November
Geschrieben von Anahit Aghoyan
Vorwort
Sehr geehrte Frau Funke, ich bin Anahit Aghoyan, Übersetzerin und Schriftstellerin aus Armenien, Jerewan. Ich würde gerne meine von "Dark Academia" inspirierte Geschichte teilen, die ich im November schrieb. Das Gedicht von Hovhannes Tumanyan, einem der berühmtesten Schriftsteller und Denker von Armenien, habe ich selbst übersetzt und es war der Geschichte so passend, dass ich es einfach als Vorwort schreiben musste. Die Kurzgeschichte heißt "November" und ist aus der Perspektive eines jungen Schriftstellers dargestellt. Es geht um Liebe und Tod, und wie einsam Menschen sich fühlen können. Ich hoffe, dass die Geschichte jemandem gefällt.
Ein göttlicher Reisende in dem All ist meine Seele.
Von der Erde entfernt, deren Herrlichkeit uneingeweiht.
Sie ging und ging und verschwand in den Sternen weit.
Für die, die unten sind, ist schon fremd meine Seele.
Hovhannes Tumanyan, 1922, Juli 8.
(das Gedicht ist von Anahit Aghoyan übersetzt)
Während die roten und burgundrosa Strahlen des Sonnenuntergangs langsam am schwachen Horizont verschwinden und einem dichten Nachtnebel Platz machen, öffne ich das Fenster mit den knarrenden Holzläden wieder und lasse eine kalte Welle frischer Luft herein. Die Nacht ist die gleiche. Die Nacht ändert sich nie. Es zieht mit seinen Cognac-ähnlichen Nusstönen in seinen Bann. Die silberne Rauchwelle der Zigarette steigt langsam auf, erreicht den bereits leeren Himmel und verschwindet in der Umarmung endloser Dunkelheit. Die brennende Lampe im Zimmer wirft warme Spritzer auf meinen Rücken. Ich spüre seine umarmende Wärme und etwas verändert sich in mir. Und die Zigarette brennt immer noch, und ihre kleinen Funken brennen immer noch, und dann wachen sie wieder auf. Bald lässt es nach, genau wie der Tag, der vor ein paar Stunden lebendig schien. Das Pfeifen des Wasserkochers kommt von innen: laut und unerträglich. Ich gehe in die Küche und finde den roten und bereits abgenutzten Metallkessel auf dem Gasherd, den ich allein gelassen habe. Er schreit immer noch und ruft mich an. Niemand möchte allein sein.
In der Küche ist es stockfinster und man muss vorsichtig über den knarrenden Boden gehen, aber das Licht des Gasherds hilft einem, sich zurechtzufinden. Ich schalte die bläuliche Flamme aus, ziehe mit den Händen meinen Pullover herunter, greife nach dem brennenden, geäderten Griff des Wasserkochers und gehe zurück ins Zimmer. Meine Augen suchen den Tisch. Ich möchte nicht. Es passiert von selbst. Während ich ein paar Minuten lang auf das völlige Chaos an meinem Tisch starre, beschließe ich, es zu vergessen und nähere mich dem kleinen Tisch vor dem Sofa. Die weiße Porzellantasse war mehrere Tage lang mit Schwarztee-Schuppen gefüllt. Ich muss es reinigen. Ich stelle den Wasserkocher auf den Tisch, nehme das Glas und gehe in die Küche wieder.
Ich öffne langsam die alte und abgenutzte Tür des Küchenschranks. Dahinter verbergen sich imaginäre Töpfe, von denen ich keine Ahnung habe. Aber sie wusste es. Sie wusste alles. Die farbenfrohen Bilder darauf scheinen jedes Mal anders zu sein. Ich trage sie herum und versuche, die heiß begehrte Teeschachtel zu finden. Als ich einen grünblau gemusterten Eisenbehälter, der wahrscheinlich Pfeffer enthält, zur Seite nehme, sehe ich eine smaragdfarbige Schachtel. Ich öffne es, als ob sie ein Schatzkästlein wäre. Ich hab’s gefunden. Ich gehe zum Mülleimer, der neben der Spüle steht, nehme einen kleinen Metalllöffel vom Tisch, sammle schnell die am Boden der Tasse angesammelten und aufgequollenen schwarzen Teeflocken auf und schütte sie in den Mülleimer.
Dann kehre ich zum Wasserkocher zurück. Jetzt weint er nicht. Vielleicht fühlt er sich im Raum wohl. Es gibt dort ein warmes Licht, nicht wahr? Wir alle lieben Licht. Ich stelle die Tasse auf den Holztisch, öffne die Smaragdschachtel in meiner Hand, nehme den aromatischen Schwarztee mit meinen Fingern und gieße ihn in die Tasse. Dann fließt das kochende Wasser des Wasserkochers in einer langsamen Welle in das schneeweiße Porzellan, mit weißen Rosen und Blättern: zart und leicht wie ein Gänsefeder. Ich höre ihre Stimme noch. Die Freude, wenn sie sie gekauft hat.
Der Raum wurde vom süßen und glückseligen Duft der Bergamotte erfüllt. Ich liebe diesen Duft. Es führt mich zurück in die Vergangenheit, als ich noch ich selbst war und meine Seele nicht in unwiederbringliche Fragmente gespalten war, es führt mich zu ihr ...
Im warmen Aprikosenlicht des Raumes reicht der dünne Riss im Glas wie eine graue Ader bis zum Boden, und schwarze Federn schweben hier und da wie trockene rote Blätter, die von Zeit zu Zeit im Herbstwind tanzen, verbergen seine Tiefe. Ich atme tief ein und bin berauschend vom süßen Frühlingsatem und dem magischen Duft der Bergamotte. Während ich auf der Couch voller durcheinandergewürfelter Kissen zusammenbreche, schaue ich noch einmal auf den Tisch auf der anderen Seite des Zimmers. Der weiße Stofflampenschirm neben der Couch wirft immer noch orangefarbene Lichte auf meine linke Wange, und aus dem Augenwinkel sehe ich das scharlachrote Licht, das unter meiner rosigen Wange verläuft. Ich schließe die Augen und atme noch einmal den sauren Geschmack der Bergamotte ein. Es gab nur einen Wunsch: ewig zu leben. Und jetzt nichts. Alles ist leer und gefroren, wie Tau an einem frühen Wintermorgen.
Die Langeweile des grauen Alltags wird schon jetzt unerträglich. Ein Schluck des goldenen Saftes des Tees scheint zu mir zurückzukommen und den weit weg liegenden Stapel Papiere zu mir zu ziehen, was eines dieser Chaos ist, das man nie aufräumen, regulieren oder in Ordnung bringen möchte. Ich brauche keine Wahrheit. Ich brauche nicht einmal ein Märchen.
Ich habe vergessen, Honig hinzuzufügen. Ich gehe nicht in die Küche. Es ist weit weg. Ich werde bitter trinken. Und die Lampe wärmt immer noch. Die Lampe ist immer da.
Die Papiere schreien. Ich höre die herzzerreißende Stimme. Sie schreien: Schreibe uns, aber Schreiben ist nicht einfach, besonders, wenn man kein Märchen braucht. Und vielleicht fehlt mir ein Märchen? Ein graues Märchen. Auf dem Tisch vor dem Sofa steht das Buch von Ilias, auf dem Poseidon dargestellt ist. Er blickt auf die Lampe. Für die Griechen endete die Ilias nie. Es war da. Es passierte. Es sollte noch da sein. Das dachte sie auch. Aber siehe rund: sie ist weg und die Ilias liegt immer noch auf dem Tisch.
Ich stehe schnell auf und gehe zum Tisch. Die Markierungen auf dem Tintenstift erinnern an gestern. Ich habe gestern geschrieben. Gestern hat es geklappt, aber heute nicht. Ich betrachte die Zeichnung der Vene, die wie ein Haufen ungleichmäßiger Kratzspuren auf Papier aussieht. Ich führe meine linke Hand an meine Stirn. Es ist überraschend warm. Als ob es brühte. Mein Zeigefinger markiert die schnell verlaufende Vene im rechten Augenwinkel. Ich atme tief ein, werfe den alten goldspitzigen Feder, schreibe wieder nichts und verlasse den Raum, der in bernsteinfarbenes Licht getaucht ist.
Im Flur ist das gleiche Dämmerungsblau. Der lange Holzbügel ist leer. Seltsam. Der Mantel hängt nicht. Wie viele Tage bin ich nicht ausgegangen? Ich öffne den Schrank, wo ihr Duft noch da ist. Hier ist er. Hängt darauf an. Ganz allein. Ich nehme meinen Mantel schnell vom Holzbügel und werfe ihn auf mir. Ich wärme mich auf, und er auch. Nachdem ich die Tür hinter mir knarrend geschlossen hatte, führte mich das Geräusch meiner Schuhe die Treppe hinunter. Wie immer ist der Eingang erfüllt von Gestank und dem Geruch von Bratkartoffeln. Es ist 00:30 Uhr. Welche Pommes? Ich schaue auf die Eisentür, die mich von der Außenwelt trennt. Draußen liegt eine Schicht zitternder Kühle. Es bläst heiß, kochend, lebendig auf meine Stirn.
Die Straßenlaterne steht wieder am selben Ort und ihre tiefschwarzen Metallwurzeln reichen wie ein Baum wie knöcherne Äste bis zur Arterie der Stadt, als würden sie von den Ladungen der schlagenden Aorta Kraft und Nahrung beziehen. Das Licht der Straßenlampe verzaubert mich. Ich stehe mitten auf der Straße. Jerewan ist wie ein Herz. Immer schlagendes Herz, von Tausenden von Menschen. Aber es ist niemand um mich herum. Die Geräusche der Autos sind eingeschlafen. Das einsame Licht der Straßenlaterne ruft alle dazu auf, als würde es sie einladen, an das Fest ihres feurigen Lichts teilzunehmen. Ich sehe Menschen, die ihn umkreisen, deren Tanz um ihn herum meine Augen betäubt, mich nur bis zu diesem Punkt zwingt und in die schwarze, endlose Dunkelheit der schrumpfenden Pupillen starrt. Wer sind diese Menschen? Was wenn sie auch dort ist? In dem endlosen Licht von Straßenlampen, die immer im November leben.
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