuldigte sich. „Es tut mir leid, Sakura-sensei! Ich habe nicht aufgepasst. Es kommt nicht wieder vor!“ Frau Sakura warf ihm einen Todesblick zu, den Katsu kaum aushielt, sagte aber: „Na gut, ich verzeihe dir. Setz dich wieder hin. Saotome?“ Katsu ließ sich erleichtert wieder auf seinen Stuhl fallen, während Toki die korrekte Lösung samt Rechenweg vortrug. Das war haarscharf gewesen. Gut gerettet. Also dann, wo war ich stehengeblieben?, dachte Katsu und wollte weitermachen, wo er aufgehört hatte, bevor die Kreide auf ihn zugeflogen war. Doch sein Kopf war wie leer gefegt. Frau Sakura hatte ihn so sehr aus Gedanken gerissen, dass er völlig vergessen hatte, worüber er gerade nachgedacht hatte. Was habe ich überlegt? Warte… Was habe ich eigentlich gemacht? Hatte er geschlafen? Hatte er mit jemandem gequatscht? Die letzten Minuten waren komplett weg.

Kapitel 2

„Mann, das war knapp! Die sah aus, als wollte sie dich jeden Moment umbringen!“

Es war Pause und Hajime konnte sich nun endlich einen Ast ablachen darüber, wie Katsu gerade so noch mit seiner Träumerei davongekommen war. Er war für das Pausengeplauder nach hinten gerückt und saß nun mit Akira, Katsus anderem Freund, auf dessen Tisch, um sich mit Katsu zu unterhalten, der im Unterricht hinter Akira saß. Es gab in der Schule nur Einzeltische, obwohl durchaus knapp zwei Leute an ihnen Platz hätten.

„So, du findest das also lustig, ja?“, fragte Katsu schnippisch. „Ich hab wenigstens die Kurve gekriegt, auch wenn es peinlich war, aber wenigstens hab ich keine Strafarbeit aufbekommen, was du in den meisten Fällen ja wohl nicht von dir behaupten kannst!“ Hajime schnaubte, aber ihm fiel kein guter Konter ein. Stattdessen übernahm Akira. „Da hast du zwar Recht und es ist auch nicht untypisch für dich, dich in deinen eigenen Gedanken zu verlieren – nicht dass ich das gutheißen würde –, aber trotzdem hättest du die Lösung eigentlich haben sollen. Bei Sakura-sensei passt du doch sonst immer so gut auf.“ Er rückte seine Brille zurecht. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er dann mitfühlend.

Katsu hielt inne. Etwas regte sich in ihm bei diesen Worten, aber es ließ sich nicht ans Tageslicht zerren. Katsu dachte nach. Definitiv war nichts in Ordnung mit ihm. Aber auf der anderen Seite würde er nicht erklären können, was nicht stimmte.

„Katsu? Du kannst uns alles sagen“, versicherte Akira. Katsu musterte ihn und Hajime. War es einen Versuch wert? Akira war nicht dumm – das war höchstens Hajime, wobei man sich auch da streiten konnte – und besaß eine Art sechsten Sinn dafür, wenn mit jemandem etwas nicht stimmte. Aber kann dir ein Arzt helfen, wenn du nicht beschreiben kannst, warum du dich krank fühlst? Also entschied Katsu sich dagegen. „Doch, alles in Ordnung. Ich hab nur für einen Moment nicht aufgepasst. Und die Aufgabe war mir zu schwer, um sie mal eben zu lösen.“ Katsu hasste es zu lügen. Andererseits: Hätte ihm die Wahrheit mehr gebracht als zweifelnde Blicke? Katsu unterdrückte ein gestresstes Seufzen. Menschen, selbst Freunde, waren anstrengend. Sie trieben dich an, dich nach Bauchgefühl zu entscheiden und nach Traditionen (die niemand brauchte) zu leben. Sie versuchten permanent, dich in eine Norm zu integrieren. Und Dinge, die unerklärlich schienen, sollte man einfach akzeptieren. Nichts hinterfragen, einfach die Tatsachen annehmen. Akira und Hajime waren da keine Ausnahme. Sie hätten es nicht verstanden und demnach hätte er unnötig Worte verschwendet. Auch jetzt lachte Hajime nur. „Du und deine Schulprobleme!“ Akira nickte zustimmend. „Du musst endlich einsehen, dass es ohne Lernen nicht geht! Deine Mittelmaßleistungen verschaffen dir keinen Job als IT-Spezialist.“

„Weiß ich selbst. Aber wozu Zeug lernen, das mich nicht interessiert? Ich komm schon durch, mach du dir mal keine Sorgen, zukünftiger Bürgermeister.“

Herr Nakamura war der Bürgermeister hier im Dorf. Und so wie es aussah, würde Akira seinem Vater folgen. Das plante er schon seit frühester Kindheit und hatte nie ein Geheimnis darum gemacht. Akira war umsichtig und organisiert – perfekte Voraussetzungen – und seine feinen Antennen dafür, wann was im Busch war, machten alles nur noch schlimmer, weil er jeden einzelnen Streit und jedes Problemchen zehn Meter gegen den Wind roch und sofort anging. Der Posten des Klassensprechers war ihm allerdings von Wakaba Fujimori mit knapp einer Stimme Abstand bei der Stichwahl weggeschnappt worden. Akira grinste nur, dann kam Frau Houjou herein, Stühle schabten und es wurde wieder ruhiger.

Auch in dieser Stunde dachte Katsu nach. Hätte er Akira und Hajime die Wahrheit sagen sollen? Aber die beiden sahen nicht so aus, als ginge es ihnen wie ihm. Hajime war eine fürchterliche Plaudertasche, er hätte längst gesagt, wenn ihn etwas störte. Akira war vielleicht eher still und pflichtbewusst, aber auch er hätte seinen Freunden erzählt, wenn er sich seltsam gefühlt hätte. In diesem Sinne wäre es mit der Wahrheit nur stressiger geworden, zumal es ja sowieso kaum eine Wahrheit zu erzählen gab. Damit hatte Katsu seine Antwort, aber was ihn richtig wurmte, war die Gedächtnislücke bezüglich der letzten Minuten vor Frau Sakuras Anschlag. Das passierte ihm doch sonst nur so selten! Warum vergaß er in letzter Zeit immer häufiger seine Gedankengänge? Musste er sich etwa Sorgen machen?! Die typische „Bin ich dumm?“-Panik stieg in ihm auf.

„Aratsuki-kun, würdest du weitermachen?“, fragte Frau Houjou. Und warum unterbricht mich immer jemand, wenn ich gerade anfange, der Lösung näher zu kommen? Unsicher blickte Katsu auf das Textblatt vor ihm. Wann war das überhaupt ausgeteilt worden? „Aratsuki-kun? Wir sind beim dritten Absatz“, meinte Frau Houjou freundlich. Sie war ruhiger und um Einiges netter als Frau Sakura. Sie unterrichtete Sprachen und Sport und verwaltete die Schulbibliothek. Genauer gesagt, wohnte sie in der Schule. Katsu tat wie ihm geheißen, stand auf und las den dritten Absatz vor. „Sehr gut, danke. Setz dich wieder hin. Saotome-san, würdest du bitte weitermachen?“ Katsu setzte sich wieder auf seinen Platz in der letzten Reihe, dafür erhob sich ein Mädchen aus der ersten. Ohne Frau Houjou zu antworten, begann sie vorzulesen. Katsus Blick ruhte auf ihr, während er weiter nachdachte. Toki Saotome… Sie stach hervor. Überall ausgezeichnete Leistungen: Sie war sportlich, klug, ehrgeizig. Aber auch eine Einzelgängerin. Irgendwie passte sie nicht in die Gruppe, obwohl sie alles richtig machte. Sie war zu intelligent, zu weit voraus und gleichzeitig schien sie zumeist auch allein sein zu wollen. Wie ich, dachte Katsu halbernst. Die Gemeinsamkeit, die er zwischen sich und Toki fand, war, dass sie zu anders waren. Aber viel mitreden konnte er auch nicht. Er wusste kaum etwas über Toki – oder irgendwen außer seinen Geschwistern und Freunden. Alles, was er über seine Klassenkameraden oder andere im Dorf wusste, entstammte Beobachtung und kurzen Gesprächen (von maximal zwei Minuten Dauer), die er am Rande mitbekommen hatte. Und Toki… Sie war ein Bücherwurm und eine schlechte Verliererin und war eines der wenigen Einzelkinder hier im Dorf, neben Akira und Tsubaki. Sie war kurzsichtig, hatte schulterlange braune Haare und trug ihre zwei roten Haarspangen immer rechts und immer an den gleichen Stellen mit zwei Zentimetern Abstand zueinander. Ihre Seifuku hielt sie seit der Einschulung in Schwarz mit weißen Streifen und hatte an der Krawatte auch immer diesen Halbmond angebracht, den sie irgendwie auf eine rosa Haarnadel geklebt hatte. Schien guter Kleber gewesen zu sein, das hielt jetzt schon über fünf Jahre lang. Aber über ihre Persönlichkeit wusste Katsu so gut wie nichts. Nur dass Toki todernst war und auf Biegen und Brechen immer gewinnen wollte. „Ausgezeichnet, Saotome-san! Wie immer. Du darfst dich wieder setzen. Jetzt werden wir den Text zusammenfassen. Macht es so, dass ihr für jeden Absatz genau einen Satz formuliert.“

Während alle schrieben war es totenstill im Klassenzimmer. Katsu war schon immer ganz gut mit Worten gewesen, auch wenn seine Leidenschaft eher Zahlen und Computern galt. Darum war er auch ziemlich schnell fertig und sah dabei zu, wie Frau Houjou den Kleinsten half, ihre Sätze zu schreiben. Muss anstrengend sein, alle Jahrgänge in einer Klasse zu unterrichten. Und dann ist sie dabei auch noch so nett. Das könnte ich nie auf die Reihe kriegen. Akira hatte mal gesagt: „Wenn du Hinami Mathenachhilfe geben solltest, würdest du wahnsinnig werden und nach zwei Mal quittieren.“ Jetzt gerade schrieb Hinami, Hajimes kleine Schwester, fleißig ihre Zusammenfassung. Es war irgendwie traurig, dass ihre Rechtschreibung jetzt schon besser war als die ihres Bruders, obwohl sie sieben Jahre auseinanderlagen. Katsus Blick wanderte weiter zu Toki, die bereits fertig war und ihren Stift zwischen den Fingern drehte und zwischendurch einmal um den Daumen wirbelte. Also konnte sie sogar das. Er hatte nie mit Toki gesprochen. Hajime war ihr einmal für ein Referat als Partner zugelost worden. Beim Vortrag war zwar alles gerecht aufgeteilt gewesen, aber hinterher hatte Hajime Katsu erzählt, Toki habe die ganze Arbeit einfach alleine gemacht und ihm drei Tage vor dem Vortrag seine Hälfte vom Text gegeben. „Lern einfach deinen Text, den Rest mach ich. Du würdest mich nur ausbremsen. Lass mich also einfach machen und verdirb mir nicht die Note“, hatte er sie zitiert. Und als guter, treuer Freund hatte Katsu natürlich eingewilligt, mit Hajime den Text zu üben. Katsu erinnerte sich noch genau an diese drei Tage. Jeden Nachmittag hatte er mit Hajime geübt, bis es endlich saß. Es war die Hölle gewesen und einzig Katsus gutmütiger, speziell für Freunde reservierter Geduld hatte es am Ende geklappt. Während Hajime ihn direkt nach dem Vortrag wieder vergessen hatte, könnte Katsu diesen Text heute, ein ganzes Jahr später, noch auswendig aufsagen, so sehr hatte er sich in sein Gedächtnis eingebrannt. War auch kein Wunder nach insgesamt zwölf Stunden Übung. Nacht Katsus Logik blieb so etwas ein Leben lang hängen. Dass Toki diesen Text verfasst hatte, hatte Hajime allerdings erst hinterher erzählt, und wenn Katsu ihn sich so noch einmal im Kopf abspielte – er war perfekt gelungen. Das Referat selbst war genauso hervorragend gewesen. Überhaupt nicht langweilig, gut verständlich, mit einem kreativen Touch und übersichtlich gestaltet. Toki hatte es auch bei Vorträgen drauf. Nur… Warum lag ihr immer so viel daran, überall die Beste zu sein? Das hatte Katsu sich schon immer gefragt. Er selbst hasste es zu verlieren, aber anders als Toki strengte er sich nur an, wenn ihn das Thema auch persönlich interessierte. Wenn er dann doch mal verlor, war er natürlich wütend. Aber Toki schürte Hass – wochenlang, und sie gab alles, egal worum es ging. Jetzt wo ich daran zurückdenke… Gegen wen hat Toki eigentlich die letzten Jahre ständig Hass geschürt? Es gab niemanden, der ihr ernsthaft Konkurrenz machen konnte, aber da auch nie jemand das Dorf verlassen hatte, passte das einfach nicht zusammen. Doch Katsu erinnerte sich deutlich an Momente, in denen Toki ausgesehen hatte, als wollte sie die Welt brennen sehen. Nur warum? Ein Grund, ein Gegner für sie, fiel ihm nicht ein. „Noch drei Minuten“, schaltete sich Frau Houjou ein. Zehn Minuten für eine Zusammenfassung waren geradezu lächerlich viel, aber Frau Houjou zeigte sich stets großzügig, was Zeitrahmen anging. Nicht dass sich irgendwer daran störte, geschweige denn sich deswegen beschwerte. „Lest euch alles nochmal durch und überlegt, ob alles so dasteht, wie ihr es vermitteln wolltet.“ Die Mühe machte Katsu sich nicht. Toki machte auch keine Anstalten, etwas auszubessern. Aber die Kleinen sahen total hektisch noch einmal an, was sie geschrieben hatten, suchten Fehler in der Rechtschreibung oder Grammatik. Hajime und Akira überschrieben einige Stellen. „Beruhigt euch“, lachte Frau Houjou. „Das wird nicht benotet. Habt ihr es alle? Gut, dann weg mit den Stiften und wir schauen uns ein paar Ergebnisse an. Zuerst jemand Freiwilliges?“ Eine Weile war alles ruhig und still. Im Sommer hörte man in solchen Momenten die Zikaden draußen, aber in den kalten Jahreszeiten war es still wie in einem Leichenhaus. Katsu überlegte schon, ob er sich ausnahmsweise mal für die Gruppe aufopfern sollte, als Arata die Hand hob und aufsprang. Oh Gott, dachte Katsu. Arata war das jüngste von Frau Houjous drei Kindern und so etwas wie der Klassenclown. Er fraß eigentlich immer irgendwas aus. Katsu fand es zwar meistens lustig, aber allgemein hatte Arata sich einen Namen gemacht, sodass man automatisch bei jeder seiner Bewegungen „Oh Gott…!“ dachte. Aratas Zusammenfassung war schön geschrieben, aber dann doch irgendwie viel zu knapp, obwohl nur ein Satz pro Absatz vorgeschrieben worden war. Toki sah verächtlich die Tafel an, das konnte Katsu sogar aus der letzten Reihe erkennen. Und kaum hopste Arata zurück auf seinen Platz, hob sie die Hand. Frau Houjou nickte anerkennend. „Toll von dir, aber deine Zusammenfassung heben wir uns noch etwas auf. Zuerst würde ich gerne ein paar anderen auf den Zahn fühlen. Sakura-san, Saionji Yuno-san, Fujimori Wakaba-san, Nakamura-kun. Ihr seid die Nächsten, in der eben genannten Reihenfolge.“

Von diesen vieren war Akiras Zusammenfassung eindeutig die beste. So kannte Katsu ihn. Frau Houjou verteilte ausführliches Lob, dann winkte sie Toki nach vorne. Toki stand auf, trat vor die Klasse und las vor. Sie ist wirklich sehr gut, dachte Katsu. Sie trägt selbstbewusst ihre Leistungen vor und erwartet nicht, groß dafür gelobt oder kritisiert zu werden. Aber eine gute Bewertung und den ersten Platz braucht sie trotzdem. Ich werde einfach nicht ganz schlau aus ihr. Toki las zu Ende und Frau Houjou ergriff das Wort. „Wirklich ausgezeichnet, Saotome-san, wie immer! Allerdings, muss ich hier sagen, hat diesmal Nakamura-kun das beste Ergebnis abgeliefert. Deine Zusammenfassung war spitze, nur ein bisschen zu lang. Gut, dann könnt ihr jetzt mit jemandem vor oder neben euch die Texte tauschen und gegenseitig Verbesserungsvorschläge darunter schreiben. Nehmt euch den Rest der Stunde Zeit dafür.“ Wow, ganze fünfzehn Minuten. Katsu tauschte mit Akira und malte einfach ein Sternchen unter die Zusammenfassung. Was soll man da schon groß verbessern? Katsu musterte Toki. Sie sah alles andere als gut gelaunt oder zufrieden mit sich aus. Im Gegenteil, sie starrte Akira an, als wolle sie ihn töten. Nicht erwürgen, sondern auf grauenvolle andere Weise töten. Katsu gab Akira wortlos sein Heft zurück. Auf dessen „Sonst findest du doch immer was zu meckern!“ zuckte er nur mit den Schultern.

Kapitel 3

Katsu klickte sich durch die Einstellungen seines Computers. Ich weiß nicht, wie Hikaru es hinbekommen hat, aber es ist besser, wenn ich mein Passwort ändere, bevor er irgendwelchen Unsinn anstellt. Klopf, klopf. „Was?“, fragte Katsu angenervt. Sakiko kam herein. „‘tschuldige, wenn ich dich störe. Aber dieses Mathe macht mich wahnsinnig und ich bin doch in einer halben Stunde mit Miko und Yuno verabredet!“ „Lass dir doch von ihnen helfen. Die beiden sind älter als du und Miko ist echt gut in Mathe.“ Unruhig schüttelte Sakiko den Kopf. „Geht nicht, wir kümmern uns um Mikos Garten.“ Sie deutete auf den Rucksack auf ihrem Rücken, der noch halb offen war. „Danach ziehen wir uns um und hören der Dorfältesten Higurashi zu. Du kommst doch auch?“ Katsu zuckte mit den Schultern. „Mal sehen, vielleicht.“ Gruppenszenarien machten ihn immer ganz nervös, das konnte er nicht leiden. „Und danach muss ich ins Bett. Bitte, Katsu!“, bettelte Sakiko. Sie sah schon ziemlich unruhig aus. Katsu seufzte – was tat man nicht alles für seine Schwester – und riss ihr das Matheheft aus der Hand. „Ist ja gut, ist ja gut! Ich schreib dir die Lösungen auf, aber du musst sie übertragen. Sonst merkt Frau Sakura, dass das nicht deine Handschrift ist, ich schreib viel kleiner und enger als du.“ Sakiko nickte eifrig. „Danke, das dauert nicht mal halb so lange und geht ganz bequem bei Miko. Du bist der Beste! Ich komm in ein paar Minuten nochmal!“ Katsu unterbrach seine Computerarbeit und kritzelte die Lösungen auf ein Blatt Papier. Er war ein Jahr älter als Sakiko, ihr Mathe war für ihn ein Kinderspiel. Ihre Verabredung allerdings… Komme ich mit zur Dorfältesten? Sie hat immer etwas zu erzählen und ihr zuzuhören gehört quasi zum guten Ton. Und etwas sagt mir, dass ihr Geschwafel mir Antworten auf meine Fragen geben kann. Er hielt inne. Welche Fragen? Er wurde still. Seine Hand schrieb nicht mehr. Der Computerbildschirm leuchtete und die Uhr über seinem Bett tickte. Es war absolut still, nur fern war Sakiko beim Rumpeln zu vernehmen. Aber Katsu fühlte, dass sein Kopf leer war. Ihm fielen die Fragen nicht mehr ein, die er gehabt hatte. Was soll das? Man denkt keinen Unsinn, man sagt höchstens welchen. Aber ich vergesse doch auch nicht einfach, was ich mich frage! Unten schrie Sakiko überrascht auf. Wahrscheinlich war ihr etwas runtergefallen. Katsu wurde wie durch ein Fingerschnipsen in die Realität zurückgeholt. Er schrieb die letzten Antworten auf und drückte Sakiko das Blatt und Heft in die Hand. Sein neues Passwort legte er aus purer Laune auf „Antworten“ fest.

Katsu warf einen Blick auf die Uhr. 19:30. In einer halben Stunde fing die Geschichtenstunde bei Higurashi an. Hingehen oder nicht? Er blies sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht.

Er musste eingenickt sein, denn er fuhr auf, als Sakiko gut gelaunt die Haustür zuknallte, als sie zurückkam. Katsu warf einen Blick auf ein Buch neben sich. Ach ja. Er hatte sich dann entschieden, nicht hinzugehen. Aber irgendwie ärgerte seine Entscheidung jetzt. Auch egal, dachte er. Morgen ist Freitag, da gehe ich hin. Jetzt habe ich erst mal Hunger. Also aufstehen.

Katsu setzte sich unten an den Esstisch, er hatte eine Portion Misosuppe im Kühlschrank gefunden. „Und hattest du Spaß?“, fragte er Sakiko, obwohl die Antwort auf der Hand lag. Wenn er müde war, fing er immer an, Höflichkeitsfragen zu stellen. Igitt. „Und wie! Fang doch auch mal mit Gärtnern an! Und warum warst du nicht bei Higurashi? Sie hat so coole Geschichten zu erzählen!“ „Oh bitte, wer sagt denn, dass es verpflichtend ist, sich jeden Abend Geschichten aus der Steinzeit anzuhören?“, mischte sich jemand ein. Katsu und Sakiko sahen zu dem großen Rahmen aus Balken, der den Kücheneingang darstellte. Vollkommen unbemerkt war Hikaru hereingekommen und lehnte jetzt in besagtem Eingang. „Das mein ich doch gar nicht! Den ganzen Tag hockt Katsu zu Hause, er geht nicht raus, um sich mal zu bewegen oder mit anderen zu unterhalten. Und wenn etwas Spaß macht, macht er trotzdem nicht mit!“, erklärte Sakiko entrüstet. „Ich bin eben gern alleine“, verteidigte sich Katsu. Ihm gingen noch so einige andere Sachen durch den Kopf: „Was ist eigentlich der Punkt dieses Gesprächs?“ „Warum meckerst du mich an, strahlst aber trotzdem wie ein Honigkuchenpferd?“ „Ich habe Spaß an Dingen. Nur eben nicht die Dinge, die du für spaßig hältst.“ „Wer sagt, dass ich durch die Gartenerde kriechen will, während es sommerliche 40 Grad hat?“ „Kann ich verstehen. Aber ein Stubenhocker bist du schon“, widersprach Hikaru. Auf wessen Seite stehst du eigentlich?!, dachte Katsu, bevor er an Sakiko gewandt hinzufügte: „Du und ich haben sehr unterschiedliche Vorstellungen von Spaß. Und abgesehen davon, stimmt das gar nicht. Ich war erst Montag bei Akira und hab mit ihm auf dem Dachboden Karten gespielt. War schön ruhig! Und spaßig.

„Ja, aber wie oft in der Woche machst du das bitte?“

„Mann, lass mich doch einfach! Reicht doch, wenn eine von uns den ganzen Tag durch die Gegend wirbelt! Ich hänge den halben Tag in der Schule rum, das ist mir genug menschliche Interaktion. Warum hältst du jetzt nicht einfach die Klappe und isst auch was? Mama ist mit einer Freundin bei den Muraguchis, sie hat jedem von uns eine Misosuppe in den Kühlschrank gestellt.“ Sakiko winkte ab, immer noch ihre permanente gute Laune versprühend. „Hikaru kann meine Portion haben, ich hab schon mit Yuno bei Miko gegessen.“ Dann flitzte sie weiter durchs Haus und Hikaru nahm sich seine doppelte Portion.

Katsu aß auf, erhob sich und verzog sich in sein Zimmer. Sakiko war ihm oft zu lebhaft. Oder eigentlich nur, wenn sie ihn auch dazu bringen wollte, mehr Zeit draußen zu verbringen. Er verbrachte genug Zeit draußen, fand Katsu. Hikaru befand sich zwischen den Extremen. Er war sanguinisch, ausgefuchst und praktisch wie Sakiko und zurückgezogen, bequem und nachdenklich wie Katsu. Er war das mehr oder weniger bindende Glied, das dafür sorgte, dass Sakiko und Katsu sich nicht eines Tages umbrachten. Und ganz nebenbei sorgte er dafür, dass die Technik im Haus, die kein Computer war, rundlief. Hikaru verbrachte viel Zeit draußen. Was er trieb und wohin er immer verschwand, erzählte er nie. Da half höchstens Herumfragen. Aber wenn Katsu auch mal draußen war, sah er ihn gelegentlich irgendwo zusammen mit Miyako, Yuno Saionjis älterer Schwester. Überhaupt redete Hikaru von ihnen am wenigsten. Ihn als stummen Fisch zu bezeichnen wäre aber auch falsch. Und eine Eigenschaft, die Katsu an seinem Bruder nervte, war seine Vorliebe, andere aufzuziehen. Hauptsächlich, weil er das bei jedem hinbekam. Weshalb er ja erst vor ein paar Stunden sein Passwort geändert hatte.

Morgen gehe ich zu Higurashi.

Kapitel 4

Als Katsu sich am nächsten Morgen auf seinen Platz setzte, waren Akira, Wakaba und Toki bereits da. Sakiko und Hikaru würden gleich nachkommen, heute hatte er es als Erster ins Bad geschafft. Zusätzlich wollte Hikaru Miyako abholen und Sakiko trödelte immer so im Bad.

Akiras Anwesenheit war selbstverständlich, ebenso die von Klassensprecherin Wakaba und Toki. Die drei waren immer überpünktlich, aber egal was geschah, Toki saß immer als Erstes im Klassenzimmer. Kaum saß Katsu, baute Akira sich vor ihm auf und schubste streng seine Brille zurecht. „Wo warst du gestern? Warum warst du nicht bei Higurashi?“ Das fragte er stets, wenn Katsu nicht da war. „Tut mir leid, das Gesetz gebrochen zu haben“, meinte Katsu ironisch. „Ich hatte einfach keine Lust. Konkret gesagt, habe ich über etwas nachgedacht und bin dabei eingeschlafen. Du könntest also sagen, ich habe Higurashis Geschichtenstunde verpennt“, erklärte er dann. Akira schüttelte missbilligend den Kopf. „Aber heute Abend werde ich da sein“, versprach Katsu. Akira setzte zu einem Vortrag an, dass sie als die Älteren Vorbilder sein mussten, aber jetzt schneiten Sakiko und Yuno herein, gefolgt von Hikaru, Miyako und Hajime. Und Hajime zu begrüßen, war Akira dann doch wichtiger als ein Vortrag, von dem er wusste, dass Katsu ihm sowieso nicht zuhören würde. „Schön, dass du wenigstens heute anwesend sein wirst“, seufzte er darum nur, dann wandte er sich Hajime zu. Nicht ohne vorher seine Brille erneut zurechtzurücken, natürlich. Katsu fand diese Angewohnheit von ihm lustig. Es war fast so, als wollte Akira sich streng aussehen lassen, was ihm aber mit seiner fürsorglichen, konformen und hilfsbereiten Natur nie gelingen würde. Hajime andererseits gab sich nie Mühe, ernst oder streng zu wirken. Er war zufrieden damit, ein lebensfroher Optimist zu sein. Katsu war mit nicht besonders viel zufrieden, aber damit, seinen eigenen Weg zu gehen und damit, anders zu sein – wobei Letzteres auch ein Hindernis darstellen konnte, aber solange anders zu sein bedeutete, im Bereich des Möglichen und innovativ denken und einen Computer bedienen zu können, nicht in den Ansichten von vor einem Dutzend Jahre steckengeblieben und ein braves Lamm ohne Interesse an etwas Neuem zu sein, war Katsu bereit, diesen Preis zu zahlen. Regelkonform und 0815 zu sein, war nicht, worauf er abzielte. Dann kam schließlich auch Frau Houjou herein, riss die Klasse aus ihren Gesprächen und Katsu aus seinen Gedanken.

Akira und Hajime taten zwar, als wäre nichts, aber Hajime – weniger taktvoll als Akira – schaffte es nicht, dass Katsu die gelegentlichen verstohlenen Blicke entgingen. Vorhin hatte er schon wieder nicht aufgepasst und war aufgerufen worden. Weil es immerhin um die Interpretation eines Textes ging, hatte er sich etwas zusammenreimen können, wenn auch nichts besonders Gutes. Katsu war vielleicht kein sozialer Überflieger, aber nicht mal ihm entging etwas so Offensichtliches wie Hajimes Blicke, die geradezu schrien: „Komm schon, ich weiß, dass irgendwas ist! Warum spuckst du es nicht aus?!“ Und er hatte nicht vor, diesen Blicken nachzugeben. Er würde ganz sicher nicht sagen, dass er zu Higurashi gehen wollte, weil er glaubte, ihre Geschichten könnten ihm aus irgendeinem Grund dabei helfen, seine Gedanken von gestern wiederzufinden. Wie bescheuert klang das denn?

Als er noch klein gewesen war, hatte er es geliebt, zu Higurashi zu gehen. Damals hatte seine Mutter ihn bestrafen können, indem sie ihm verboten hatte, ihren Geschichten zu lauschen. Aber als er älter geworden war, hatte er mehr oder weniger das Interesse verloren. Warum genau, wusste er selbst nicht. Er nahm nur noch pro forma an den Erzählungen teil und kam schließlich nur noch unregelmäßig. Und doch war er den Einfluss nie richtig losgeworden. Higurashis Weisheiten hingen ihm fest im Gedächtnis, und zwar für immer. Und manchmal, wenn er nachts im Bett lag, spielten sich ihre Geschichten wieder in seinen Gedanken ab. Jetzt, wo er darüber nachdachte, hatte er vielleicht das Interesse verloren, weil er all das für Vergangenheit gehalten hatte, für etwas, das ihm in der Gegenwart und Zukunft nichts brachte. Nun ja, inzwischen war er schlauer und wusste, dass Vergangenheit sich oft wiederholte, wenn auch abgewandelt.

Am Abend machte er sich also mit Sakiko auf den Weg und setzte sich mit den anderen Dorfkindern vor das Haus der Dorfältesten. Hikaru war wirklich als Einziger nicht da, alle anderen hatten sich brav zusammengerottet – selbst Miyako Saionji, und sie war älter als Katsu. Sakiko setzte sich neben Yuno, sobald sie sie sah und so endete Katsu zwischen Akira und Toki. Akira sagte nichts, aber allein sein Seitenblick sprach für sich: ‚So gehört sich das.‘ Bevor die Sache noch schräger werden konnte, öffnete sich die Haustür und Tomoe Higurashi kniete sich in den Eingang. „Was erzählen Sie uns heute?“, fragte Arata ganz vorne. Higurashi lächelte. „Die Geschichte von heute habe ich noch nie erzählt, glaube ich. Sie ist schon lange her, einige Generationen.“ „Also mehr so eine Art Legende?“, hakte Kaori, Aratas ältere Schwester, nach. Ja, Arata hatte zwei ältere Geschwister, nicht mal im Ansatz solche Unruhestifter wie er. „Nein, eine richtige Legende ist es nicht. Man weiß, dass es wirklich so passiert ist, es ist eine innerhalb des Dorfs überlieferte tragische Geschichte. Ich rede von der Geschichte vom Tod bei Nacht auf dem Reisfeld. Bereit?“ Alle Kinder und Jugendlichen warteten gespannt. Higurashi legte los und erzählte:

„Vor sehr langer Zeit lebten hier zwei Frauen namens Uta und Sumi. Uta war wunderschön, die personifizierte Perfektion. Alle liebten sie. Sumi war ebenfalls perfekt, doch sie trug etwas in sich, das sie hässlicher machte als alles Elend in der Welt: Hass und Neid. Sie war schrecklich neidisch auf Uta, von allen geliebt mit ihr in ihrem Schatten, als zweiten Platz. Am Tag unseres Schreinfestes, während des Tanzes, lockte sie Uta zum Fluss, stieß sie hinein und ließ sie ertrinken. Zu ihrem Pech hatte Utas Sohn, damals noch ein Kind, alles gesehen und erzählte den anderen beim Fest sofort, was passiert war. Sumi sollte für ihre Tat mit dem Leben bezahlen, doch Utas Sohn flehte die Leute an, sie nicht zu töten, er habe eine bessere Idee. Weil es um seine Mutter ging, erlaubte der Dorfälteste ihm also, einen Vorschlag zu machen. Statt Sumi einfach nur zu töten, wollte Utas Sohn ihr ein anderes Schicksal geben: Arbeit auf den Reisfeldern bis ans Ende ihres Lebens von Sonnenauf- bis -untergang. Sie wurde zu einer Sklavin, vom ganzen Dorf gehasst und verachtet für ihre Tat, Uta in den Fluss gestoßen zu haben. Sumi starb ungewöhnlich früh, vor Erschöpfung und Bitterkeit, doch ihre verdorbene Seele blieb als Vermächtnis erhalten, so sagt man es sich. Jeder hier soll Sumis Schwärze in sich tragen. Das war ihr Wunsch, als sie nachts auf dem Reisfeld starb. Damit ihre Beweggründe verstanden werden.“ Higurashi schwieg kurz, um zu zeigen, dass die Geschichte zu Ende war. Dann sagte Yuno: „Ich kenne diese Geschichte. Bei jedem Schreinfest wird seither immer etwas Reis in den Fluss geworfen, bevor das Fest beginnt, um an Uta zu erinnern, die genauso rein war wie der Reis weiß. Der Reis, für den Sumi schuften musste wird in den Fluss geworfen, an dem sie ihr Leid wählte.“ Higurashi nickte. „Ganz richtig. Aus Neid und Hass entsteht alles Übel und Elend. Erlaubt diesen Gefühlen nicht,, euch zu verschlingen!“ Bevor Katsu sich bremsen konnte, hörte er sich sagen: „Falsch.“ Alle drehten sich zu ihm um. „Ich meine, Sie haben Recht, aber… beides entsteht aus Schwäche.“ „Welche Schwäche?“, fragte Higurashi interessiert. „Das ist verschieden. Aus der individuellen Schwäche erwächst zuerst Neid, dann Hass und daraus dann alles Böse. Alles Elend, das heute existiert, existiert nur wegen Schwäche“, meinte Katsu. Higurashi lächelte. „Eine wirklich sehr interessante Beobachtung, mein lieber Katsu. Jahrelang nun schon desinteressiert und gelegentlich auch abwesend, aber immer noch sehr scharfsinnig.“ Katsu sagte nichts dazu. „Gab es einige unserer Familien auch damals schon?“, fragte Akira. „Tatsächlich. Die Saionjis, unsere Schreinfamilie, zum Beispiel. Oder meine, die Higurashis.“ Sie redete noch ein wenig mit den Jüngeren, beantwortete Fragen zur Geschichte, hörte sich Erlebnisse vom Schultag an, aber Katsu hörte nicht mehr zu. Er und die Älteren standen bereits auf, um zu gehen und den kleinen noch fünf Minuten ihren Spaß zu lassen. Dabei haftete sein Blick auf Toki. Toki hatte ihren zur Erde gerichtet, aber sie sah die Erde an, als stellte sie eine Bedrohung für sie dar. Entweder hatte Higurashis Geschichte sie schwer verstört oder es war etwas anderes, aber irgendwas hatte sie aus der Bahn geworfen. Katsu beschloss, ein zweites Mal an diesem Abend zuerst den Mund aufzumachen. „So verstörend?“, fragte er. Und innerhalb einer Sekunde war er Tokis üblichem hemmungslosen Augenkontakt ausgesetzt. „Ich kenne die Geschichte schon. Ich hab sie ein paarmal gelesen.“

„Warum dann so irritiert?“

Tokis tiefdunkelbraune Augen waren starr auf seine gerichtet, Katsu hatte das Gefühl, durchbohrt zu werden. „Du glaubst also, dass die echte Wurzel allen Übels Schwäche ist?“ „Ja, so ähnlich wie Nietzsche, wenn du ein literarisches Beispiel willst. Aber ich glaube, dass aus Schwäche nicht nur Böses erwachsen kann, darum auch wieder nicht wie Nietzsche.“ Was faselst du, Aratsuki? „Wieso?“ „Gut erkannt. Das ist der gleiche Schluss, zu dem ich damals gekommen bin, als ich die Geschichte gelesen habe. Die Frage, die du dir als nächste stellen solltest: Wo ist deine Schwäche, aus der Neid erwächst?“ Damit drehte sie sich um, bevor Katsu irgendwelche Linien überschreiten konnte. Wobei sich allein Toki anzusprechen schon wie eine Grenzüberschreitung anfühlte. Wie hatte Hajime das bei dem Referat damals ausgehalten? Katsu sah ihr nach, bis Tokis Umriss von der Dunkelheit verschluckt wurde. Toki… Was geht in ihr vor?

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  • Himmelsstürmer Yomi
  • Zu dieser Geschichte gibt es 11 Kommentare

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    Yui – 12. Februar 2023

    Hallo Yomi, Du schreibst wirklich fantastisch. Der Streibstil ist ausgearbeitet, es ist spannend, und auch die Personen wirken plausibel. Manchmal wären noch Ortsbeschreibungen hilfreich, um noch intensiver in das Geschehen einzutauchen. Besonders toll finde ich die japanische Kultur in deinen Texten und Katsus strukturelles Denken. Was macht er eigentlich in seiner Freizeit? Irgendwas mit seinem Computer, oder? Macht er sonst noch was gerne, z.B. lesen? Trainiert er seine geistigen Fähigkeiten z.B. mit Rätseln? Ich bin sehr gespannt und freue mich zu lesen, wie sich die Handlung und ihre Figuren noch entwickeln.

    VG, Yui

    Liberty – 29. Juni 2022

    Hallo Yomi, ich wollte dir nur ganz kurz sagen, dass ich immer einen Satz vor Freude mache, wenn du eine Geschichte hochlädst. Himmelstürmer habe ich verschlungen und jetzt will ich unbedingt wissen, wen Toki übertreffen will. (Ich habe das Gefühl es ist Katsu selbst, aber ich weiß ja noch nicht viel über sie. Bitte ändere das.) Es würde mich sehr freuen, wieder Texte von dir zu lesen. Mach bitte weiter so, Liberty

    Feura – 11. März 2022

    (Rückmeldung Teil 2 Anfang)

    Dass in einer Klasse alle Jahrgänge unterrichtet werden, hast du aber gut durch das Handlungsgeschehen gezeigt, versuch, das mögl. oft so zu machen, sonst wird es langweilig. Abgesehen davon fand ich deinen Anfang(?) toll, auch wenn fraglich ist, ob Katsu noch "gute" Seiten oder sympathische Schwächen offenbart, da er bisher nur als schlau für sein Alter und etw arrogant (schließlich schreckt er nicht davor zurück einen seiner Freunde dumm zu nennen) rüberkam. Aber ansonsten wie gesagt, toll geschrieben, spannende Handlung. Ich bin gespannt, was noch kommt. LG, Feura

    (Ende Rückmeldung Teil 2)

    Feura – 9. März 2022

    Hallo Yomi, als ich deinen Text angefangen habe, habe ich mich gleich geärgert. Du hast so einen guten ersten Satz formuliert und dann verfällst du in den Ich-muss-alles-erklären-Trott, was so ziemlich die langweiligste Weise, Informationen zu vermitteln ist. Verstehe das jetzt nicht falsch, ich fand deinen Text wirklich gut geschrieben (besser als die anderen Texte, die ich bisher hier gelesen habe) aber es ist halt wirklich ärgerlich, wenn das durch sowas versaut wird.

    (Ende des ersten Teils meiner Rückmeldung)

    Ickaj – 5. März 2022

    Hallo Yomi, du verstehst es wirklich spannend zu schreiben. Auch kann man sich, dank deiner detailverliebten Schilderungen sofort in die Geschichte reinversetzen. Ich bin sehr neugierig, was Katsu umtreibt. Deine Ausdrucksweise ist toll.

    Ein Mensch – 1. März 2022

    Hallo Yomi, ich habe Himmelsstürmer verschlungen, und mich dementsprechend riesig über diese Geschichte gefreut. Ich mag deinen Stil wirklich sehr, und würde mir eine Fortsetzung, oder eine andere Geschichte von dir von Herzen wünschen. Ich hoffe, wir lernen Hajime näher kennen, oder Katsu findet jemand anderen, mit dem er die Geschichte bestreiten kann. (Wenn er aber allein bleibt, dann sei es so. )

    Viele Grüße

    Ein Mensch

    Hi – 27. Februar 2022

    voll cool

    Yomi – 4. Februar 2022

    Antwort für Motte: Die Geschichte spielt in Japan.

    lis – 3. Februar 2022

    Das Kapitel ist echt klasse!!

    Mach weiter so! Freue mich auf die Fortsetzung

    Motte – 2. Februar 2022

    Wow Yomi, dieser Anfang (ich hoffe doch, es ist einer, denn ich möchte unbedingt wissen, wie es weiter geht!) ist dir wirklich gut gelungen! Dein Schreibstil ist wirklich toll und es hat mir sehr gut gefallen, wie du Katsus Denken beschrieben hast. Das einzige, wo du vielleicht nochmal drübergucken könntest sind ein paar Wortwiederholungen, aber das ist eigentlich eher nebensächlich. Wo, also in welchem Land, spielt es eigentlich?

    LG Motte

    Luisa – 2. Februar 2022

    Wow die Geschichte ist richtig schön und ich würde mich freuen, wenn du auch ein erstes Kapitel schreiben würdest

    LG: Luisa