Das gebrochene Herz: Einsam

Geschrieben von Marystein

Allein. Sie war so allein. Viele nannten sie „Freundin“, doch wer war da, wenn sie Hilfe brauchte oder es ihr schlecht ging? Wen interessierte es, wie es ihr wirklich ging? Niemand. Noch nicht einmal John. Er war immer für sie da gewesen, er hatte sie geliebt. Sie. Nicht das Geld oder die Berühmtheit ihrer Eltern. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag als sie John Smith kennengelernt hatte:
„Grace war nervös. Es war schließlich ihr erster Schultag an der neuen Schule. Ob die Leute sie wohl erkennen würden? Ihre Eltern waren schließlich sehr berühmt. Ihre Mutter war eine brillante Schauspielerin, die schon in vielen bekannten Kinofilmen mitgespielt hatte, darunter auch einige Hollywoodfilme. Ihr Vater war ein sehr bekannter Pianist. Das musikalische Talent hatte Grace von ihrem Vater geerbt. Sie spielte Kontrabass und Klavier. Und Schlagzeug, aber davon wussten ihre Eltern nichts. Ihre Eltern verabscheuten Rock- oder Punkmusik, Grace liebte sie. Ihre Eltern hörten nur klassische oder Popmusik. Schon immer. Als sie noch jünger war, hatte ihr das auch gefallen, aber irgendwann konnte sie dieses Gedudel nicht mehr hören. Darum spielte sie auch Schlagzeug. Seit sie 11 war nahm sie Unterricht, ohne dass ihre Eltern etwas davon wussten, aber sie waren auch oft unterwegs. Ihre Oma wusste davon und hatte ihr zu ihrem 12. Geburtstag ein eigenes Schlagzeug geschenkt. Oma. Sie war immer für sie da und unternahm oft was mit ihr, wenn ihre Eltern mal wieder nicht da waren. Das waren sie fast nie.

Da kam auch schon ihre U-Bahn. Mit vielen anderen Schülern in Schuluniformen, drängte Grace sich in die sowieso schon volle Bahn. Während der Fahrt kramte sie nach ihrem Stundenplan. Als erstes eine Doppelstunde Geschichte bei einem Mr. Wittman. In Glasgow, da wo sie bis vor wenigen Tagen noch gewohnt hatte, war sowohl Musik, als auch Geschichte zahlreich vertreten gewesen. Aber auch jetzt in London gab es Museen, Bibliotheken, Musikclubs. Zum Glück.
Nächste Station. Hier musste sie raus. Sie schüttelte ihre schulterlangen, braunen Locken und quetschte sich zwischen zwei Bankangestellten mit grauen Anzügen dadurch und trat aus der U-Bahn. Sie hatte keine Ahnung wo es lang ging, aber sie folgte einfach den anderen Schülern.
Grace war zu spät. Aber das Gebäude war riesig. Endlich, hier war der Raum. A 107. Vorsichtig klopfte sie. „Herein“, erklang eine Stimme von drinnen. Plötzlich verließ Grace der Mut. ‚Na los weiter‘, feuerte sie sich selbst an. Ungefähr 30 Schüler und Schülerinnen blickten sie gespannt an. „Ah, du musst Grace sein. Möchtest du dich der Klasse einmal kurz vorstellen?“ Mr. Wittmans Ton klang freundlich. „Also ich bin Grace Evens und meine Eltern sind mit mir in den Herbstferien aus Glasgow hier nach London gezogen.“ „Ja, Harry?“ Ein Junge mit Sommersprossen und roten Haaren hatte die Hand gehoben. „Kann es sein, dass dein Vater Musiker ist oder so?“, wandte er sich an Grace. „Ja“. Mr. Wittman ging nicht weiter darauf ein, sondern wieß ihr einen Platz zwischen einem dunkelhaarigen, großgewachsenen Jungen und Harry zu. So verging die Geschichtsstunde. Grace konnte mit ihrem Wissen glänzen. Zwischendurch erkundigte sich Harry nach ihrer Mutter und ob sie selbst ein Instrument spiele. Er war sehr erstaunt, als er den Namen ihrer Mutter hörte. „Sie ist Schauspielerin, richtig? Sie spielt ihre Rollen immer ganz wunderbar.“ Grace nickte. „Jap, genau. Ich bin aber eher musikalisch begabt. Ich spiele Kontrabass, Klavier und Schlagzeug.“ Harry erzählte ihr daraufhin von der Schulband und dass sie schon seit Wochen einen Schlagzeuger brauchten. Grace war sofort Feuer und Flamme, aber Harry konnte ihr nicht sagen, wann die nächste Probe war. Der andere Junge, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte. „Nachher in der 7. Stunde ist Probe in der Aula", meinte er. „Und du kannst wirklich Schlagzeug spielen?“ „Ja. Ich beweis es dir nachher.“ „Ok, wenn du meinst“ erwiderte der Junge nur und widmete sich wieder seinen Matheaufgaben.
Der restliche Schultag verlief ereignislos.

Nach der 6. Stunde machte sich Grace auf den Weg zur Aula. Mrs. Marley, die Musiklehrerin und Leiterin der Band, war schon da, genauso wie der Rest der Band. Auch ihr Sitznachbar, der dunkelhaarige Junge. Grace war überrascht ihn zu sehen, denn er sah nicht aus wie ein Musiker. „Ah, sie müssen Grace sein. John hat bereits von ihnen erzählt und ich freue mich sehr, dass sie sich als Schlagzeugerin bewerben möchten. Aber sagen sie mir, haben sie Unterricht bekommen?“ Die blondhaarige Lehrerin kam auf sie zu. „Ja ich nehme Unterricht seit ich 11 bin.“ „Ach das ist ja ganz ausgezeichnet! Dann können wir ja direkt anfangen. John, gibst du ihr bitte die Noten?“ Der dunkelhaarige Junge, offenbar John, gab ihr die Noten. Ihre Hände berührten sich kurz und ein angenehmes Kribbeln durchlief ihren Arm. Grace wusste nicht was das zu bedeuten hatte, aber es fühlte sich wunderschön an. Sie schaute sich die Noten an. Das Stück hatte sie erst vor ein paar Wochen viel beim Schlagzeugunterricht geübt und konnte es darum noch gut. Die Probe verlief reibungslos, das Stück konnte Grace auswendig. Während des Spielens wanderte ihr Blick immer wieder zu John. Er faszinierte sie, aber sie wusste nicht mal warum. Irgendwie... Nach der Probe, man hatte sich entschlossen Grace als vollwertiges Mitglied der Band willkommen zu heißen, fuhr Grace mit der U-Bahn nach Hause.

Am nächsten Tag war die nächste Probe. Die erste Woche verging und Grace fand sich super auf ihrer neuen Schule. Einige Leute liefen ihr nur hinterher, weil ihre Eltern berühmt waren, aber in der Band hatte sie richtige Freunde gefunden. Auch John lernte sie immer besser kennen und erkannte, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten. Jedes Mal, wenn sie mit John redete, war sie plötzlich fröhlich, egal wie mies sie vorher gelaunt gewesen war. Mit ihm sprach sie über alles und mit der Zeit wurden sie sehr gute Freunde.
Als es Dezember wurde, bekam Grace eine Einladung zu Johns Geburtstagsfeier. Es war eine super Party mit Musik und Essen und allem was dazugehörte. Am Ende wurde Wahrheit oder Pflicht gespielt. John wählte Pflicht und es kam wie es kommen musste. Er bekam von Harry die Aufgabe Grace zu küssen. John schaute sie fragend an. Bevor Grace irgendwie reagieren konnte, hatte Harry es schon mitbekommen und meinte: „Aufgabe is Aufgabe John. Also mach schon!“ Zustimmendes Gemurmel erklang. Irgendwer begann „Küssen, küssen!“, zurufen. Immer mehr stimmten ein. John beugte sich vor und zögerlich berührten sich ihre Lippen. Plötzlich waren da tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch und ein warmer Schauer lief ihr den Rücken runter. Es fühlte sich so unbeschreiblich schön an. Dann war es vorbei. Einfach so. Vorsichtig hatte John seine Lippen von den ihren gelöst. Er blickte ihr in die Augen, dann holte die Stimme von Harry die beiden in die Realität zurück. „John du bist dran“
Es wurde noch ein bisschen weiter gespielt, doch die Party löste sich langsam auf. Grace blieb bis zum Ende, ganz in Gedanken versunken. ‚Es war soo ein schöner Kuss. Ob er John auch gefallen hatte? Oder war es für ihn nur eine blöde Aufgabe gewesen? Das konnte nicht sein. Dafür war der Kuss viel zu schön gewesen…..‘ So fuhren ihre Gedanken in ihrem Kopf Karussell.
Irgendwann kehrte sie in die Realität zurück. Alle waren schon gegangen. Nur John saß noch da. In seinen braunen Augen spiegelte sich das Licht der Kerzen. „Du hättest ruhig was sagen können. Tut mir leid, dass ich noch da bin“ Grace war ziemlich verwirrt. Warum hatte John nichts gesagt? „Alles gut. Du sahst so nachdenklich aus. Ich wollt‘ nicht stören“, meinte er mit einem verschmitzten Lächeln. Grace war noch verwirrter. Warum hatte John nichts gesagt? Es war doch seine Party gewesen und sein Haus?! „Wie viel Uhr haben wir eigentlich?“ Das war ihr gerade so in den Sinn gekommen. Irgendwie musste sie ja auch noch nach Hause kommen. John warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Kurz vor drei“ Das war verdammt spät. Die U-Bahn fuhr nicht mehr und die Busse auch nicht und zum Laufen war es zu weit. „Grace, alles ok?“ John blickte sie besorgt an. „Ähm ja, ich weiß nur nicht wie ich nach Hause kommen soll.“ „Zu Fuß?“ „Zu weit. Ich bräuchte sicherlich eine Stunde.“ Gott war das peinlich. „Und mit dem Taxi?“ „Ich weiß nicht ob die jetzt noch fahren. Morgen ist doch Feiertag. Außerdem hab ich kein Geld mehr.“ John überlegte einen Moment. „Du kannst hier schlafen. Wenn du willst. Ich kann aufm Sofa pennen.“ Das war ein großzügiges Angebot. „Was muss ich dafür tun?“ Dass das eine gewagte Frage war, war Grace klar, aber sie war notwendig. „Mir morgen beim Aufräumen helfen.“ „Angebot angenommen“ So einfach war das. Grace schlief gut und von John hörte sie auch nichts mehr. Gegen 7 Uhr morgens war Grace hellwach. Es waren zwar nur vier Stunden Schlaf gewesen, doch das reichte ihr. Leise begann sie schon einmal die Wohnung aufzuräumen. Sie war gerade fertig geworden, da wurde auch John wach. Grace war schon im Flur und zog sich ihre Jacke an. „Grace, warte.“ John kam im Halbschlaf auf sie zugewankt. Sie drehte sich zu ihm um. „Ich muss los, wirklich“ „Grace bitte. Es ist wichtig.“ Sie blieb stehen. „Was denn?“ „Ich, der Kuss...“ John schaffte keinen vernünftigen Satz. Stattdessen ging er die letzten Schritte die sie noch voneinander trennten und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Ihre Blicke trafen sich. Dann beugte er sich langsam zu ihr herunter und küsste sie sanft und vorsichtig. Grace zuckte zuerst zurück, doch dann erwiderte sie den Kuss.

Seitdem waren John und Grace ein Paar. Grace war so glücklich wie seit langem nicht mehr, John hörte ihr immer zu und verstand sie. Auch ihre Eltern verstanden sich gut.
Doch in den Sommerferien kam alles anders. John wurde immer verschlossener, doch Grace konnte nichts dagegen tun. Nach ihrem Urlaub, hoffte sie, würde es wieder besser werden. Sie fuhr für 14 Tage mit ihrem Vater nach Spanien, in die Sonne. Ihre Mutter und ihre Oma machten eine Auszeit in den Bergen. Grace und ihr Vater waren einen Tag vor den beiden Frauen wieder da und erwarteten die beiden am nächsten Abend schon ungeduldig.
Doch an dem Abend kam niemand. Spät in der Nacht klingelte plötzlich das Telefon. Grace ging ran, ihr Vater war schon im Bett. Nach dem Telefonat brach Grace auf dem Boden zusammen. Sie konnte nicht glauben was sie da gerade gehört hatte. Wie ferngesteuert wankte sie zu ihrem Vater ins Zimmer und rüttelte ihn wach. „Was ist denn los? Grace ist alles OK?“ Ihr Vater blickte sie an. „Mama und Oma“ Ihre Stimme brach ab. „Was ist mit Mama und Oma?“ Ihr Vater sah immer besorgter aus. „Sie sind im Krankenhaus. Wir... wir sollen sofort kommen. Es war ein sehr schwerer Un- Unfall haben die am Telefon gesagt.“ Ihr Vater sagte nichts, sondern zog sich schnell an und eilte zum Auto. Grace wankte hinter ihm her ohne wirklich war zunehmen was um sie herum passierte. Während der Fahrt sagte keiner etwas.

Im Krankenhaus angekommen, eilten sie in die Notaufnahme. Der Arzt blickte sie bedauernd und ernst an. Er wandte sich an Grace: „Sie müssen jetzt stark sein, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ihre Mutter oder ihre Großmutter den nächsten Tag überleben werden. Die inneren Verletzungen sind dafür zu stark. Wir können nichts mehr für sie tun. Es tut mir sehr leid.“ „Können wir zu ihnen?", fragte Grace mit tonloser Stimme. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Ihre Mutter und ihre Oma würden sterben. Das konnte nicht sein. Es musste eine Verwechslung vorliegen. Doch es waren ihre Oma und ihre Mutter, die dort in den Betten der Intensivstation lagen. Das Piepen von dem EKG-Monitor war so unregelmäßig. So sollte das nicht sein. Es musste doch viel regelmäßiger sein! Grace eilte zum Bett ihrer Oma. Die öffnete die Augen, als sie Grace Schritte hörte. „Grace, mein Liebling. Bitte glaub an dich. Du kannst alles schaffen, wenn du willst. Oh, hallo Herbert. Wo willst du denn hin?“ Ihre Oma brabbelte nur noch etwas von einem Herbert. Sie hatte Halluzinationen, wurde Grace klar. Plötzlich sagte sie nichts mehr, ihr Blick wurde leer. Das Piepen verstummte. ‚Sie ist tot.‘, dachte Grace, doch sie verstand die ganze Bedeutung der Worte nicht. Sie wollte sie nicht verstehen. Sie eilte zum Bett ihrer Mutter, das Gesicht tränenüberströmt. „Grace bleib stark.“ Dann schlossen sich die Augen ihrer Mutter. Aber sie war noch nicht tot. Noch atmete sie. Grace saß neben ihr auf dem Bett und hatte die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Nicht auch noch ihre Mutter. Ihre Mutter war schon gegangen, jetzt bitte nicht auch noch ihre Mutter. Irgendwann schlief Grace ein.
Sie wachte davon auf, dass es still war. Das Piepen war verstummt. Nun war auch noch ihre Mutter gestorben. Grace fühlte sich seltsam leer. Als hätte ihr Leben keinen Sinn mehr.

Doch. John.
Plötzlich klingelte ihr Telefon. Sie hohlte es aus ihrer Jackentasche und nahm das Gespräch an. Sie war so erleichtert Johns Stimme zuhören. Aber sie klang so ernst und irgendwie abweisend. „Grace, es geht nicht mehr. Es fühlt sich falsch an. Ich mach Schluss.“ Grace konnte es nicht glauben. „Aber John, warum? Wir waren doch glücklich. Wir haben uns nie gestritten. Alles war gut. Warum?“ „Du warst glücklich Grace. Bei dir war alles gut. Bei mir nicht. Aber du hast es nicht bemerkt. Grace, es tut mir leid, aber ich bin nicht mehr in dich verliebt.“ Dann legte er auf. Einfach so. „Warum jetzt?“ Grace konnte nicht mehr. Jetzt hatte ihr Leben wirklich keinen Sinn mehr. Aber ihr Vater. Er brauchte sie. Sie musste stark sein. Für ihn. Sie durfte nicht aufgeben.

Seitdem war Grace allein. Niemand war da. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sprechen tat sie nur noch selten und sie war oft krank. Ihren Vater machte es sehr unglücklich seine Tochter so zu sehen. Und er schwor sich Rache zunehmen an John Smith.

Zu dieser Geschichte gibt es 8 Kommentare

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Marystein – 29. Mai 2021

Die Fortsetzung sollte bald erscheinen!

Marystein – 3. Mai 2021

Danke, Danke für die vielen Ideen

Marystein – 1. Mai 2021

Danke für die vielen Ideen, Camilla und Mia-Luise. Ich schau mal was sich daraus machen lässt!

Marystein – 29. April 2021

Mia-Luise, das ist durchaus möglich. Ich dachte mir als ich den 2. Teil geschrieben habe, dass er die Tochter umbringt, weil er sich nicht mehr an John rächen konnte, aber deine Idee ist auch durchaus möglich. Wenn irgendwer noch Ideen für eine Fortsetzung hat, immer sagen!

Camilla – 29. April 2021

Hi Mia-Luise, wahrscheinlich hoffst du eher auf eine Antwort von Marystein, aber die Idee ist super! Vielleicht ist der Vater an Johns Tod mitbeteiligt, weil er eifersüchtig darauf ist, das Grace so viel Zeit mit ihrem Freund verbringt. Und er wollte nicht, das John stirbt, sondern sich ziemlich verletzt, aber dann ist alles aus dem Ruder gelaufen oder so. Ich würde mich auf jeden Fall auf eine Fortzsetzung JEDER Art freuen LG, Camilla

noname – 29. April 2021

großartig!

Marystein – 28. April 2021

So das ist der dritte Teil. Ich hoffe er gefällt euch und freu mich über eure Meinungen!

Camilla – 28. April 2021

Wow, Marystein! Danke für die Fortsetzung, sie ist UNGLAUBLICH! Ich habe mich so gefreut, als ich gesehen habe, das es einen dritten Teil gibt! Die Geschichte ist super geschrieben, vielleicht sogar noch spannender als die anderen. Vor allem, wie du die Szenen beschrieben hast, wo sie so verzweifelt ist. LG, Camilla