Alice Cao Vietnamesische Illustratorin mit Wohnsitz in England
WebsiteWarum bist du Illustratorin geworden?
Als mir in meinem letzten Schuljahr bewusst wurde, dass die Kunst mir die meiste Freude bereitet und dass ich wohl auch ein bisschen Talent habe, wuchs der Wunsch in mir, eine kreative Laufbahn einzuschlagen. Und während meiner Abschlusszeit erkannte ich, dass mir an der Kunst nicht einfach nur gefiel, schöne Bilder zu malen, sondern mit Bildern Probleme zu lösen. Ich mag die Herausforderung, Ideen in Bilder zu übersetzen, Wörter auf dem Papier in Bilder zu verwandeln. Und so kam es, dass ich an der Cambridge School of Art begann, Illustration zu studieren.
Wie sieht so ein Arbeitstag bei dir aus?
In der Regel wache ich um 8:00 Uhr morgens auf, trainiere ein bisschen, frühstücke und beginne dann um 10:00 Uhr mit der Arbeit. Zuerst lese ich meine Emails und erledige den Verwaltungskram. Dann gehe ich durch meinen Projektkalender, entscheide, was Priorität hat und ich heute erledigen sollte und beginne mit der Arbeit. Gegen 13:00 Uhr mache ich eine Stunde Mittagspause und arbeite danach weiter bis 19:00 Uhr. In der letzten Zeit hatte ich das Glück, für ein paar dauerhafte Projekte täglich zeichnen zu können, aber oft verbringe ich mehr Zeit mit dem Schreiben von Emails, mit Troubleshooting, Planung, Recherche, Steuerangelegenheiten und Marketing. Das sind die Pros und Kontras, wenn man selbständig arbeitet — man ist sein eigener Chef, aber man muss auch alles selbst erledigen. Ich würde es aber um nichts in der Welt ändern wollen.
Gibt es Illustratoren, die dich beeinflusst haben/beeinflussen?
Viele, viele, viele! Wie man meinen Illustrationen vielleicht schon anmerkt, bin ich stark beeinflusst von alten Meistern der Illustration: Gustav Doré, Harry Clarke, Aubrey Beardsley, Arthur Rackham und Franklin Booth. Ich bin ein großer Fan der Golden Age Illustratoren wie z.B. NC Wyeth, JC Leyendecker, Norman Rockwell, EH Shepard und Bernie Wrightson. Außerdem inspirieren mich die Arbeiten meiner Zeitgenossen und Kollegen: Nicole Rifkin, Tran Nguyen, Olivia Daw, Marlowe Lune, nur um ein paar von ihnen zu nennen. Ich könnte die Liste ewig fortführen.
Was war deine allererste Illustration?
Das ist eine schwierige Frage! Ich habe früher sehr absonderliche Geschichten in meine Hausaufgabenhefte geschrieben und illustriert. Die hab' ich dann rausgerissen und an meine Schulfreunde verteilt, falls das schon zählt? Meine erste, professionelle Illustration, mit der ich Geld verdient habe, war ein Buchcover für einen Freund, den ich über eine Schreib-Webseite kennengelernt und der seine Bücher selbst publiziert hatte. Das Buch war "The Brandywine Prophet" von Jake Vander Ark. Man kann es immer noch auf Amazon finden.
Was inspiriert dich? Woher kommen die Ideen?
Ich stelle mir gerne vor, auf den Schultern eines Riesen zu stehen. Fast jede meiner Arbeiten ist beeinflusst durch die Geschichte der Kunst und zeigt meinen Respekt ihr gegenüber. Ich bin besessen von den Präraffaeliten und empfinde deren Werk als unendliche Quelle der Inspiration. Ich bewundere außerdem Fantasie und Mythologie jeglicher Art. Die griechische Mythologie ist zwar mein Favorit, aber kürzlich habe ich mich auf die Spuren meiner Wurzeln begeben und bin auf dabei auf einen Reichtum an fantastischen Ideen in der vietnamesischen Mythologie gestoßen. Außerdem habe ich das Glück, in einer reizenden, kleinen Stadt in England zu leben, wo man Geschichte in jeder kleinen Wandspalte findet. Wo es Geschichte gibt, gibt es auch Geschichten, und wo es Geschichten gibt, da stehen die Illustrationen schon Schlange, um entstehen zu dürfen.
Hast du einen Lieblingsillustrator/-künstler?
Oh, das ist eine gemeine Frage. Ich kann mich nicht für einen bestimmten entscheiden. Weil ich bereits eine sehr umfangreiche Antwort auf die Frage zu den Illustratoren, die mich beeinflussen, gegeben habe, würde ich sagen, dass Neil Gaiman mein Lieblingsautor ist. Das "Graveyard Buch" war einer der Auslöser, die in mir den Wunsch wachsen ließen, Illustratorin zu werden.
Hörst du beim Illustrieren Musik oder Hörbücher, oder soll es lieber still sein?
Ja, ich höre mir viel an, während ich arbeite. Und ich hab’ dafür auch ein spezielles System! Bei der Ideenfindung höre ich viel Japan Pop, weil mir das Antrieb gibt, mich anspornt und mich die Song-Texte nicht ablenken, da ich Japanisch nicht verstehe. Manchmal brauche ich Musik, die mich in eine ganz bestimmte Stimmung bringt — Keltische Musik, zum Beispiel, wenn ich eine Geschichte über Feen illustriere. Wenn ich mit den Zeichnungen fertig bin und mit der Tinte weiter arbeite, was weniger Kopfarbeit als Zeichenkunst verlangt, dann kann ich die Stunden mit einem Podcast oder einem Hörbuch verbringen. Mit Stille kann ich nicht gut umgehen. Ich muss immer etwas im Hintergrund hören.
Hast du einen Lieblingsplatz zum Illustrieren?
Das ist mein Atelier bei mir zu Hause, wo ich sehr viel Zeit verbringe. Deshalb finden sich dort auch ganz viele Dinge, die Freude ausstrahlen. Das motiviert mich, täglich an die Arbeit zu gehen, weil ich die Zeit in einer gemütlichen Atmosphäre verbringe, umgeben von meinen Lieblingsdingen. Ich hab’ einen großen Hang dazu, jeden Aspekt des Lebens zu romantisieren.
Gibt es eine Wunschgeschichte, die du gerne mal illustrieren würdest?
"Piranesi" von Susanna Clarke. Ich liebe Statuen und Räume, die Zwischenwelten eröffnen. Und so erscheint es mir traumhaft, einem solchen von Statuen bevölkerten Raum Gestalt zu geben. Ich würde außerdem sehr gerne die vietnamesische Ursprungsmythologie illustrieren. Laut dieses Mythos entstammt das vietnamesische Volk den Kindern von Bergfeen und Meeresdrachen, und ich denke, das sollten mehr Menschen erfahren.
Gibt es eine Illustration, auf die du besonders stolz bist?
Die Illustration von Meggie mit ihren Büchern und ihrer Bücherkiste, die ich für die Inkheart-Sonderausgabe gezeichnet habe. Manchmal läuft einfach alles so, wie ich es mir wünsche, und das war bei dieser Illustration der Fall.
Wenn du gerade nicht illustrierst, was tust du dann gerne?
Ich bin ein Nimmersatt, was Hobbies betrifft, was natürlich für jemanden, der kaum Zeit für Hobbies hat, schwierig ist. Wenn ich nicht am Zeichentisch sitze, dann kann man mich sehr wahrscheinlich dabei beobachten, wie ich mich um meine Pflanzen kümmere, sticke, oder wie ich rund ums Haus alles Mögliche erledige. Es kommt darauf an, in welcher Stimmung ich gerade bin. Ich schaue mir außerdem sehr gerne und sehr oft Animationsfilme an.
Was macht für dich den Beruf des Illustrators aus?
Für mich ist das Illustrieren dem Übersetzen oder der Interpretation sehr ähnlich. Ich bekomme ein Konzept und die Aufgabe ist dann, mich in diese Welt zu begeben, um einen visuellen Weg zu finden, das Konzept einem Publikum nahezubringen. Aber dazu gehört auch, dass ich meinen eigenen Stil einbringe. Es gibt da die Geschichte von einem japanischen Professor, der seine Studenten bittet, den Satz "Ich liebe dich" ins Japanische zu übersetzen. Jeder der Studenten gibt eine andere Antwort. Und eine davon bedeutet so viel wie "Ist der Mond nicht wunderschön heute Nacht?" Die Geschichte berührt mich, denn sie drückt aus, wie es sich anfühlt, ein Illustrator zu sein. Hundert Illustratoren werden dieselbe Geschichte auf hundert verschiedene Arten illustrieren. Und jeder einzelne wird sagen: "So sieht die Geschichte durch meine Augen betrachtet aus." Ich finde, so etwas tun zu können, ist etwas Besonderes.
Was macht deiner Meinung nach einen guten Illustrator aus?
Ich komme immer wieder darauf zurück, was einer meiner Tutoren mal zu uns sagte, als ich an der Cambridge School of Art studierte. Als er den Unterschied erklärte zwischen einem bildenden Künstler und einem Illustrator, sagte er: "Ein bildender Künstler schaut nach innen, ein Illustrator schaut nach außen. Ein bildender Künstler muss sich nicht sorgen, ob das Publikum sein Werk versteht oder nicht. Es liegt im Auge des Betrachters. Man kann nicht darin scheitern, Kunst zu erschaffen. Ein Illustrator hingegen muss darauf Acht geben, dass das Publikum das Bild versteht, denn unsere Aufgabe ist es, Informationen zu übermitteln. Es gibt zwar immer Raum für Interpretation, aber wenn man versucht A auszudrücken, die Leute aber B verstehen, dann ist deine Illustration gescheitert. Kunst kann einfach da sein. Illustration muss einen Zweck erfüllen. Ein guter Illustrator ist für mich daher jemand, der beständig Illustrationen schafft, die ihren Zweck erfüllen.
Hast du manchmal auch einfach keine Lust zu zeichnen/zu malen? Musst du dich dann motivieren? Und wenn ja, wie machst du das? Gibt es so etwas wie eine Schreibblockade auch beim Illustrieren? Also so eine Kreativblockade?
Ich glaube, die kennt jeder. Es klingt klischeehaft, aber ich denke, eine Pause hilft. Manchmal starrt man stundenlang auf ein Blatt Papier und rauft sich die Haare, weil einem nicht eine einzige Idee kommt. Man kann dann noch weitere Stunden dort sitzen und dasselbe tun, oder man kann eine Pause machen und die Lösung in einem Blatt entdecken, das den Fluss runtertreibt, oder in der Art, wie sich das Nachmittagslicht in einer Tasse Tee fängt. Ich sehe eine Kreativblockade gerne so wie einen Spaziergang die Straße hinunter und man trifft auf eine Wand. Man kann mit seinem Kopf jetzt gegen die Wand hauen und vielleicht mit viel Ausdauer ein Loch hineinschlagen, aber dann blutet und schmerzt der Kopf. Wenn man aber eine Sekunde innehält und zurücktritt, um die Wand aus einer anderen Perspektive zu betrachten, entdeckt man vielleicht eine Leiter, die vorher versteckt irgendwo stand.