Du bist schuld

Written by Marystein

Sein Wecker schrillte. Ein weiterer Tag begann. Ray stand auf. Jeder Tag sah gleich aus.
Hauptsächlich war er in seinem kleinen Apartment, wartete auf Neuigkeiten und ignorierte so gut es ging, die Menschen die unten auf der Straße schrien, Schilder in die Luft hielten und Sachen gegen seine Fenster warfen. Den Fernseher machte er nur noch zu den Abendnachrichten an, das Radio ließ er ganz aus. Er konnte es nicht mehr hören. Andauernd wurde über ihn gesprochen.
„Ray Davis“ „Der uneheliche Sohn“ „Der Kranke“
Früher hatte er sich immer gewünscht, dass irgendwann alle über ihn sprechen würden, jeder seinen Namen kannte und er in Fernsehshows auftreten würde. Jetzt wünschte er sich einfach nur sein altes Leben zurück. Es war keinesfalls perfekt gewesen, doch besser als jetzt. Wo er nicht mal kurz vor die Tür gehen konnte, ohne das irgendwer seinen Namen flüsterte oder er komisch angeguckt wurde. Dabei war das alles gar nicht seine Schuld.
Zuerst hatte er noch probiert seine Unschuld zu beweisen, allen die Wahrheit erzählt, wann es immer ging, aber niemand hatte ihm glauben wollen. Irgendwann hatte er es dann aufgegeben. Sein Vater hatte sich auch nicht mehr blicken lassen. Früher hatte er ein tolles Leben gehabt. Er hatte in einer Villa außerhalb von L.A. gelebt, zusammen mit seinem Vater. Unterrichtet wurde er von Zuhause, seine Freizeit verbrachte er auf dem großen
Gelände rund um das Haus oder in einem der vielen Zimmer die er ganz für sich alleine hatte. Zu seinem Vater war er gekommen, als er ungefähr 6 Jahre alt war. Davor hatte er bei seiner Mutter in Washington D.C. gelebt. Aber sie hatte nicht genug Geld, um für sie beide zu sorgen und darum hatte sie ihn zu seinem Vater nach L.A. geschickt. Als er noch jünger war hatte er seinen Vater vergöttert. Er hatte ihm alles gekauft, was sich ein Sechsjähriger wünschen konnte und noch mehr. Nur Freunde hatte er nie gehabt. Als er seinen Vater mal nach anderen Kindern gefragt hatte, er war ungefähr 10 gewesen, hatte sein Vater nur gemeint, dass er viel besser war als andere Kinder und darum auch nicht mit ihnen spielen sollte. Weil er besonders war und die anderen nicht gut genug für ihn. Und dumm wie er damals war, hatte er seinem Vater natürlich geglaubt. Er war also in dem
Glauben aufgewachsen, besser zu sein als alle anderen. In jeglicher Hinsicht. Er war abgehoben geworden, arrogant, hatte sich aufgeführt, als wäre er der König der Welt. Aber im Nachhinein war das keinesfalls seine Schuld. Er war so erzogen worden, das war das einzige was er kannte. Obwohl er in mancher Hinsicht wirklich besser war als andere. Er kannte sich mit Politik der Vergangenheit und der Gegenwart aus, war recht gut in Mathematik und einigen Sprachen und verfügte über ein gutes Allgemeinwissen. Aber das war ihm nicht mehr wichtig. Nichts war ihm mehr wichtig.

Alles hatte vor ungefähr einem Jahr begonnen. Er war gerade 17 geworden, da wollte er nicht mehr nur Zuhause sein. Er wollte raus, in die Stadt, Leute treffen, alles was für andere Teenager ganz normal war. Und er war bereit zu handeln. Am Abend nach seinem Geburtstag, hatte er seine Sachen gepackt, war aus dem Fenster geklettert und hatte das Grundstück verlassen. Er war einfach immer weiter in Richtung der Lichter gelaufen. Irgendwann war er erschöpft, hatte sich an den Straßenrand gestellt und gewartet. Als der nächste Bus kam, war er ganz selbstverständlich eingestiegen. Er wusste nicht, dass er ein Ticket brauchte. Der Busfahrer hatte von ihm das Geld verlangt und Ray hatte ihn nur verständnislos angeguckt. Er war es nicht gewohnt, dass jemand Geld von ihm verlangte, er hatte auch nichts dabei. Als er dem Busfahrer dann erzählte, dass er der Sohn von Thomas Luc Davis, dem berühmten Schauspieler, sei, hatten alle gelacht.
„Thomas Davis hat keinen Sohn“
Doch, hatte er gesagt, ich steh direkt vor ihnen.
„Nein, Thomas hatte nie eine Frau. Dafür hatte er gar keine Zeit bei seiner Karriere“, sagte eine ältere Frau, die direkt vorne saß.
„Hast du schon den neuen Film mit ihm gesehen? Er soll richtig gut sein“, hörte Ray eine junge Frau ihrer Sitznachbarin sagen.
„Hast du denn irgendetwas um dich auszuweisen? Pass, Führerschein, sowas in der Art?“, hatte der Busfahrer ihn gefragt.
„Nein“, hatte er geantwortet. Er hatte nicht gewusst, dass er so was brauchen würde.
„Dann kann ich dich leider nicht mitnehmen.“
Das wollte sich der junge Ray nicht anhören.
„Und ob sie mich mitnehmen werden! Ich habe ein größeres Recht als all diese Menschen hier im Bus. Mein Vater ist berühmt und ich bin etwas besonderes, also bringen sie mich jetzt bitte nach L.A.!“
„Junge, du hast nichts um dich auszuweisen, kein Geld und Thomas Davis hat keinen Sohn.
Alle anderen hier haben bezahlt, also bitte mach jetzt keinen Aufstand sondern steig einfach aus.“
Dann hatte Ray ihm eine geklatscht, dem gesamten Bus den Mittelfinger gezeigt und war
ausgestiegen. Da hatte er dann wieder gestanden, ohne zu wissen wo er hin sollte, ohne eine Mitfahrgelegenheit und ohne irgendwelche Papiere, von denen er noch nicht mal gewusst hatte, dass er sie brauchte. Also hatte er die Nacht an der Bushaltestelle verbracht. Am nächsten Morgen kam der Bus wieder und er stieg wieder ein, aber ein anderer Busfahrer saß darin.
„Guten Morgen, wohin soll's gehen?“, hatte der Busfahrer freundlich gefragt.
„Wie ich ihrem Kollegen gestern schon sagte möchte ich nach L.A.“
Der Fahrer nannte den Preis.
„Ich dachte es wäre klar, dass ich nichts bezahlen werde“
Und die Diskussion ging wieder von vorne los.
'Du brauchst Papiere' 'Mein Papa ist aber Thomas Davis' 'Der hat aber keinen Sohn' Und so weiter und so fort... Und wieder schmiss der Fahrer ihn raus.
Die nächsten Tage passierte es immer wieder. Jeden Tag dieselben Diskussionen. Mit demselben Ergebnis. Bis irgendwann eine ältere Frau, die jeden Morgen ganz vorne mitfuhr und darum jeden Tag das gleiche Schauspiel beobachtete, die Polizei verständigte. Am nächsten Morgen kam noch vor dem Bus ein Polizeiauto an der Bushaltestelle vorbei. Damals war es ihm wie ein glücklicher Zufall vorgekommen, inzwischen wusste er, dass die Polizei nach ihm gesucht hatte. Er erzählte den Beamten also wieder, dass er nach L.A. wolle, dass er aber nicht die Absicht habe zu zahlen, weil er ja schließlich der Sohn von Thomas Luc Davis sei und so weiter. Die Beamten glaubten ihm und nahmen ihn mit. Damals dachte er, dass sie im wirklich glauben würden und ihn mitnahmen, weil sie nett waren, aber in Wirklichkeit hatten sie ihn schon längst als geisteskrank abgeschrieben. In ihren Akten gab es keinen Ray Davis, Thomas Davis hatte keinen Sohn. Also fuhren sie ihn in die nächste Psychiatrie.

No comments

Leave a comment