Der Express

Geschrieben von Jule Katz

Prolog

Ich weiß nicht mehr wie es dazu kam, nur das es nun so ist.
Viele Jahre war ich blind gewesen, genauso wie der Rest der Menschheit.

Geschichten, ich hatte sie alle gekannt. Sie schienen so fern und unwirklich. Und von einem Tag auf den nächsten war ich ein wichtiger Bestandteil davon geworden. Gehörte nun zu dieser grausamen Geschichte dazu, ohne das mich jemand gefragt hatte, ob ich dieses Leben wollte.

Ich erinnere mich an jede einzelne Tat  bei der durch meine Hand Blut vergossen wurde.
Niemals unschuldiges, aber was macht das schon groß für einen Unterschied?

Blut ist Blut. Es strömt durch jedes lebendige Herz.
Und jedes Herz hat irgendeinmal geliebt, selbst wenn es nur von kurzer Dauer war.

Vermutlich hätte vieles anders kommen können, besser. Doch was nützt es sich darüber Gedanken zu machen? Wenn das Vermutlich in der Vergangenheit liegt, wo man es nicht mehr ändern kann. Noch immer erinnere ich mich ganz genau an den Tag als ich das erste Mal in seine samtgrünen Augen blickte. Er war nur ein Fremder auf der Straße gewesen der plötzlich vor mir stand, mit einem verängstigten Mädchen an seiner Seite. Ich werde ihre Blicke niemals vergessen, voller Panik und Angst.

Auf der Flucht.

Doch das Spiel hatte sich geändert, nun war ich die verfolgte und gejagte.

Damals, zu diesem Zeitpunkt, hätte ich nie daran geglaubt, dass ich nur wenige Zeit später zu ihnen gehören würde. Als Feindin des Staates. Verfolgt auf lebenslänglich.

Jeden Tag unterwegs, und die Angst als treuer Gefährte immer an meiner Seite mit dabei.

Wir waren nicht wenige und sehr stark gewesen.

Aber manchmal nützt es nichts, wenn man nicht weiß, dass man von einer unglaublichen Kraft gesegnet wurde, was tun wenn die Augen es nicht sehen können?

Ich verbringe heute viel Zeit damit daran zu denken wie mein Leben hätte ablaufen können, in Sicherheit, ein Leben als ein ganz normales Menschenkind.

Doch meine Mutter hatte es anderes bestimmt, durch ihre Lügen und den Betrug, der das Herz meines Vaters nie wieder verheilen lassen wird, bekam mein Leben neuen einen Sinn. Einen so viel größeren als ich es mir je hätte erträumen lassen.

Vielleicht war es wirklich etwas wert.

Ein Kind das aus einer Lüge entstanden war, und doch den Lauf der Zeit für immer veränderte.

Es gab Zeiten in denen ich meine Mutter verflucht hatte, für all das was ich nun dank ihr ertragen musste, das was ich Tag ein Tag aus sah, und diese schrecklichen Gefühle die mich überschütteten.  All diese Schmerzen hatte ich ertragen, nur durch seine treue Hand.

Es heißt wo viel Schatten ist scheint helles Licht. Und ja, viele Seelen gingen verloren. Aber ich lernte zu lieben, gewann Freunde und all das was wir geschafft haben ist so viel mehr wert, als das was wir verloren hatten. Deshalb bereue ich keine einzige gefallene Träne, kein Tropfen vergossenes Blut und auch keinen Schmerz.

Es gibt zu viele Dinge die von größerer Bedeutung sind als unser eigenes Leben.

Nun bin ich hier, wieder zuhause. Lange, sehr lange war ich fort gewesen, doch nun war ich zurück um auf Wiedersehen zu sagen. Aber diesmal würde ich nicht nach einiger Zeit zurückkehren.

Auch wenn mein Vater und meine Brüder von all dem nichts verstanden, blieb mir noch der Trost, dass sie mich in ihren Augen immer als Tochter und Schwester sehen und lieben würden.

Vielleicht würde ich meine Familie nie wiedersehen, doch in mir blieb die Hoffnung stehen, dass sie eines Tages genug Mut hatten und mich in meinem neuen zuhause besuchen würden.

Der Schmerz saß tief aber so war es für mich vorbestimmt, genauso wie es bestimmt war das ich niemals mit ihm zusammen sein konnte. Ich wusste, dass er mich liebte, mit jeder Faser seines Körpers, und dass mein Herz sich mit jedem Atemzug nach ihm sehnte. Seit dem Moment als ich in seine samtgrünen Augen gesehen hatte liebte ich ihn, auf eine Art die ich nicht beschreiben konnte. 

So war es bestimmt, eine traurige Liebesgeschichte die niemals Zukunft finden würde, außer ich würde ihm mein Herz geben, womit ich alles verlor und den Zeit der Welt wieder änderte,
und somit das Gleichgewicht verloren ging.

Wie verführerisch der Gedanke war, neben ihm aufwachen zu können, ihn einfach zu lieben, ohne jegliche Sorgen.

Die Welt einfach zu vergessen.

Aber so war ich nicht, und so war auch er nicht.

Wir hatten gewonnen, und doch waren wir Verlierer.

Eine traurige Wahrheit, aber ich hatte mich oft getäuscht. Vielleicht musste es so sein, weil es richtig und sogar gut war.

Sicher, das war es.

Denn sie hatte noch nie einen Fehler gemacht, ich musste nur ihr  vertrauen dann würde mein Leben weiterhin wertvolle Früchte tragen.

Smilla Redwood,
Oxford Oktober 2098

Kapitel 1

"Rene mach langsamer, bitte. Ich kann nicht mehr."
Juliette klammerte sich an den Arm ihres Zwillingsbruders und versuchte ihn zum Stehen zu bringen, ohne Erfolg. Er zog sie einfach mit sich als sei Juliette leicht wie eine Feder.
"Julie rede doch nicht so einen Unsinn! Wir haben noch nicht einmal eine einzige Nacht in Freiheit verbracht und du willst wirklich schon zurück?" Genervt lief er Zielsicher weiter.
Mit müden Schritten stolperte Juliette ihrem Bruder hinter her. "Meine Füße schmerzen aber so sehr! Und ich habe Hunger."

Wie aus dem nichts blieb Rene plötzlich stehen, packte seine kleine Schwester fest an den Schultern und starrte sie zornig an. "Halt jetzt endlich deinen nörgeligen Schandmund!
Du bekommst schon noch was zu essen, hab einfach mal ein bisschen Geduld! Ich werde dir morgen etwas zu Essen besorgen versprochen, Schwesterchen." Sie zögerte und so ganz schien sie seinen Worten auch nicht großartigen Glauben zu schenken. Doch Juliette wollte ihn nicht noch mehr reizen und ein paar Nächte konnten sie es ja versuchen. Eigentlich wollte Juliette auch lieber die Nächte frierend und mit hungrigem Magen verbringen als noch eine weitere Nacht im Heim. Sie versuchte nicht einen einzigen Gedanken an das Kinderheim zu verschwenden, doch all die Schmerzen und Schreie gingen nicht mehr aus ihrem Kopf und wie so oft kämpfte Juliette gegen die Tränen an. "In Ordnung." wisperte sie leise als Antwort, dann liefen die beiden schweigend weiter.

Die dunklen Straßen von Paris wirkten in dieser Nacht noch grausamer und kühler als sonst. Das Kinderheim in dem die Zwillinge gelebt hatten lag weit außerhalb der Innenstadt um genau zu sein im Pariser Ghetto. In den meisten Ländern gab es nicht mehr als vier, höchstens sechs, wirklich bewohnte Städte. Diese waren meist von einer großen Schutzmauer umgeben und jede Stadt besaß auch ihre eigene Armee. Viele waren miteinander verbündet so dass es nur selten zu Überfällen oder größeren Angriffen kam. Auch besaß jede größere Stadt ein Ghetto, dieses befand sich meist wie eine Art Kreis um die ganze Innenstadt. Dort lebten Bauer, Obdachlose und arme nicht gebildete Händler. Für ihre Arbeit bekamen sie von der Stadt Schutz im Falle eines Krieges. Ohne dieses Ghetto gäbe es keine wertvollen Ernten, sowie Kostbarkeiten die die Händler aus aller Welt mit sich brachten und doch ging es im Pariser Ghetto so wie in allen anderen sehr grausam zu. Man konnte die Armut dort nicht nur Meilen weit sehen sondern auch riechen, überall an den Straßenecken hingen die kranken und alten Bettler und der Rest arbeitete sich zu Tode um für die eigne Familie sorgen zu können. Jeden Tag wurde geraubt und gemordet. Im inneren der Stadt glänzte es wundervoll schön und sauber. Das Prinzip auf den Armen aufzubauen und so Gewinn zu machen war eben sehr einfach. Noch nie in all den Jahrzenten dieser Menschenwelt war der Unterschied zwischen Arm und Reich so groß. Selbst im Ghetto gab es ärmere als auch reichere Viertel.

Juliette und ihr Bruder Rene kamen aus Involontaire. Es gehörte zu den ganz armen und heruntergekommenen Vierteln. Ihres war auch nicht sonderlich groß, abgesehen von dem Kinderheim gab es dort nur noch ein paar kleine verwahrloste Hütten und eine große alte Scheune. Inzwischen waren sie ihrem Viertel etliche Meilen entfernt und irrten durch die dunklen Straßen und Gassen.
"Du weißt wenn wir durch Cherche und Exigeant streunen, müssen wir vorsichtig sein. Dort sind überall Wachen. Halte dich immer hinter mir und achte, dass das Mondlicht nicht auf dich scheint. Diese Nacht ist heute besonders hell."
Rene sprach gedämpft während er sein Tempo beibehielt. Juliettes Augenlieder wurden immer müder und es kostete sie einige Kraft ihre Augen offen zu halten. Mit ihrer rechten Hand hielt sie sich an seinem Gürtel fest und wiederwillig ließ Juliette sich von ihrem Zwillingsbruder durch die kalte Nacht ziehen. Die Blasen an ihren Füßen brannten höllisch, doch sie hörte nicht auf ein Fuß vor den anderen zu setzen. Bald waren sie frei! Und wenn es gut kam schafften sie es in die Stadt. Rene hatte gemeint, dass sie dann schon eine Arbeit finden würden. Eine goldene Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht und mit einer laschen Handbewegung strich Juliette sie sich wieder hinters Ohr. In dieser Nacht trug sie ein Kopftuch das aus einem braunen kratzigem Stoff bestand, Rene hatte ihr befohlen es anzuziehen.

Vermutlich war Juliette das schönste Mädchen auf der ganzen Menschenwelt. Rene war sich was das betraf ziemlich sicher, seine Schwester sah wie eine Prinzessin aus und deshalb musste er sie beschützen. Immer wieder schmierte er ihr absichtlich Dreck ins Gesicht oder riss Löcher in ihren Rock. Sie musste wie eine Bettlerin wirken. Wenn Juliette nicht so verkommen aussah blieben alle Männeraugen auf ihr liegen. Mit ihren Blicken bohrten sie regelrecht Löcher in ihren zierlichen Körper. Allzu oft hatte Rene ihre perversen Gedanken gehört! Fürchterliche, dunkle Gedanken die er niemals laut aussprechen würde. Aus den Hütten wurden kleine Häuser und auch die Straßen wurden etwas breiter und fester. Sie hatten also Cherche erreicht.
"Ab jetzt müssen wir mucksmäuschenstill sein, hörst du!?" Renes Stimme hallte in ihrem Kopf. Juliettes Herz fing an schneller und lauter zu schlagen, ob er es hören konnte? Ihre fürchterliche Angst?

Ganz dicht an den Häusern, schlichen sie die Straßen entlang, immer schön in Richtung Süden. Auf einmal blieb Rene unerwartet stehen und Juliettes müder Körper knallte gegen seinen. Sofort war sie wieder hellwach und aufmerksam suchten ihre Augen die Straßen nach irgendetwas Verdächtigem ab. "Ich höre dreckige und ängstliche Gedanken." Wieder konnte Juliette ganz deutlich die Stimme ihres Bruders im Kopf hören. "Es handelt sich um einen Mann und eine Frau. Ich glaube sie kennen sich." Langsam liefen die beiden weiter.

Juliette zitterte leicht vor Angst. Als sie in die nächste Straße einbogen konnten sie sehen wie ein großer breitgebauter Mann, eine nur etwas kleinere sehr dünne Frau, hinter sich herzog.
Er schwankte etwas, vermutlich war er betrunken. Immer wieder schlug die Frau mit ihren kleinen Fäusten auf den Rücken des Mannes ein. Doch für ihn fühlte es sich sicherlich nur wie Wattebällchen an. Sie war so sehr damit beschäftigt sich los zu reisen das sie ganz vergaß um Hilfe zu rufen. Erst als der Mann die Frau in eine Sackgasse zog konnten Rene und Juliette Hilferufen hören. "Wir…wir müssen ihr helfen, Rene!"
"Los komm schon Juliette wir haben es eilig!" empört löste sie sich aus ihrem Griff und lies den Gürtel los. Kerzengerade stand sie nun da und warf ihrem Bruder bissige Blicke zu.
"Du kannst so etwas doch nicht beobachten und dann einfach weiter gehen!"
"Klar kann ich, siehst du doch!" genervt packte er seine Schwester am Arm um sie weiter zu ziehen doch Juliette entriss sich flink wieder. "Wir müssen ihr helfen!"
"Nein müssen wir nicht! Weißt du was wir müssen? Uns in Sicherheit bringen! Das da ist nicht unser Problem Julie. Wir können ihr sowieso nicht helfen. Hast du mal gesehen wir groß und stark der Typ war? Also mit dem will ich mich nicht prügeln. Vergiss es Julie, wir sind keine Helden."

Hin und hergerissen sah sie zur Sackgasse in der die beiden verschwunden waren. Ob er sie töten würde? Sie biss sich auf die Lippe um nicht los zu heulen. Juliette war sehr sensibel, doch darauf nahm Rene heute keine Rücksicht. Er griff nach ihrer kleinen, kalten Hand und zog sie weiter. Immer weiter durch die dunklen Straßen des Pariser Ghettos. Bald würde die Sonne aufgehen und bis dahin mussten sie noch einige Meilen hinter sich lassen. Sie durften nur in der Nacht reisen. Tagsüber würde man Juliette und ihn schnell abfangen. Rene hoffte nur, dass sie ein gutes Versteck finden würden. Inzwischen hatten die Zwillinge Exigeant erreicht. Dort war es noch etwas größer, und wohlhabender als in Cherche. Jedoch stank es hier ebenfalls furchtbar nach Schimmel, Katzenpisse, Alkohol und Fisch.
"Psst." zischte Rene ihr zu. Sein Arm drückte sie sicher hinter sich an eine Hauswand. Ganz leise lief er langsam ein paar Schritte zurück. "In die Türnische dort." befahl er seiner Schwester und sie folgte sofort. Gerade noch rechtzeitig, denn schon bog eine Surveiller um die Ecke. So hießen die Pariser Straßenwächter. Sie waren dafür zuständig, dass nachts in den etwas reicheren Viertel keine Angriffe an die Stadt geplant werden konnten. Surveiller sorgten auch dafür, dass ein Viertel nicht zu groß und stark wurde, denn das würde das ganze Wirtschaftsprinzip kaputt machen. Als er am Versteck der Zwillinge vorbei lief hielten beide starr vor Angst den Atem an. Vorsichthalber hatte Rene die Hand auf Juliettes Mund gelegt. "Ist er fort?" flüsterte sie in seine Handfläche hinein. Als Antwort schüttelte Rene nur stumm den Kopf. Noch eine ganze Weile standen sie so da bis Rene endlich sagte: "OK. Er ist weg. Beeilen wir uns bevor er zurückkommt."

Er sprang aus der Nische und blieb erschrocken stehen. Der Surveiller war nur einige Meter von den beiden entfernt. Er saß auf dem Boden, an einer Hauswand angelehnt und schnarchte leise vor sich hin. "Was ist das denn für ein unzuverlässiger Surveiller? Laut Coco sollen die knall hart sein und Augen wie Alder besitzen!" Juliette schüttelte verständnislos den Kopf und schlüpfte an ihrem Bruder vorbei auf die Straße. Dann liefen die beiden eilig weiter. Sie trafen noch auf weitere Surveiller wobei nur einer sie gesehen und lange verfolgt hatte. Jedoch waren alle nicht so helle und schlimm gewesen wie ihre ehemalige Heimfreundin es ihnen erzählt hatte. "Das sind bestimmt so Typen die einfach für keinen anderen Beruf geeignet sind, also hat die Stadt sich wohl gesagt ab ins Ghetto mit denen." Rene lachte leise. "Nichts können aber auf große Fresse machen." Juliette war zu müde um über die Worte ihres Bruders großartig zu lachen. "Rene ich kann nicht mehr. Meine Füße tun schrecklich weh wie noch nie in meinem Leben, bitte lass uns etwas schlafen." Er blickte zum Himmel, die Sonne würde wohl in den nächsten zwei Stunden den Horizont über schritten haben. Nun befanden sie sich wieder in einem armen Viertel, hier gab es keine aufdringlichen Surveiller.

Rene entdeckte einen kleinen runtergekommenen Bahnhof und steuerte mit schnellen Schritten darauf zu. Müde tapste Juliette hinter ihm her. Der Bahnhof bestand nur aus einem Gleis, es gab eine alte Holzbank und daneben stand eine kaputte Telefonzelle. Eine rostige Schiene verlief direkt vor dem Gleis entlang. "Komm." Rene nahm Juliette bei der Hand. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn in die Telefonzelle. Zwar war sie nicht besonders groß, doch er und Juliette waren es gewohnt an den seltsamsten Orten auf engem Raum zu schlafen. Rene setze sich zuerst rein, schnell folgte seine Schwester ihm und kuschelte sich an ihn. Sofort war Juliette eingeschlafen. Rene lächelte schief und es dauerte nicht lange als auch ihm die Augen zu fielen.

Ein lauter Knall gefolgt von Glasklirren riss Rene wieder aus dem Schlaf. Durch die dreckige Scheibe der Telefonzelle sah er vier Jugendliche die betrunken Bierflaschen auf die Schiene schmissen. Beruhigt lehnte er sich zurück, dabei bemerkte er, dass auch Juliette durch den Lärm wach geworden war. "Wer ist das?" fragte sie mit ihrer zarten Engelsstimme die ziemlich verschlafen klang. "Niemand wichtiges. Träum weiter." Sanft strich er durch ihre goldenen Haare. So weich wie Seide waren sie und auf einmal kam er sich wie ein König vor.
Es dauerte nicht lange als Rene die plötzliche Kälte und Dunkelheit spürte die ihn überfiel. Er blickte nach draußen. Was in aller Welt ging da vor? Drei große dünne Gestalten in schwarzen Mänteln kamen den Jugendlichen langsam näher. Die Feierfreudigen bemerkten noch nicht allzu viel von den unheimlich kalten Wesen. Aber das seltsamste daran war diese plötzliche Kälte. Woher kam sie nur? Von den drei dunklen Gestalten? Leise öffnete Rene die Tür der Telefonzelle und krabbelte mit dem Oberkörper nach draußen, um mehr sehen zu können. Ein komisches Gefühl schlich sich in Rene ein und beschlagnahmte seinen ganzen Körper. Er konnte den kalten Angstschweiß auf seiner Stirn genau spüren. Langsam lief er über seine Wangen hinunter und tropfte auf den dreckigen Pariser Asphalt. Wie durch eine unsichtbare Kraft berührten die kalten Wesen ihn. Als würde der Tod ihn anfassen, plötzlich wurde ihm noch kälter und ein tiefer Schmerz durch stach sein Herz. Gerade noch so konnte er einen Aufschrei unterdrücken.
Das pochen in seinem Kopf wurde immer lauter und er glaubte sein Schädel würde explodieren.

Juliette griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Juliette zitterte nicht, sie war starr vor Kälte.
"Sie quälen mich." hörte sie die gepresste Stimme ihres Bruders im Kopf. "Sie dringen in meinen Geist ein." Auf einmal konnte auch sie die kalten Wesen spüren. Es war als ob eine kalte, knochige Hand all ihre Organe zusammen drücken würde. Rene lag schon total zusammen gekugelt neben ihr. Sein ganzer Körper war verkrampft. Es war als ob alle Freude auf der Welt verschwunden wäre. All die Liebe war auf einmal fort. Ein unbeschreiblich trauriges Gefühl umgab die beiden. Es war so furchtbar das man nicht mal daran denken wollte. Genau so stellte Juliette sich die Hölle vor. Kalt. Lieblos. Traurig. Einsam. Unerträglich… Juliette konnte eines der Gesichter sehen, als das Mondlicht es schwach erhellte. Das kalte Wesen hatte eine weiße glatte Haut, das Gesicht war kantig und wirkte schön. Schön. Es passte nicht zu der Atmosphäre die diese Wesen versprühten.

Der Größte von ihnen hauchte einem der Jugendlichen, der ganz starr vor Angst da stand, mitten ins Gesicht worauf dieser ohnmächtig umfiel. Ein leiser Schrei löste sich aus Juliettes Kehle und sofort presste sie sich ihre eigene Hand auf den Mund. Zwar wurde sie von Schmerzen gequält, doch ihre Angst löschte jegliches körperliche Gefühl aus. Rene dagegen lag vor Schmerz stöhnend neben ihr und schwitzte am ganzen Körper. Wieso griffen sie ihn so sehr an? Wie war das möglich? Die kalten Wesen berührten ihn nicht einmal. Juliette beobachtete mit offenem Mund wie auch die anderen beiden dunklen Gestalten die restlichen Jugendlichen anhauchten und somit wehrlos machten. Plötzlich sah einer der unheimlichen Wesen zu ihr und Rene hinüber. Es schien als ob er sie erst jetzt wahrnehmen würde. Vielleicht hatten die Wesen sie ja gar nicht angegriffen? Aber was quälte Rene dann so grausam? Nun konnte Juliette endlich das ganze schöne Gesicht sehen. Das kalte Wesen besaß hellblau (wie das arktische Meer) glänzende Augen.

So unbeschreiblich schön. Still. Klar. Und vor allem kalt. Juliette war ganz gefesselt von diesem schönen Gesicht und verlor sich in den Augen. Es war als ob sie in dem arktischen Meer ertrinken würde. Ihr Köper war inzwischen starr wie ein Eiszapfen und doch konnte sie nicht anderes als auf die Kälte zu zugehen. Langsam erhob sich ich zierlicher Körper. Ihre Füße liefen in kleinen Schritten auf das kalte Wesen zu. Irgendwie sollte Juliette Angst haben, doch es war nicht so. Sie fühlte sich magisch zu der dunklen Gestalt angezogen und ihr Bewusstsein schaltete alle Ängste einfach aus. Wehrlos. Juliette war körperlich und geistig vollkommen wehrlos.
Mit Schmerz verzogenem Gesicht musste Rene zusehen wie seine Schwester in die Arme des Todes lief.  "Nicht! Julie, bleib stehen!" schrie seine Stimme in ihrem Kopf, doch sie konnte ihren Bruder nicht mehr wahrnehmen.

Plötzlich kam aus der Dunkelheit mit hoher Geschwindigkeit ein Zug angefahren. Die kalten Wesen blickten auf, warfen sich die bewusstlosen Jugendlichen über die Schulter und verschwanden blitzartig in der tiefen Nacht. So als ob Juliette aus einer Trance auf wachen würde schüttelte sie verwirrt den Kopf. Desorientiert sah sie sich um, als sie Rene (der noch immer vor Schmerz gekrümmt auf dem kalten Boden lag) entdeckte, stürzte sie zum ihm und half ihrem Zwillingsbruder wieder auf die Beine. "Alles in Ordnung bei dir?"
Mit prüfendem Blick tastete sie seinen Körper nach Verletzungen ab, abgesehen von den üblichen Kratzern und blauen Flecken war nichts zu entdecken. Mit lautem quietschen rasten weitere Wagons an den beiden vorbei. Der Fahrtwind ließ Juliettes Haarsträhnen in der Luft fliegen und blies auch sie beinahe weg. Rene griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. Erst jetzt fiel ihm auf das der Zug nicht auf der Schiene fuhr sondern kurz vor dem Boden in der Luft schwebte. Rene zwickte sie selbst in den Arm, um sicher sein zu können das das alles kein verrückter Traum war. Der Zug verlangsamte sein Tempo und blieb quietschend direkt vor den beiden stehen. Ihm stockte der Atem, was in aller Welt war in dieser Nacht eigentlich los?
Eine Tür des Wagons öffnete sich und ein schlaksiger, viel zu großer Mann stieg hinaus. Seine Haare waren im Ansatz grau und seine Frisur wirkte, als ob er gerade erst aufgestanden sei.

"Wie heißt ihr zwei?" seine Stimme war schrill und zerbrach auf unangenehme weise die nächtliche Stille. Rene unterdrückte sich ein grinsen. Der Typ war so seltsam komisch das die beiden all die Kälte und Schmerzen von geradeben vergaßen.
"Sag ihm nichts!" Juliette blickte zu ihrem Bruder, doch er sah sie nicht an. "Mathis und Lilou." gab er gelogen zu Antwort. Auf einmal tauchte neben dem schlaksigen Typen ein kleiner dicker auf. "Notier dir das." befahl er dem Schlaksigen grob. Der kleine Dicke hatte eine sehr hohe und klare Stimme, sie passte so ganz und gar nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild. Er besaß eine große und breite Nase so wie die eines Schweines. Geräuschvoll zog er die Abendluft durch die Nase ein. Dann schnupperte er noch etwas vor sich hin bevor er dem anderen leise zu flüsterte: "Nur einer der beiden besitzt eine Gabe." Seine Augen wanderten von Rene zu Juliette und wieder zurück. "Ich vermute das es der Junge ist." Obwohl er sehr leise sprach verstanden die Zwillinge jedes seiner Worte. "Dann nehmen wir sie wohl beide mit oder?" Der Schlaksige machte sich keine großartige Mühe leise zu reden und seine grauenhafte Stimme lies Rene und Juliette fast die Ohren abfallen. "Nun ihr beiden." mit einem Schweinegrinsen sah der Dicke sie an. "Ihr wollt ja kaum in so einer kalten Nacht hier draußen schlafen oder? Und bestimmt tun euch eure Mägen vor Hunger auch schon ziemlich weh nicht wahr." Erst jetzt wurde Juliette wieder bewusst wir hungrig sie doch war. Unsicher sah sie ihren Bruder an. Auch Rene schien sichtlich unentschlossen." Warum wollt ihr uns mitnehmen?" Es war so als ob der Dicke mit so einer Frage nicht gerechnet hätte, doch gekonnt antwortete er: "Nun das hier ist der berühmte Express! Ihr habt doch sicherlich schon davon gehört oder?"

Anscheinend war es Rene sichtlich peinlich noch nie davon gehört zu haben als so nickte er nur wissend den Kopf. "Und wie ihr dann wahrscheinlich auch wisst nimmt der Express immer besondere Straßenkinder auf. Nun ihr beiden scheint mir sehr besonderes zu sein." Während er das sagte starrten seine Augen gierig Rene an. "Hier bekommt ihr alles was ich braucht frische Kleidung, ein warmes Bettchen, Essen und viele nette neue Freunde!"
"Ich denke fürs erste sollten wir es ausprobieren, wenn wir nicht mehr wollen hauen wir einfach ab." Renes Stimme in Juliettes Kopf klang recht unsicher aber noch viel mehr klang sie Abenteuerlustig. Juliette wusste nicht ob sie es als gut oder eher beunruhigend empfand, dass ihr Bruder so wagehalsig einfach in diesen unheimlichen Zug mit den zwei merkwürdigen Herren einsteigen wollte. Auf der anderen Seite war der Hunger und die Angst den kalten Wesen wieder zu begegnen einfach zu groß. Sie nickte einverstanden mit dem Kopf. Die Herren halfen höflich den Zwillingen einzusteigen, bevor Sie zufrieden grinsend die Wagon Tür wieder hinter sich verschlossen. In dem Zug war es sehr warm und hell. Überall an der Decke hingen Lampen unterschiedlichster Art hinunter und alles wirkte durcheinander. "Hier entlang." Mit einer laschen Handbewegung forderte der schlaksige Typ Rene und Juliette auf ihm zu folgen. Erst jetzt fiel den beiden auf das der Dicke verschwunden war.

Kapitel 2

Höflich halfen die Herren den Zwillingen einzusteigen, bevor Sie zufrieden grinsend die Wagon Tür wieder hinter sich verschlossen. In dem Zug war es sehr warm und hell. Überall an der Decke hingen Lampen unterschiedlichster Art hinunter und alles wirkte durcheinander.
"Hier entlang." Mit einer laschen Handbewegung forderte der schlaksige Typ Rene und Lilou auf ihm zu folgen. Erst jetzt bemerkten die zwei, dass der Dicke wieder verschwunden war.

Sie liefen durch so viele Wagons das Rene und Lilou sich schon fragten ob der Zug endlos war. Die Wagons sahen nie gleich aus es gab große und kleine, gemütliche und welche in denen man nicht länger als fünf Minuten bleiben wollte, manche waren nur voll mit irgendwelchen Kisten andere waren bewohnt, es gab meistens immer sechs Betten in einem Wagon. Mädchen und Jungen waren getrennt. Irgendwann nach eine halben Ewigkeit blieb der Schlaksige endlich stehen. Nun waren sie in einem eher kleinen Wagon angekommen.

"So hier schläfst du Camille." Lilou verstand erst gar nicht das er mit ihr sprach, doch dann fiel ihr ein das Rene ihm ja falsche Namen gesagt hatte. "Ähn-ähm… ok." Unsicher blickte sie sich um. Es gab nur noch ein freies Bett, besser gesagt eine Hängematte die quer durch den Wagon hing. Fünf fremde Mädchen beobachten sie aufmerksam und wirkten nicht gerade glücklich über ihre neue Mitbewohnerin.

"Das sind Marion, Josephine, Sevval, Waris und Emilie."
Mit diesen Worten ließ er sie stehen und verlies mit Rene den Wagon. Verzweifelt sah sie ihrem Bruder hinter her.
"Keine Angst ich werde später zu dir kommen."
Es roch etwas modrig, aber dennoch viel angenehmer als es aussah. Der Wagon besaß nur ein kleines Fenster direkt unter der Decke. Drei Matratzen lagen auf dem Boden und ein Klappbett stand zur Hälfte unter Lilous zukünftigem Schlafplatz.


"Hey ich bin Waris." stellte sich das schwarze Mädchen vor. Schwach lächelte sie und streckte Lilou ihre Hand schüchtern entgegen. Fast genauso schüchtern schüttelte Lilou ihre Hand. "Lil –äh … Camille."
Ein Mädchen mit Feuerroten Locken und olivgrünen Augen blickte Lilou skeptisch an.
"Wie heißt du wirklich?" fragte sie angriffslustig. Lilous Herz fing schneller zu schlagen an. Was sollte sie tun? Durfte sie zu diesen Mädchen ehrlich sein?
"Camille." Nervös kletterte sie umständlich in ihre Hängematte die alles andere als wirklich bequem war.
"Ist klar Camille. Aber falls du mal Hilfe brauchst kannst du ja zu jemand gehen der dir diese Nummer abkauft!" Sie kniff ihre Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen und sah Lilou durchdringlich an. "Joe lass das!" Ein Mädchen mit dunkelbraunen Haaren und tief blauen Augen warf Josephine einen wütenden Blick zu. Sie hatte ein Mondgesicht und ein paar Sommersprossen auf den Wangen, die wie kleine Schneeflocken wirkten.

"Ich bin Marion." Lächelnd stand sie von einer der Matratzen auf die sie sich anscheinend mit Waris teilte. Lilou nickte nur unsicher darauf. "Wo kommst du her?"
"Paris."
"Ach wirklich? Das soll ja die Stadt der Liebe sein nicht wahr?"
Lilou guckte so als ob sie noch nie etwas davon gehört hätte. "Marion lass das! So wurde Paris früher genannt, ich bezweifle das Camille je wirklich schulischen Unterricht hatte. Ich mein sehe dir doch nur mal ihre Kleider an."
"Joe!"
"Was denn? Ich mein ja nur…" Gelangweilt zupfte sie an ihren feuerroten Locken herum.
"Kommst du von der Straße?" Marions Stimme klang so liebevoll und fürsorglich, das Lilou sich am liebsten sofort weinend in ihre Arme geschmissen hätte. Einfach nur um alles was sie mit sich trug fallen lassen zu können. Dieses schwere und dunkle Paket Vergangenheit.

Sie atmete die kühle Luft tief ein und blinzelte ganz schnell um ihre Tränen zu unterdrücken. Marions Gesicht veränderte sich von freundlich zu besorgt. "Hey, ganz ruhig." sanft strich sie Lilou über den Arm. Nun gab es keinen Halt mehr, wie Wasserfälle liefen nun Lilous Tränen über ihr kindliches Gesicht. Josephine und die anderen Mädchen blickten neugierig auf sie und sahen sich immer wieder fragend an.

Sie warf ihre Arme um Marions Hals und weinte in ihre wohlduftenden braunen Haare. Lilou spürte wie Marions warme Hände sachte ihren Rücken streichelten. Lilou heulte eine ganze Weile bis sich ihr geschluchzte in leises wimmern verwandelt hatte. Dann nach einer Weile wurde es ganz still und Lilou war erschöpft in Marions Armen eingeschlafen. Ganz langsam und vorsichtig lies Marion Lilou zurück in ihre Hängematte gleiten.

"Was glaubst du was sie alles durchmachen musste?"
Waris flüsterte leise damit Lilou nicht aufwachte.
"Pah sicherlich nicht mehr als wir!" Josephine sah leicht verächtlich auf Lilous schlafenden Körper. Marion bestrafte Josephine mit einem genervten Blick bevor sie Waris antwortete: "Keine Ahnung. Waisenkind von der Straße eben. Aber was glaubt ihr wie alt sie ist?"
"Zehn." gab Josephine trocken von sich.
"Niemals! Bestimmt schon zwölf oder so." sagte ein etwas dickeres Mädchen mit blonden und zerzausten Haaren.
"Ich glaube Emilie hat Recht. Guckt euch nur mal ihren Körper an sie wächst langsam zu einer Frau."
"Bis die 'ne Frau ist bin ich Mutter von zehn Kindern."
"Joe! Hör endlich auf damit!" Marion warf ein Kissen in Josephines Richtung, während ihre Augen vor Zorn funkelten. "Das ist wirklich nicht angebracht!"

Josephine nahm das Kissen legte es unter ihren Kopf und ließ sich gemütlich auf ihrem Klappbett zurück sinken als Zeichen nun den Mund zu halten. Das türkische Mädchen mit einem türkisenen Kopftuch lachte leise.
"Sevval was denkst du eigentlich?" fragte Emilie sie.
"Ich? Ist mir eigentlich egal. Es kommen immer mehr Kinder und Jugendliche. Das einzige was mich interessiert ist wann wir endlich ankommen, denn länger halte ich es auf so engen Raum nicht mehr aus."
"Mein Rede." Josephine kicherte leise, doch diesmal sagte Marion nichts.
"Wir wissen ja nicht mal wo Sie uns genau hinbringen." warf Waris bedenklich ein.
"Natürlich wissen wir das." Josephine richtete sich wieder auf. "So eine Art Internat soll es sein. Das hat mir Calvin jedenfalls letzte Woche während dem Essen erzählt. Es reden schon eine Menge darüber! Angeblich wollen sie uns beibringen unsere Gaben richtig zu nutzen." Die anderen Mädchen warfen sich unsichere Blicke zu.
"Glaubst du Calvin etwa?" Emilie sah sie skeptisch an.
"Natürlich glaube ich ihm! Er hat mir seit ich hier bin von Anfang an geholfen. Außerdem versuchen er und die Jungs rauszufinden was das alles hier soll. Man kann sich auf ihre Informationen sicher verlassen!" Emilie sah Josephine noch immer skeptisch an, doch was sollten sie sonst glauben?

"Na ja vielleicht sollten wir auch mal versuchen mehr raus zu finden oder nicht?" Marion sah die anderen Mädchen auffordernd an.
"Sicherlich nicht! Weißt du denn nicht was mit -" Sevval senkte die Stimme und sah sich um als ob noch jemand im Wagon wäre. "Was mit diesem großen blonden Jungen – ihr wisst schon dem dessen Haare fast weiß sind – passiert ist? Anscheinent hat er sich mit Mr. Thompson angelegt und allen erzählt das sie uns als Sklaven oder so verkaufen wollen, keine Ahnung hat wohl Schaden gehabt der Gute. Na ja auf jeden Fall, seit diesem Abend hat ihn keiner mehr gesehen. Auch andere die irgendwas in Umlauf bringen verschwinden. Man vermutet, dass sie einfach während der Fahrt raus geworfen werden. Bei der Geschwindigkeit überlebt das doch keiner!"

Erschrocken blickte Emilie sie an und biss sich so fest auf die Unterlippe, dass sie zu bluten begann. Schnell warf Marion einen prüfenden Blick zu Lilou um sicher zu sein das sie noch immer schlief.
"Wenn das was du gerade gesagt hast wahr ist sollten wir erst recht raus finden was hier vor sich geht oder findet ihr nicht?"
Josephine nickte begeistert während Emilie sehr ängstlich drein blickte und mit ihrem Pullover Ärmel versuchte das Blut an ihrer Lippe zu stoppen. Auch Waris und Sevval stimmten Marion zu, doch Emilie schüttelte energisch den Kopf. "Seit ihr verrückt? Wollt ihr wirklich euer Leben aufs Spiel setzen. Ich dachte auf die Jungs kann man sicher verlassen… reicht das denn nicht?"

"Du glaubst Ihnen doch nicht einmal Emilie!" Josephine sah sie ziemlich zornig an so das Emilie unsicher hin und her rutschte." Ja schon aber-" ihr fiel nichts mehr ein was sie hätte sagen können. "Aber nichts also, ja? Wie kreativ." Josephine grinste spöttisch.
"Du musst ja nicht mit machen Emilie." sagte Marion sanft.
"Aber vielleicht ist das das einzig Richtige was wir tun können. Die Welt steht an einem Punkt an dem mit Leuten wie uns gespielt wird. Und wir sind keine Marionetten! Wir haben auch ein Recht ein glückliches Leben zu führen. Und wenn sie uns das nicht geben wollen, müssen wir es uns eben nehmen!"

"Klingt ziemlich rebellisch… das gefällt mir doch!" Breit grinsend sah Josephine Marion an worauf sie nur ein genervt lächelnden Blick erwiderte. "Daraus könnte man einen Film machen! Fünf Mädchen kämpfen für die Gerechtigkeit!" Erst jetzt wurde Marion bewusst das Josephine sich über sie lustig machte. "Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun?"
"Ich weiß nicht? Vielleicht nicht so einen unrealistischen Unsinn reden? Wäre zumindest mal ein Anfang. Calvin besorgt und alle Informationen die wir brauchen das heißt wir müssen erst mal die Ohren steif halten und sehen wie die Lage sich so zu spitzt. Hier sind wir sicherer als draußen. Oder habt ihr schon längst vergessen was die Menschen mit euch machen wollten? Was mit euren Freunden und Familien passiert ist? Ich denke so lange wir hier sind und uns nicht allzu dumm anstellen geschieht uns auch nichts! Lasst uns einfach nur Tee trinken und abwarten egal wie dumm das klingt. Was anderes bleibt uns auch nicht großartig übrig."

Emilie schien sehr erleichtert darüber, dass Josephine so dachte. Sevval und Waris sahen sich an und zuckten unentschlossen die Schultern. "Na ja wisst ihr was? Ich bin der Meinung das wir jetzt erst mal alle schlafen und morgen nachdem Frühstück sagt jeder was er für richtig hält. Die Mehrheit entscheidet dann, einverstanden?" Josephines olivgrüne Augen sahen jeden durchdringlich an und jedes Mädchen nickte zustimmend nacheinander.
"Dann hat sich das also fürs erste auch mal endlich geklärt. Gute Nacht." Sie ließ sich zurück fallen, drehte den anderen Mädchen den Rücken zu und schlief langsam ein.

Der feste Griff an Lilous Schulter ließ sie wieder aufwachen. Sie blickte direkt in Renes Gesicht. Ihre Wangen fühlten sich anderes an als sonst, es war dieses Gefühl des erwachen nachdem man weinend eingeschlafen war. Es war lange her seit dem sie das letzte Mal so sehr geweint hatte, doch jetzt fühlte Lilou sich irgendwie befreit und stärker. "Ich bin etliche Wagons weiter vorne. Es ist ein ziemlich großer, edler den ich mir nur mit zwei weiteren Jungen teilen muss. Nicht ganz so heruntergekommen wie dieser hier." Seine Augen wanderten durch den dunklen Wagon und nahmen jede Ecke direkt unter die Lupe. "Bis jetzt find ich es sehr gut hier, ich frage mich nur warum du hier sein musst und ich in einem so Tollen wohnen darf."

"Rene ich bin ziemlich müde. Können wir uns nicht einfach morgen treffen? Ich werde dich rufen in Ordnung?" Er wirkte zwar etwas enttäuscht nickte aber dann doch zustimmend, Rene wusste wie sehr seine Schwester den Schlaf brauchte und er gönnte es ihr.
"Alles klar, gute Nacht Schwesterchen." Er beugte sich vor und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Sofort war sie wieder in ihrer Traumwelt verschwunden. Lächelnd betrachte Rene Lilou, er hatte sie schon lange nicht mehr so friedlich schlafen gesehen. Leise verließ er wieder den Wagon ohne dabei eines der anderen Mädchen aufzuwecken.

Lautes Stimmengewirr weckte Lilou. Fremde Jungen und Mädchen liefen durch ihren Wagon und nahmen dabei keine Rücksicht auf sie. Lilou bemerkte sofort das die anderen Mädchen schon alle weg waren. Das unangenehme Gefühl vergessen worden zu sein machte sich schleichend in ihrer Magengrube breit. Mindestens Marion hätte sie doch wecken müssen.
Noch immer trug sie die dreckigen Kleider der letzten Tage und natürlich waren sie über die Nacht nicht wirklich sauber geworden. Etwas angewidert roch Lilou an sich selbst.

Während sie einsam in ihrer Hängematte saß fiel ihr auf das alle Jungen und Mädchen Uniformen trugen. So wie sie aussah konnte sie sich doch nirgends blicken lassen. Das unwohle Gefühl in ihrer Magengrube wuchs mit jedem Atemzug. Doch dann wie aus dem Nichts stand plötzlich Marion lächelnd vor ihr und all ihre Sorgen verkrochen sich ganz langsam.  
"Ah du bist endlich wach geworden! Wurde aber auch Zeit. So, komm mit ich zeig dir wo du dich sauber machen kannst und wo deine neuen Kleider sind."

Aufgeregt kletterte Lilou genauso umständlich wie sie hinein gekommen war wieder aus ihrer Hängematte hinaus und folgte Marion mit schnellen Schritten. Es dauert nicht allzu lange als sie in einem großen und von Mädchen gefüllten Waschwagon ankamen. Er war ziemlich sauber und mindestens dreimal so groß wie ihr Abteil. Die Waschbecken waren vergoldet und wirkten mehr als nur edel. Lilou starrte ziemlich ungläubig auf das was sich ihr bot. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas gesehen. Die sauberste Toilette die sie in ihrem Leben benutzt hatte war der Busch hinterm Kinderheim gewesen. Dort hingen nämlich keine menschlichen Reste und es stank auch nicht bis zum Himmel. Ihre ungewaschene Hand strich vorsichtig über eines der Waschbecken so als ob sie es nicht glauben könnte. So glatt und angenehm kühl fühlte es sich an. Es roch nach Seife und sauberes klares Wasser lief aus den Waschhähnen. Der Boden bestand aus weisen Fliesen die so glänzten, dass man sich fast darin spiegeln konnte.

Für jedes Mädchen gab es einen Haken an dem ein für sie hingerichteter Waschbeutel hing in dem alles drin war was sie brauchten. Lilous Kinnlade fiel hinunter als sie ihren Namen entdeckte. Camille stand in goldener schön geschwungener Schrift auf einem Schildchen direkt darüber. Sofort lief sie ganz aufgeregt hin und öffnete ihn. Es befand sich ein Waschlappen, ein kleines Handtuch, eine rosa Seife, eine ganz neue blaue Zahnbürste und auch etwas Schminke darin.

"Gehört das nun alles mir?" Marion lachte auf die Frage liebevoll. "Ja."
In Marions Augen befand sich ein gewisser Glanz der Erinnerung, wie sie damals an Lilous Stelle gestanden hatte und ihren Augen kaum trauen konnte. Es war noch nicht allzu lange her und doch kam es ihr wie eine Ewigkeit vor.
"Los komm wir haben nicht mehr so viel Zeit bis zum Frühstück." Lilou löste sich von dem wunderbaren Anblick ihres Waschbeutels und folgte Marion zu den Duschen die sich in einem eigenen Wagon befanden, es gab insgesamt zehn kleine Duschkabinen.

"So diese hier ist frei." Marion deutete auf eine Kabine mit vergoldetem Drehknauf. Zwar hatte jede Tür etwas Goldenes an sich, doch bei jeder war es etwas anderes. Eine war vollkommen vergoldet bei einer anderen wiederrum nur das Schlüsselloch. "Zieh alles aus was du an hast und schieb es mir dann unter der Tür durch. So lange du duschst bring ich dir dann deine neuen Kleider."

Schnell schälte Lilou sich aus den ganzen dreckig und stinkenden Sachen. Alles legte sie ab außer einen Ring den sie immer an ihrer Hand trug, es war das einzige Geschenk ihrer leiblichen Mutter gewesen. "Hier." vorsichtig schob sie es Marion unter der Kabinentür durch. Sie hörte wie Marion ihre dreckigen Kleider aufhob und davon lief. Erst jetzt sah sie sich die Dusche genauer an. Natürlich war der Duschkopf auch aus Gold und alles glänzte nur so vor Sauberkeit. Ihre Augen wanderten über jedes kleinste Fleckchen und es dauerte eine Weile bis sie sich traute zu duschen. Sofort floss perfekt warmes Wasser aus dem Duschkopf nachdem sie zaghaft die Waschbatterie aufgedreht hatte. Erschrocken zuckte sie zusammen.


Warmes Wasser? Lilou hatte noch nie warm geduscht, geschweige denn überhaupt in einer Duschkabine! Sie war kaltes Regenwasser gewohnt. Die Tropfen fielen auf ihre wunderbare jugendliche Haut und umhüllten ihren Körper in einer angenehmen Atmosphäre. Sie ließ sich Zeit, so lange bis all der Dreck auf ihrer Haut davon geschwommen war. Ihre Hand griff nach der rosa Seife die sich auf einer der goldenen Ablagen befand und schmierte sich damit ein. Rosa Schaum bildete sich auf ihrem Körper und Lilou konnte es einfach noch immer nicht glauben.
Du träumst das! Es ist nur ein Traum so etwas gibt es nicht! Zumindest nicht in deiner Welt.
Aber es fühlte sich so echt an! So wirklich.

Und auf einmal begann sie zu strahlen, wie noch nie in ihrem Leben. Ihr Kiefer schmerzte schon vor lauter grinsen, doch sie konnte nicht anderes. Ja dieses einmal ging es ihr gut, dieses eine Mal hatte sie Glück und dieses eine Mal durfte sie es mit vollen Zügen genießen! Sie schloss ihre Augen atmete tief ein, um ganz genau zu spüren wie der Schaum an ihrem Körper langsam hinunter lief.

"Camille wie lange brauchst du denn noch?" Marions unruhige Stimme holte sie aus ihren Gedanken wieder zurück.
"Ähm… ja, ja äh… bin gleich fertig!" Tollpatschig drehte Lilou sich ein paar um sich selbst bevor sie das Wasser wieder abstellte.
"Handtuch?"
Marions Hand tauchte unter Kabinentür auf und streckte ihr ein flauschig rosa Handtuch entgegen. Schnell schnappe sie es sich und hüllte ihren nassen Körper darin ein. Dann öffnete Lilou gut gelaunt die Tür und schlüpfte zu Marion hinaus. Inzwischen war der Duschwagon abgesehen von den beiden leer. Ihre nassen hellblonden Haare fielen wild auf ihre nackten Schultern. Marion blickte sie eine Weile stumm an bis sie sagte: "Du bist wunderschön Camille."

Dieses Kompliment kam für Lilou so überraschend, dass sie nicht wusste was sie darauf sagen sollte. "Unbeschreiblich schön." Noch immer starrte sie Lilou mit großen Augen an.
Vorsichtig berührte Marions Hand ihre Schulter. "Deine Haut ist so glatt und zart… vollkommen makellos." Lilou wusste das sie sehr hübsch war, ja vielleicht auch hübscher als andere aber ihr war nie klar gewesen wie schön sie wirklich war. Es gefiel ihr nicht wie Marion sie an starrte, es war ihr mehr als nur unangenehm.

"Hier sind deine Kleider." Noch immer etwas perplex reichte Marion Lilou ihre neue Uniform hin. "Zieh sie schnell an die anderen warten schon und wir wollen ja auch noch etwas vom Essen abbekommen oder?" Lilou nickte unsicher und wünschte sich Marion würde endlich wo anderes hin blicken nur nicht auf sie. "Ähm… ja dann geh ich mal raus und warte auf dich."

Als Marion endlich verschwunden war lies Lilou ihr Handtuch fallen und betrachtete sich im Spiegel. Es war das erste Mal das sie ihren Körper vollkommen sah. Ihre Beine waren lang und schlank, ihre Waden ein bisschen kräftig und ihr Po zeigte unreine Hautstellen auf. Lilous Brüste waren passend zu ihrem Körper groß und wohl geformt, ihre Hüfte war schmal und ihr Bauch gefiel Lilou besonderes gut. Ihr ganzer Körper - abgesehen von ihrem Po - wurde von einer makellosen Haut bedeckt. Lilou lächelte, ja in diesem Körper konnte sie gut leben. Sie genoss es sich selbst sehen zu können.

Irgendwann da kaufe ich mir einen großen, wunderschönen Spiegel in dem ich mich Tag und Nacht ansehen kann. Lilou war nie eitel gewesen, doch jetzt da sie wusste wie schön sie war veränderte sich etwas in ihr. Selbstbewusstsein wuchs in ihr und wurde mit jedem Blick in den Spiegel größer. Schnell schlüpfte sie in ihre Uniform. Sie bestand aus einem langen dunkelblauen – fast schwarzen - Rock der weit über die Knie reichte, in derselben Farbe ein Top, das unter der weißen langärmligen Bluse getragen wurde, und dazu eine dunkelblau giftgrün gestreifte Krawatte und schwarze Lederschuhe. Sie betonte zwar nicht wirklich Lilous Figur aber sie sah darin nicht wie ein Zwerg aus oder vollkommen unförmig wie Josephine in ihrer Uniform.

Zufrieden lächelnd trat Lilou wieder in den Waschsalon wo Marion schon ungeduldig auf sie wartete. "Und wie sehe ich aus?" stolz präsentierte Lilou sich in ihrem neuen Outfit. "Anders als davor auf jeden Fall. Leider immer noch unpassend. Also Schminke musst du nicht unbedingt auftragen aber deine Haare… die können auf keinen Fall so bleiben!" Gestern Abend hatten alle Mädchen ihre Haare offen getragen, doch auch Marions zerzaustes braunes Haar war ordentlich zu einer komplizierten Flechtfrisur hingerichtet worden.

Ihr Mond förmiges Gesicht wirkte damit noch runder. "Ich kann so was nicht." Lilous Augen nahmen Marions Frisur genau unter die Lupe, sie konnte kein System dahinter erkennen. Wie in aller Welt bekommt man seine Haare nur so hin? "Musst du auch nicht. Komm setzt dich, ich flechte dir eine ganz einfache Frisur. Du musst wissen Mr. Thompson legt sehr viel Wert darauf, wenn du deine Haare offen trägst musst du Strafarbeit machen."

Strafarbeit. Dieses Wort kannte Lilou vom Kinderheim nur zu gut. Die Strafarbeit bestand meistens darin den dreckigen Boden zu schrubben, Kartoffeln zu schälen oder draußen in der Kälte Holz für den Ofen zu hacken.
"Und wie sehen die bitte aus?" fragte Lilou während Marion ihre nassen Haare glatt bürstete.
"Weiß nicht, da musst du Joe fragen. Sie muss so gut wie jeden Tag irgendwelche Strafarbeiten erledigen. Du musst wissen sie hat einen unglaublichen Dickschädel und einen noch größeren Stolz." Lilou lachte leise. Josephine würde sich mit Rene bestimmt gut verstehen.

Kapitel 3

"Weiß nicht, da musst du Joe fragen. Sie muss so gut wie jeden Tag irgendwelche Strafarbeiten erledigen. Du musst wissen sie hat einen unglaublichen Dickschädel und einen noch größeren Stolz." Lilou lachte leise. Josephine würde sich mit Rene bestimmt gut verstehen. "Mein Bruder ist genauso. Ständig meint er mich beschützen zu müssen. Dabei ist er doch genauso alt wie ich." Marion nickte nur stumm und begann vorsichtig Lilous goldblonde Harre zu flechten. Noch nie hatte sie so seidig weiche Haare in ihren Händen gehalten. "Und was ist mit deinen Eltern? Wo sind sie?"

Lilou schwieg eine Weile doch dann antwortete sie etwas betonlos: "Ich habe sie nie kennen gelernt. Nur in meinen Träumen bin ich ihnen schon öfters begegnet."
"Du weißt also nicht wie sie… nun ob sie noch leben?"
Marion fiel es nicht allzu schwer über diese schwierigen Themen zu reden. Es war fast als ob sie noch nie etwas anderes gemacht hätte. Rene und Lilou sprachen recht selten über ihre Eltern und sonst fragte sie auch niemand danach. Im Kinderheim war egal wie man Waise oder Straßenkind geworden war. Es würde schließlich auch nichts daran ändern.
"Hat man dich und deinen Bruder also noch nicht entdeckt oder wieso seit ihr nachts allein herum gestreunt?"
"Entdeckt?" Lilou wusste nicht worauf Marion raus wollte.
"Nun… du weißt schon wovon ich rede." Auf einmal fiel es Marion irgendwie schwer offen zu reden, obwohl es ihr doch noch vor wenigen Sekunden so leicht über dir Lippen gegangen war.
"Nein ich - " Lilou drehte sich zu Marion um und blickte sie fragend an. "weiß wirklich nicht wovon du redest. Wer sollte uns denn überhaupt finden wollen?"

Marions Hände zitterten leicht. "Du weißt es wirklich nicht oder? Du hast… - " Tränen stiegen in Marions Augen und ihre Lippen begannen zu zittern. "Du hast nichts mit bekommen von all dem?" Nun hielt sie nichts mehr, laut begann Marion zu schluchzen. Es war eine sehr nasse und laute Heulerei. Lilou saß da und wusste nicht wie ihr geschah. Sie spürte das Verlangen Marion zu trösten, irgendetwas zu sagen oder sie einfach nur in den Arm zu nehmen. Doch etwas in ihr hinderte sie daran.

Lilou hatte noch nie jemand trösten müssen, Rene weinte nicht und normaler Weise war doch sie diejenige die plötzlich zu heulen begann. Auf einmal fühlte sie sich so nutzlos. Lilou war zwar unglaublich schön aber Schönheit nützte niemanden. Sie war nicht mal in der Lage ein weinendes Mädchen zu trösten. Warum? Warum weinte Marion so sehr? Von was sprach sie da nur, Lilou wusste nichts von der Welt. Sie kannte die Regeln im Kinderheim, wusste wie man heimlich Essen aus der Küche stahl und wie sehr es in den Straßen Paris stank. Das war ihre kleine Welt. Es war das erste Mal das Lilou sich wo anderes befand und sie wusste nicht wie sie sich zu verhalten hatte oder was man von ihr erwartete.

Sie kam sich so dumm vor, anscheinend ging hier irgendetwas schief und jeder außer ihr wusste Bescheid. Marions Hand fuhr zu ihrem Unterarm und langsam zog sie den Ärmel ihrer Bluse hoch. Erschrocken hob Lilou ihre Augenbraue. Sie konnte nicht glauben was sie dort sah. Auf Marions Unterarmhaut bildeten verbrannte Linien ein seltsames Zeichen. Es war ein Kreis, in der Mitte zog sich eine Linie ganz durch und zwei kürzere bogen sich nach links und rechts ab. Noch nie hatte Lilou so eine Art Symbol gesehen.
"W-was ist das?" Marions Tränen flossen noch immer wie schmale Flüsse über ihre Wangen. Leise schniefte sie: "Du weißt nicht was das ist?"
Stumm schüttelte Lilou den Kopf. Ein gequältes Lächeln zog sich über Marions Gesicht. "Es stimmt also."
"Was?"
"Das Unwissenheit ein Segen ist. Ich mein du, du hast nichts mit bekommen. Gar nichts." Wieder begann sie laut zu schluchzen.
Noch immer ruhten Lilous Augen auf dem Brandzeichen.
"Tut es weh?"
Marion nickte. "Fast immer."
"Darf ich es anfassen?" Marion schien über die Frage verwundert nickte aber einverstanden. Ganz sachte strich Lilou mit ihren zarten Fingern darüber. Die Haut an den verbrannten Stellen war rau, und leicht erhöht. Ganz seltsam fühlte es sich an. Lilou blickte mitfühlend zu Marion. "Es muss sehr wehgetan haben oder?" Marion holte tief Luft und ihre Lippen bebten. Erfolgreich konnte sie die kommenden Tränen unter drücken.
"Es war unerträglich… aber wir tragen fast alle dieses Zeichen auf unserer Haut."
"Wer hat das getan?"

Lilou konnte in Marions Gesicht sehen wie schlimm es für sie war das Lilou keine Ahnung von alldem hatte.
"Dein Bruder und du, ihr habt doch auch diese ungewöhnlichen Gaben eigentlich müsstet ihr auch dieses Zeichen tragen.
Ich mein, hast du dich nie gefragt warum ihr diese außergewöhnlichen Talente besitzt?"
"Ich weiß mein Bruder hat da diese Gabe aber -"
"Moment, du hast etwa keine?" Erschrocken wurden Marions Augen größer. "Aber ihr seid doch Geschwister wie kann das sein?"
Lilou blickte Marion verwirrt an. "Ich… ich weiß es nicht."
"Wenn Mr. Thompson raus findet das du für ihn wertlos bist dann..." Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
"Ich glaube er weiß das schon." Lilous Magen verzog sich unangenehm zusammen. Würde sie Schwierigkeiten bekommen?
Plötzlich wurde die Tür zum Waschsalon geöffnet und Josephine trat ein. "Hey ihr zwei Pfeifen." Spöttisch grinsend lief sie zu ihnen herüber. Als ihr Marions verheultes Gesicht auffiel verzog sich ihr Gesicht seltsam. "Was ist hier denn los?"

Josephines Blick fiel auf Marions Brandnarbe. "Nicht schon wieder oder? Marion lass es doch einfach wenn es dir nicht gut tut darüber zu reden." Marion warf ihr wütende Blicke zu die an Josephine aber nur abzuprallen schienen. "Camille besitzt keine Gabe."
Interessiert leuchteten Josephines Augen auf. "Und das macht dich so sentimental oder wie?"
Marion stöhnte genervt auf. "Nein aber du weißt was das heißt."
"Jap. Bye, bye Camille." Josephine sprach ihren erfunden Namen noch immer verächtlich aus.
"Joe das ist nicht witzig."
Josephine seufzte und setze sich neben Marion. "Ja okey, tut mir Leid Camille. Sollen wir sie deiner Meinung nach vielleicht verstecken?" Marion schüttelte den Kopf. "Nein Mr. Thompson weiß es, er hat sie trotzdem aufgenommen also hat er wohl noch etwas vor mit Camille vor oder nicht?"
"Hoffen wir es mal für sie." Josephines Augen sahen Lilou misstrauisch an. Ihre feuerroten Locken fielen ihr immer wieder ins Gesicht und mit einer schnellen Handbewegung steckte Josephine sie sich zurück hinters Ohr.

Durchdringlich nahmen ihre Augen Lilous Körper ganz genau unter die Lupe, Josephine bemerkte Lilous ungewöhnliche Schönheit sofort, jedoch sagte sie nichts dazu, wie Marion es getan hatte. Marion krempelte ihren Blusenärmel wieder runter und flocht hastig Lilous Haare zu Ende. Josephine saß stumm neben ihnen und dachte angestrengt nach, immer wieder warf Lilou ihr heimlich schnelle Blicke zu. Tief im Gedanken versunken knapperte Josephine an ihren Fingernägel. Eine Weile lang überlegte Lilou zu fragen ob auch Josephine so ein seltsames Symbol auf ihrem Unterarm trug, jedoch hatte sie zu großen Respekt vor ihr um Josephine mitten in ihren Gedanken zu stören. Lilous Augen ruhten auf Josephines Unterarm und auch wenn es nur ganz schwach war konnte sie das Symbol unter dem weisen Stoff der Bluse erkennen.

'…wir tragen fast alle dieses Zeichen auf unserer Haut.'
Wen meinte Marion nur mit fast alle? Fast alle die nun wie sie im Express lebten?
Während Lilou sowie auch Josephine stumm vor sich hin grübelte war Marion mit dem flechten fertig geworden. "Zum Frühstück kommen wir nicht mehr rechtzeitig."
Marion wirkte etwas wütend darüber, und Lilou hatte das unwohle Gefühl daran schuld zu sein.
"Cool schon die zweite Strafarbeit heute. Vorhin war ich bei Calvin und den Jungs, ein absolutes Verbot! Aber na ja… musste mit ihnen reden. Natürlich hat uns der Besen erwischt. So langsam glaube ich wirklich der spioniert mir nach. Warts nur ab, er steht bestimmt vorm Waschwagon und belauscht uns?" In Josephines Augen lag ein gewisser Glanz den Lilou nicht einzuordnen wusste. Aber sie war sich sicher, dass Josephine die Strafarbeiten als Trophäen ansah.

Jede einzelne war auf komische Art und Weise ein Trumpf für sie.

Kapitel 4

Aber sie war sich sicher, dass Josephine die Strafarbeiten als Trophäen ansah. Jede einzelne war auf komische Art und Weise ein Trumpf für sie. Lilou wusste das sie sich in einem Zug befanden und doch spürte man nichts davon. Es fühlte sich so an als würde der Zug die ganze Zeit still stehen, aber wenn sie aus den kleinen Fenstern lugte konnte Lilou alles an sich vorbei rauschen sehen. Als die drei Mädchen den Waschsalon verließen und den Verbindungswagon betraten lungerte dort der schlaksige Typ mit der grauenhaften Stimme, den Lilou von letzter Nacht kannte, herum. Josephines Miene verfinsterte sich, jedoch schwieg sie überraschender Weise und lief würdevoll an ihm vorbei, ohne ihm auch nur noch einen Blick zu schenken. Sie durchquerten noch ein paar Verbindung- als auch Wohnwagons bis sie das Essensabteil erreichten. Er war ziemlich groß, etliche Tische standen durcheinander und eng überall verteilt herum.
Obwohl das Ganze ein ziemliches Durcheinander war steckte doch ein System dahinter. Lilous Augen beobachten aufmerksam wie sich alle auf den Bänken und Stühlen quetschen und sich um das Essen stritten. Dieses Bild löste in ihr ein unangenehmes Gefühl aus, denn es erinnerte sie stark an das Kinderheim. Nun konnte sie Josephines Laune etwas nachvollziehen, wenn man eine sehr lange Zeit auf so engen Raum mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten lebte, konnte man ja gar nicht mehr anders als zu rebellieren. Marion lief zielsicher voran und blieb plötzlich unerwartet stehen, so das Lilou in Josephine stolperte und sich damit ein bösen Blick einfing. Schnell bemerkte Lilou den Grund für Marions abruptes Handeln.

Eine Schar hatte sich zu einem Kreis gebildet, einige standen auf den klapprigen Stühlen als auch auf den Tischen, um somit eine bessere Sichtweise zu erlangen. Josephine kämpfte sie gewaltsam durch die Menge hindurch, Marion packte Lilou etwas unsanft an der Hand und folgte ihrer Freundin genauso zielstrebig. Nachdem sich die Mädchen mühevoll nach vorne gekämpft hatten konnte Lilou endlich erkennen was passiert war. Zwei Jungen saßen schweratmend, mit Schweiß der langsam von ihrer Stirn herunter lief und mit weit aufgerissen Augen auf dem kalten Holzboden. Tief rotes Blut tropfte auf das Holz, ganz schnell fiel es hinab und landete aber sachte auf dem Boden. Die Holzbretter saugten das tiefrote Blut ein, und doch würden sie immer kleine Spuren hinterlassen und an diesen Kampf erinnern.

Sofort zog einer der Jungen Lilous ganze Aufmerksamkeit auf sich, er hatte helle Haut die an den meisten Körperstellen mit den unterschiedlichsten Tattoos überzogen war. Obwohl er saß wirkte er recht groß, seine Moosgrünen Augen wirkten verstört und er blickte hilfesuchend zu Josephine, die seine Blicke wiederum nicht wahrnahm. Josephines Augen waren damit beschäftigt angespannt den Essenswagon abzusuchen, innerlich quälte sich Lilou damit nicht wissen zu können nach wem oder was sie Ausschau hielt.

Erst beim zweiten Mal hingucken bemerkte Lilou das sich die Tattoos auf seiner Haut bewegten. Eine blutrote Rose an seinem linken Oberarm zog Lilous ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Sanft wiegte sich die Rose hin und her, immer wieder öffnete sie ihre prachtvollen Blüten, die mit ihrer Schönheit einen unvorhersehbar aus der Realität riss und in eine andere Welt blicken ließ.

Lilous Augen waren ganz fasziniert von diesem, ihr vollkommen fremden, Bild. Irgendwie strahlte die blutrote Rose etwas tröstliches, ja schon fast friedliches aus. Sie war sich ganz sicher, dass diese vielen Tattoos eine Geschichte erzählten. Vielleicht über den Jungen, vielleicht aber auch über etwas viel Größeres. Ein dunkles Geheimnis? Nur zu gerne hätte sie gewusst was die vielen Schriftzeichen, Symbole, Tiere und vor allem die blutrote Rose zu bedeuten hatten.

Der fremde Junge versuchte erfolglos mit seiner Hand die Platzwunde an seiner Stirn zu stoppen, doch das Blut drang sich zwischen seinen Fingern durch und floss über sein Gesicht.
Er sah wirklich ziemlich schrecklich aus. Immer wieder verzog sich sein Gesicht vor Schmerz, Tränen standen in seinen Augen, aber er würde niemals Schwäche zeigen. Erst jetzt nahm Lilou auch den anderen Jungen war, Blut lief ihm aus der Nase und sein rechtes Auge war bösartig angeschwollen.

"Calvin." flüsterte Marion entsetzt. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet und starrten sorgevoll zu dem Jungen mit den Tattoos. Plötzlich bemerkte Lilou das Josephine verschwunden war. Stirnrunzelnd sah sie sich um, doch weit und breit war nichts von ihr zusehen.
Wo war Josephine nur hin?

Gerade als Lilou Marion auf Josephines plötzliches verschwinden hinweisen wollte trat ein fast drei Meter großer, muskulöser Mann mit kurzen Ingo blau schimmerten Haaren aus der Schaulustigen Menge. Mit schnellen Schritten lief er zu Calvin und dem anderen Jungen, packte sie grob an den Schultern und zog die beiden ruckartig hoch. Seine fast schwarzen Augen funkelten zornig, wie die eines hungrigen Bären.

Seine schmalen Lippen zogen sich zu einer seltsamen Grimasse. Dem Mann seine Hände, die Bärenpranken mehr als nur ähnelten, gruben sich in das Fleisch der Jungen und ließ sie vor Schmerzen aufstöhnen. "Was ist passiert?" seine Stimme sprach langsam und drohend, sie war so tief und grummelnd das man meinen könnte ein Fels würde sprechen. Schweigend hob Calvin den Arm und zeigte auf ein kleines Mädchen, dessen Gesicht kreidebleich war und die nur wenige Meter von Marion und Lilou entfernt stand.

Sie besaß eine Stupsnase die sie sehr jung aussehen ließ, ihre pechschwarzen Haare waren streng zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Bärenmann, mit den Ingo blauen Haaren, ließ die beiden Jungen so plötzlich wieder los, dass sie geräuschvoll wieder zu Boden gingen. Ganz langsam, fast schon bedrohlich, lief er auf das Mädchen zu. Nun nahm Lilou die kalte Stille war, es herrschte totenstille wie auf einem verlassenen Friedhof. Keiner sprach mehr ein Wort, kämpfte um Essen oder bewegte sich auch nur einen Millimeter.

"Hast du sie gezwungen sich zu prügeln?"
"Nein, Sir." antwortete sie mit dünner und zittriger Stimme.
"Gabst du Ihnen einen Grund dazu?"
Seine dunklen Bärenaugen beobachteten sie durchdringlich. Nervös sahen ihre kastanienbraunen Augen auf die schwarzen Lackschuhe die sie trug.
"Nein, Sir."
"Was hast du dann getan?"

Sie schwieg eine ganze Weile, und mit jeder Sekunde in der kein Wort fiel wuchs die Anspannung. Es war eine merkwürdige Atmosphäre die sie alle umgab. Ohne aufzublicken antwortete sie ängstlich: "Ich habe ihn berührt."
Die buschigen Augenbrauen des Mannes zogen sich nachdenklich zusammen, und auf einmal bekam er den gleichen Blick wie Schweinebacke, der Rene in der Nacht ihrer Flucht genauso angesehen hatte. Voller Gier. Ein grimmiges Lächeln zog sich über sein kantiges Gesicht.
"Nun, ich glaube dieser Vorfall wird Mr. Thompson sehr interessieren. "
Erschrocken blickte das Mädchen ihn an, doch sofort wandten sich ihre Augen wieder von ihm ab. Nervös kaute sie auf ihren schmalen Lippen.
"Bee würdest du mir bitte folgen?" obwohl es eine Bitte war, klang es wir ein forscher Befehl. Mit eingeschüchterter Haltung folgte sie ihm. Schnellen Schrittes verschwanden sie, genauso schnell wie er vor wenigen Minuten aufgetaucht war, und mit ihm ein kleines schüchternes Mädchen.

Kapitel 5

"Bee würdest du mir bitte folgen?"
Obwohl es eine Bitte war, klang es wie ein forscher Befehl.
Mit eingeschüchterter Haltung folgte sie ihm. Schnellen Schrittes verschwanden sie, genauso schnell wie er vor wenigen Minuten aufgetaucht war, und mit ihm ein kleines schüchternes Mädchen.

"Wer war das?" Lilou hauchte die Worte so leise das sie Marions Ohren nicht erreichten. Noch immer war es mucks Mäuschen still. Niemand wagte diese grauenhafte Ruhe zu stören.
Ganz langsam begannen sich die ersten wieder zu bewegen und allmählich kam Leben zurück. Doch Lilou spürte genau das die seltsame Atmosphäre geblieben war, alle tuschelten miteinander und flüsterten sich leise irgendwelche geheimen Worte zu. Niemand sprach laut, nur mit seinem engsten Vertrauten. Es wäre naiv und gefährlich seine Gedanken laut auszusprechen das spürte Lilou sofort. Obwohl sich die meisten nicht mehr so auffällig verhielten war es unruhiger als zuvor. Marion winkte Lilou zu ihr zu folgen, eifrig liefen sie zu einem der Tische, an denen schon Waris, Emilie und Sevval saßen. Lilou wunderte sich darüber das Marion nichts über Josephines plötzliches verschwinden sagte. Es war fast so, als ob es normal wäre auf einmal ohne auch nur ein Wort zusagen einfach zu verschwinden.

Lilou setze sich auf den einzigen freien Platz der sich neben Emilie befand. Emilies Haare waren nicht so schön und glattgeflochten wie Lilous, ihre blonden Haare waren sehr ausgefranzt und verstrubelt. Obwohl Lilou sich versuchte im Hintergrund zuhalten waren alle Blicke auf sie gerichtet. Manche voller Neid andere wiederum voller Neugier und Sehnsucht. Die Neidvollen Blicke stammten im allgemeinem von Mädchen, und diese Blicke der Sehnsucht, Sehnsucht danach sie zu berühren. Ihre makellose Haut, diesen wunderschönen jungen Körper.

Lilou fühlte sich sichtlich verloren unter all diesen fremden Augen die sie anstarrten. Niemand machte sich die Mühe Lilou unauffällig zu beobachten, es war als sei sie ein Film. Hilfesuchend sah Lilou zu Marion. Diese zuckte nur unwissend die Schultern und blickte sich fragend um. Plötzlich packte eine Hand Lilou hart an ihrer Schulter. "Hey!" Schmerzvoll schrie sie auf. Vertraute Augen funkelten sie wütend an. Rene.

Sie hatten ihn nur selten so zornig gesehen.
"Was soll das Lilly? Bist du vollkommen bescheuert?"

"Rene bitte, ich wollte ni- "

"Halt den Mund! Weißt du eigentlich was hier für Gedanken herum schwirren!? Du hast keine Ahnung was deine Schönheit für grässliche Gedanken hervorruft!"

"Nein aber, ich verstehe nicht was- "

Die Mädchen warfen sich verwirrte Blicke zu.

"NEIN, NEIN! DU VERSTEHST DOCH NIE ETWAS! Lilly, manche glauben Schönheit wäre ein Segen, doch das ist eine Lüge! Verstehst du denn nicht? Es ist vielmehr ein Fluch!
Ein fürchterlicher Fluch, den du nicht ernst nimmst!"

Rene achtete nicht darauf, dass er nun mit seiner wirklichen Stimme sprach. Sie war so hart und scharf, Lilou konnte sich nicht daran erinnern das er jemals so mit ihr geschimpft hatte.

"Lilly? Ich dachte du heißt Camille." Waris hellbraune Augen glitzerten vor Neugier. Marions Gesicht sah sie fassungslos an. "Du hast uns die ganze Zeit belogen? Joe hatte also Recht gehabt…" Lilou tat es ihm Herzen schrecklich weh. Nicht das sie gelogen hatte, nein es tat ihr nur Leid wie sie sich Marion gegenüber verhalten hatte. Lilou hätte wissen müssen das sie zu Marion ehrlich sein konnte. Doch es blieb keine Zeit sich zu entschuldigen oder große Erklärungen abzugeben, denn Renes Stimme hallte wieder in ihrem Kopf.

"Es war ein Fehler mit zufahren! Dich alleine zulassen! Du bist so naiv! Denkst nie nach, dir ist nicht bewusst was du alles anrichtest! Und bringst dich dabei doch noch in so große Gefahr!"

Er sollte endlich still sein! Aufhören über ihr Verhalten zu urteilen. Mit welchem Recht tat er das eigentlich? Aber auch jetzt, in diesem Moment, in dem sie das erste Mal anderes und gegen ihren Bruder dachte, wusste sie das sie ihm gehorchen würde, genauso wie sich es all die Jahre zuvor auch schon getan hatte.

"Gibt es irgendein Problem?" Josephine war hinter Rene aufgetaucht und ihre olivgrünen Augen durchbohrten seinen Körper durchdringlich. Einen Moment lang sah er sie nur still an. Lilou wusste das er selbstbewusste und starke Frauen nicht gewohnt war. Im Kinderheim waren immer die starken an der Macht gewesen, die Jungs sagten wo es lang ging und die Mädchen gehorchten. Was blieb Ihnen anderes übrig?

Lilou hatte auch nie ein Problem damit gehabt, wozu auch?
Sie kannte es nicht anderes. Aber hier, war es nicht so, nicht der stärkste war an der Macht. Jeder kämpfte für sich, Mädchen mussten nicht beschützt werden, denn sie waren selbst stark.

"Nein gibt es nicht." Er warf Lilou einen grimmigen Blick zu.
"Wir reden später weiter!" Und mit diesen Worten verschwand er so rasch in der Menge, das Lilou nicht einmal Zeit hatte noch etwas zu erwidern.

"Wer war das denn?" Josephine setze mal wieder ihr allbekanntes spöttisches Gesicht auf und sah die anderen Mädchen erwartungsvoll an.

"Lillys Bruder."  gab Marion trocken zu Antwort. Kleine Falten bildeten sich auf Josephines Stirn. "Lilly?" Sie kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen und wie eine fauchende Katze sagte sie: "Ich habe es doch die ganze Zeit gewusst, dass du eine Lügnerin bist!"

"Nein ich- "

"Für Lügen gibt es keine Entschuldigung." Das war nun Marion. Ihre Stimme klang kalt und streng nicht so fürsorglich und mütterlich wie Lilou sie kennen gelernt hatte.

"Das wollte ich doch nicht… " ihre Stimme versagte. Es gab nichts, dass sie sagen konnte, nichts das für die Mädchen von Bedeutung wäre. "Verzeih mir." Lilous Augen sahen entschuldigend in Marions.

Stille.

Niemand sagte etwas. Alle waren über Lilous Worte zu sehr erstaunt. "Wie war das?" Josephines Stirn lag nun noch mehr in Falten. Lilou bekam das merkwürdige Gefühl etwas vollkommen Falsches gesagt zu haben, etwas das einfach nur absurd wäre. Marions Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. Tränen standen in ihren Augen und sie warf den anderen immer wieder Blicke zu die Lilou nicht zu deuten wusste.

Unerwartet knurrte Lious Magen hungrig auf und ohne ein Wort schob Josephine Lilou ihren noch vollen Teller hin. Trotz großem Hunger sah sogar dieses Essen nicht sonderlich lecker aus, doch ohne großartig abzuwarten schnappte Lilou sich einen Löffel und stopfte sich gierig die seltsam aussehende braune Pampe in ihren kleinen Mund. Überraschend schmeckte die Suppe oder Brei, was auch immer diese Kotze sehr ähnlich sehende Matsche sein sollte, nicht so schlecht wie sie aussah. Marion tuschelte Josephine erregt mit wildem aufgeregtem Blick Dinge ins Ohr, obwohl Lilou wusste das es um nichts anderes als sie ging interessierte sie sich nicht dafür. Erst einmal musste sie diesen ekligen Hunger der ihren Magen schrecklich quälte stillen. Emilie, Sevval und Waris lauschten Marions leisen Worten, verstanden aber keines davon. Lilou hatte ihren Brei schon längst fertig geschlungen, während Josephine Marion noch immer mit grimmigem Blick aufmerksam zuhörte. Ab und an nickte sie und gab ein zustimmendes Hm von sich. Josephines olivgrüne Augen sahen  Lilou unentwegt an, wie eine Katze bevor sie sich auf ihre Beute stürzte. Ohne, dass es ihr wirklich bewusst war, starrte Lilou mindestens genauso unentwegt und katzenhaft mit ihren wunderschön grün glänzenden Augen zurück.

Als Marion endlich fertig war, Josephines Ohren tot zu tuscheln, blickte sie sich vorsichtig um bevor sie den anderen Mädchen befahl ihren Wagon aufzusuchen. Zwar hatte Lilou noch immer etwas Hunger, doch nun da er ein kleinwenig gestillt war wuchs ihre Neugier und die Frage über was Marion so erregt gesprochen hatte ließ sie nicht mehr los. Duzende Augen folgten jeden ihrer Schritte, Augen. Was für Gesichter sich wohl hinter ihnen verbargen?

Kämpfer?

Verlorene Herzen?

Oder sogar Kinder wie sie selbst?

Sie würde es wohl nie erfahren wer sich hinter all diesen Augen verbarg, warum sie Lilou so anstarrten und was sie dabei über sie dachten.

Josephine führte die Gruppe sicher durch die Menge. Immer wieder trat Lilou jemand auf den Fuß oder ein Ellbogen rammte sich in ihre Rippen. Erst jetzt wurde ihr wieder bewusst wie voll es war, wie viele Kinder wohl hier lebten?

Und auf einmal war sie da.

Diese kleine fiese Frage.

Sie war klein, und doch voller Bedeutung.

Für was brauchte dieser Mr. Thompson so viele Kinder?
Was hatte er vor mit Ihnen?

Mit ihr?

Kapitel 7

Und obwohl das die schlimmste Nacht meines Lebens war zauberte er mir ein kleines Lächeln in mein müdes Gesicht. Bernadette stand plötzlich neben mir, auf ihren Armen ein Stapel frischer Kleider.

“Hier hast du frische Unterwäsche, warme Socken, ne Jeans, ein Top und nen warmen Pullover, müsste dich mehr warm halten als dieser Lumpen den du da trägst." Herablassend sah sie auf mein zerrissenes Kleid. Drew warf ihr einen Blick zu der nur so viel wie, halt deinen Mund heißen konnte. Sie grinste ihn schief an und setze sich dann genüsslich auf den einzigen Campingstuhl. "Du kannst in das Zelt dort gehen, es lässt sich mit einem Reisverschluss wieder verschließen. Aber vielleicht sollte Vincent dir deinen Fuß noch verarzten." Drews Stimme war so warm, das mir so vorkam, als ob sie die Kälte vertreiben würde. Sofort blickte Vincent auf, es war nicht schwer zu erkennen, dass er keine sonderliche Lust hatte sich um meinen verletzten Fuß zu kümmern. Doch er leistete keinen Wiederspruch, Vincent stand nur stumm auf und lief in das Zelt hinter dem ich vor wenigen Minuten noch gestanden hatte.

Kurz darauf kam er mit einem Verbandskasten wieder heraus. "Na los komm schon." brummte er mir zu, als Aufforderung ihm zu folgen.

Er verschwand in dem Zelt wo ich mich umziehen sollte, es war auch dasselbe woraus Bernadette plötzlich gekommen war. Hilfesuchend sah ich Drew an und er verstand meinen Blick. Lächelnd hob er mich mit seinen starken Armen hoch und trug mich ins Zelt. Von außen hatte es wesentlich größer gewirkt als es im inneren dann war. Zwei Klappbetten standen darin, für mehr war auch nicht wirklich Platz. Zwei vollgepackte Reiserucksäcke standen in einer der Ecken. Drew ließ mich auf einem der Betten nieder und verschwand dann recht schnell wieder nach draußen. Bedauernd sah ich ihm nach. Er war nett, nicht so wie Vincent.

Mit zusammen gekniffenen Augen betrachtete Vincent meine Wunde. Da es so dunkel war kramte er aus einen der Rucksäcke eine Taschenlampe und leuchtete damit meinen Fuß ab.
"Sieht nicht gut aus…" murmelte er leise vor sich.

Danke daran bist auch du Schuld, schoss er mir wütend durch den Kopf. Hoffentlich hielt er sich danach nicht für eine Art Held und erwartete ewige Dankbarkeit von mir. Mein Blick viel auf das kleine grüne Krokodil an seiner rechten Brust das auf dem dunkel blauen Stoff seines Pullis, den er trug, fest genäht war.

Lacoste.

Eine sehr erfolgreiche französische Kleidungsmarke. Heimweh stieg in mir auf. Auch wenn ich nie Kleider von Lacoste getragen hatte, dazu waren wir von dem wirklichen Leben viel zu sehr abgeschnitten gewesen, um überhaupt modebewusst rum laufen zu können. Es hatte mich nie gestört, die heutige Technik jagte mir Angst ein. Das Leben auf dem Land war friedlich, schwierig aber irgendwie auch gemütlich und einfach.

Wieder stiegen Tränen in meinen Augen. Ob ich eines Tages zurückkehren würde? Glücklich?

Vielleicht sogar mit einer neuen Familie?

Noch immer schien alles so unwirklich, und ich fürchtete mich jetzt schon vor dem Moment in dem mir bewusst wurde was es nun bedeutete allein zu sein, ohne Freunde, ohne Familie.
In dieser großen gefährlichen Welt, voller Feinde und Lügen.

Aber hier war Drew, er war nett. Sehr nett.

Er würde sich um mich sorgen, nun war ich nicht mehr vollkommen allein. Und die anderen boten mir Schutz. Es gab Essen und warme Kleidung. Aber was viel wichtiger war, ich konnte die Hoffnung nach einer freien gerechten Welt hier förmlich riechen. Es sprühte aus jedem einzeln in diesem Lager heraus.

Vielleicht waren sie Freiheitskämpfer?

Und plötzlich stieg in mir die tiefe Sehnsucht auf dazu zu gehören, oh ja, wenn sie kämpfen würden für Gerechtigkeit und Freiheit, dann wollte ich an ihrer Seite stehen und mit kämpfen. Für meine Familie.

Für Lisette.

Bernadette betrat mit einem Wassereimer das Zelt und riss mich aus meinen Gedanken, neugierig warf sie einen Blick auf meine Wunde. "Pah, da habe ich aber schon schlimmeres gesehen." Und mit einem herablassenden Blick war sie auch schon wieder verschwunden.

‚Pah, da habe ich aber schon schlimmeres gesehen!‘, ich auch du doofe Ziege! Und zwar wie ich langsam meine Familie verlor…

Was war das hier? Wettkampf wer das schlimmste erlebt hat?

Wut.

Pure Wut breitete sich in meinem Bauch aus. Ich sollte nicht so denken, sie konnte nichts dafür was Sie getan hatten. Und ich war mir sicher, dass auch Bernadette und die anderen alle von Ihnen schwere Wunden mit sich trugen. Egal ob rein körperlich oder seelisch.

Es gab so gut wie niemanden der so wie wir war und keinen Schaden von Ihnen mit sich tragen musste. Sie hinterließen auf jeder schmutzigen Haut ihr Zeichen, egal ob alt oder jung.
Selbst das kleinste Kind wurde von Ihnen gezeichnet.

Kapitel 6

Der nasse Waldboden unter meinen nackten Füßen war kalt und ich versank bei jedem Schritt einige Zentimeter in der dreckigen Erde. In dieser Nacht war der Mond kaum zu sehen, dunkle Wolken verdeckten ihn, während meine Augen verzweifelt versuchten in dieser schwarzen Nacht mehr als nur die hohen Bäume zu erkennen. Ich fror am ganzen Körper, ständig blieb ich an irgendwelchen Zweigen hängen und zerriss mir mein Kleid.  Ich wusste nicht wie lange ich nun schon durch den verlassenen Wald irrte, wusste nicht wohin meine Füße mich tragen würden aber eines war mir klar, ich durfte nicht stehen bleiben, mich nicht umdrehen und vor allem durften meine Gedanken nicht zurück blicken.

> Wer sich erinnert kommt eines Tages wieder zurück, lauf Mallorie. Dreh dich niemals um, und denk nicht an das was war. Versuche diese Nacht zu vergessen. Du bist meine Hoffnung. Ich lebe durch dich weiter, mach mich stolz. Und nun lauf, lauf so schnell und weit wie deine Füße dich tragen können. <

Lisettes Worte hallten mit jedem schmerzvollen Schritt in meinem Kopf. Meine Lunge brannte wie Feuer und mein Herz schmerzte.

Wie sollte ich das vergessen?

Meine Familie und ich waren aus Frankreich geflohen, es war so furchtbar gewesen. Ich erinnre mich noch genau an die Nacht als Sie uns fanden.

Schmerzen. Alle diese grausamen Schmerzen. Wie könnte ich das alles jemals wieder vergessen?

Das Brandmal an meinem Unterarm das ich seit dieser Nacht nun trug tat höllisch weh. Während ich rannte presste ich meine Hand darauf, manchmal half es und tat für einen kurzen Augenblick nicht mehr so sehr weh. Meine Brüder waren alle tot. Auch meine älteste Schwester Lisette. Wo Sie meine Eltern hingebracht haben weiß ich nicht, aber seit dieser einen Nacht habe ich sie nie wieder gesehen und etwas sagt mir, dass auch meine geliebten Eltern nicht mehr am Leben waren.

Irgendwie hatten meine Brüder es geschafft Sie zu überrumpeln, ganz schnell aus dem Hinterhalt. Wir konnten fliehen, doch zurück blieben unsere Familien und Freunde.

Nun sind sie alle fort.

Meine Geschwister und ich hatten es bis nach England geschafft aber dort hatten Sie uns schon bald wieder eingefangen. Friedliche Jahre lebten wir, abgeschottet von dem Rest der Welt, auf dem französischen Lande.

Versteckt.

Nur damit Sie uns nicht finden würden, hatten uns nie auffällig verhalten aber irgendwie waren Sie dann doch eines Nachts aufgetaucht. Tränen stiegen in meine Augen.

Wie sollte ich diese Nacht jemals vergessen? Diese Schmerzen, diese Schreie.

Eine Weile hatten wir in England gelebt, aber nicht für sehr lange Zeit. Ich schätze es waren drei Monate bis Sie uns auf die Spur gekommen waren.

Und heute, heute Nacht hatten Sie uns endgültig gefunden. Lisettes Stimme verschwand nicht aus meinen Gedanken, ich wollte aber auch nicht dass sie ging. Sehnlichst wünschte ich mir noch ewig den warmen Klang ihrer Stimme lauschen zu können.

Meine drei Brüder hatten gekämpft während Lisette und ich in den Wald flohen. Aber Sie waren klug und schnell. Lisette legte eine falsche Fährte und opferte sich für mein Leben, sowie meine Brüder. Nun war ich die Einzige die noch lebte. Das musste etwas wert sein. Ich verlor alle Menschen die ich liebte, sie gaben ihr Leben um meines zu retten. Nun durfte ich nicht versagen, ich würde ihren Tod einen Sinn geben, einen großartigen.

Plötzlich konnte ich helle Lichter sehen, wie erstarrt blieb ich stehen. Sie hatten mich gefunden.

Das durfte nicht wahr sein. Schnell sah ich in den tiefen Wald. Sollte ich einfach in eine andere Richtung weiter rennen, meine Füße bluteten und jetzt da ich stehen geblieben war konnte ich die Schmerzen nur noch mehr spüren als zuvor. Schweiß lief überall an meinem kalten Körper hinunter, schwer atmend hielt ich mir meine Hand an die Seite die fruchtbar schmerzte.
Doch die Lichter schienen nicht näher zu kommen, es war vielmehr so als ob Sie ein Lager aufgeschlagen hätten. Vielleicht waren Sie es aber auch gar nicht.

Manche nennen es gefährliche Neugier, andere würden es viel mehr als wahren Mut bezeichnen. Ich glaube es ist von beiden ein bisschen etwas. Langsam schlich ich mich näher heran. Das Lager war weit genug von mir entfernt, ich hätte einfach weg rennen können. In Sicherheit.

Aber ich konnte nicht, zuerst musste ich wissen wer es war, irgendwie glaubte ich nicht wirklich das Sie es waren, denn wenn würden Sie nach mir suchen und kein Lager aufschlagen.
Zudem war es nicht Ihre Art sich im Wald aufzuhalten, dort lauerten zu viele Gefahren.

Gefahren die stärker waren als Sie, Gefahren die Sie versuchten zu vernichten aber im Wald waren Sie zu schwach dafür. Schutzlos.

Sachte machte ich einen kleinen Schritt nachdem anderen, meine Zehen waren eiskalt. Ich lief langsam und leise, es dauert ewig bis ich dem Lager näher gekommen war. Stimmengewirr erreichte meine kleinen Ohren, und ich konnte sogar fröhlichen Gesang hören.

Nein das waren Sie ganz bestimmt nicht.

Sofort verschwand die Angst in mir, wenn es Sie nicht waren konnten es wohl nur solche wie ich sein. Mein Herz schlug wild gegen meinen Brustkorb und ich hatte das Gefühl mein Herzklopfen hallte durch den dunklen Wald.

Das fremde Lager besaß keine Wachen, seltsam. Fürchteten sie sich etwa nicht vor Ihnen?

Ein leckerer Duft von Essen stieg mir in die Nase, sofort gab mein Magen ein hungriges brummen von sich. Schnell legte ich die linke Hand auf meinen Bauch, so als ob ich ihm damit den Mund zu halten wollte.

"Hey Willow wirf mir mal das Brot rüber! Nicht das, das andere!" die warme männliche Stimme klang genervt aber irgendwie vertraut.

Vertraut?

Meine Stirn legte sich in kleine Falten und langsam schlich ICH an dem Zeltrücken entlang. Vier große Zelte standen in einem Kreis zusammen, in der Mitte brannte ein großes Lagerfeuer. Wasser lief in meinem Mund zusammen als ich das saftige Spanferkel über deM Feuer brutzeln sah. Es duftete so lecker, wann hatte ich das letzte Mal frisches Fleisch gegessen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Vorsichtig blickte ich hinter dem Zelt hervor und beobachtete das Geschehen. Ein großer breit gebauter Mann stand mürrisch auf und griff in einen Korb der einige Meter hinter ihm stand. Er fischte ein Brot heraus und warf es in meine Richtung. Ich konnte nicht sehen wer es auffing, aber die warme Stimme antwortete:
"Danke. Wie lange braucht das Spanferkel noch?"

"Drew ich werde nicht ewig hier den Koch spielen, ich habe bessere Aufgaben zu erledigen. Entweder du schaffst uns mal ne brauchbare Köchin an oder lernst selbst jagen und braten."

Die warme Stimme lachte amüsiert, "Ich bitte dich Will, du bist der ältere von uns. Es ist schließlich deine Aufgabe dich um mich zu kümmern."

"Pah das hättest du gerne."

Willow hatte dunkle fast schwarze Locken, und einen buschigen Bart. Er kratze sich daran und ließ sich wieder auf einen Baumpfahl vor dem Feuer nieder. Noch eine Weile saßen sie stumm am Feuer und aßen ihr Brot, der Hunger in meinem Magen wuchs und es kostete mich viel Kraft hinter dem Zelt stehen zu bleiben. Immer wieder überlegte ich mir wie ich wohl meine Anwesenheit offenbaren könnte ohne mir Ärger einzubrocken.

Doch plötzlich legte sich eine große Hand auf meinen Mund, zog mich an sich und hielt mir ein scharfes Messer an die Schläfe. Mein Herze raste wilder als je zuvor. Meine Augen waren vor Schreck weit aufgerissen und Tränen liefen mir vor lauter Angst über die Wangen.

Mit schnellen Schritten zog mich der Unbekannte von meinem Versteck weg. Ich stolperte und riss mir meinen rechten Fuß an einem scharfen Stein auf. Laut stöhnte ich vor Schmerz. Doch die Unbekannte Gestalt schien das nicht zu stören. Grob zog sie mich um zwei Zelte herum und lief dann zielsicher ins Lager. Jetzt konnte ich sehen zu wem die warme Stimme gehörte.
Es war ein Junge, musste noch jünger als zwanzig sein. Seine Augen weiteten sich und wirkten verwirrt, aber freundlich. Der große kräftige Mann, der Willow zu heißen schien funkelte mich mit seinen dunklen Augen wütend an. "Wer ist sie?" Seine Stimme donnert auf mich herab. Worauf ich nur zu schluchzen begann. Mein ganzer Körper schmerzte, mein Fuß blutete und mir war eiskalt. Ich wollte nur in den sicheren Armen meiner Schwester Lisette liegen, in unserem warmen Wohnzimmer in Frankreich. Hier gehörte ich nicht hin, England war nicht mein zuhause und mein Englisch war ziemlich stockend. Wie sollte ich ihnen nur erklären wer ich war?

"Ihr Dummköpfe, sie hat euch belauscht, hinter unserem Vorratszelt." Die zornige Stimme meines Entführers drang laut in mein Ohr und ich konnte den heißen Atem auf meiner Wange spüren. Plötzlich trat ein Mädchen aus einem der Zelte. Sie hatte lange blonde Harre die ihr bis zum Hintern reichten. Ihr Gesicht wirkte erschöpft, doch voller Zorn starrte sie mich an. Ihre Arme waren für ein Mädchen ihres Alters sehr muskulös, auch ihre Gesichtszüge waren ziemlich hart statt weich und weiblich. Sie trug seltsame Kleidung. Fast wie eine Rüstung.

"Vincent, das ist ein junges verirrtes Mädchen halte sie doch nicht so brutal fest."

Schnell warf ich dem Jungen einen dankbaren Blick zu. Worauf er mir ein kleines Lächeln schenkte. Der Griff löste sich leicht und das scharfe Messer verschwand von meinem Hals.

“Sie könnte auch von Ihnen eine Spionin sein. Wer würde so ein unschuldiges Mädchen schon groß verdächtigen? Drew du bist einfach zu naiv und schwach!" Der heiße Atmen streichelte noch immer sanft meine schmutzigen Wangen. Doch die Stimme blieb hart.

Langsam lief das Mädchen auf mich zu. Fast schon bedrohlich. “Wie ist dein Name?" nun stand sie dicht vor mir. Ihre Augen hatten die Farbe eines wunderschönen grün, trotzdem funkelten sie voller Zorn. Mir fiel auf das ihre Stimme der meines Angreifers ähnelte. Vermutlich war sie seine Schwester.

"Ich bin Marllorie." stammelte ich in einem schlechten Englisch.

"Eine Französin also?" Ihre Stimme klang spöttisch, und ich spürte wie Wut in mir aufstieg. Ich liebte mein Heimatland, sie durfte es nicht verspotten. "Was treibt dich nach England?"

Ich überlegte ob ich ihre Frage wirklich richtig verstanden hatte und was ich wohl am besten drauf antworten konnte.

"Ich, ich bin… geflohen. Sie haben uns  gefunden und meine Familie getötet. Mein ganzes Dorf. Heute Nacht fanden Sie mich und meine Geschwister." Ihr Blick veränderte sich schlagartig.

Schnell lief sie zu Willow. "Sie sind hier? In unserer Nähe?"

Willow ging nicht auf ihre Frage ein. "Vincent lass sie los." befahl er meinem Angreifer und sofort schubsten mich seine Hände grob von sich und ich stürzte zu Boden. Endlich konnte ich sein Gesicht sehen. Er hatte blondes kurz verwuscheltes Haar, seine Augen glänzend genauso grün wie die seiner Schwester. Feindselig funkelten sie mich an. Er war etwas kleiner als Willow aber größer als dieser Drew. Sein Gesicht war kantig und hatte doch etwas zartes, seine Lippen waren dünn und er besaß ein kleines Grüppchen auf seinem Kinn. Er wirkte wie zwei Seelen in einem Körper, eine Gute und eine Böse.

"Sieh nach ob sie das Mal hat." befahl Willow ihm wieder. Er bückte sich und zog den Ärmel meines Kleides an meinem linken Arm hoch. Als seine Augen es sich genau ansahen begann es wieder schmerzvoll zu brennen.

"Sie sagt die Wahrheit." gab er mürrisch, sichtlich enttäuscht von sich. Dann lief er über mich rüber und lies sich am Lagerfeuer nieder. "Bernadette bring ihr etwas Warmes zum Anziehen sie ist ja kurz vorm erfrieren." trug Vincent ihr, noch immer mürrisch, auf. Sofort huschte sie in das Zelt aus dem sie gekommen war.

Drew war inzwischen zu mir gekommen und half mir vorsichtig wieder auf die Beine. Als sein Blick auf meinen verwundeten Fuß fiel nahm er mich sachte auf den Arm und trug mich zu dem warmen Feuer. Dort angekommen ließ er mich sachte auf einen der Baumpfähle nieder. Seine Bewegungen waren geschmeidig und liebevoll.

"Keine Sorge-" flüsterte er mir leise ins Ohr, "so sind sie noch gut gelaunt." Grinsend zwinkerte er mir aufmunternd zu. Und obwohl das die schlimmste Nacht meines Lebens war zauberte er mir ein kleines Lächeln in mein müdes Gesicht.

Kapitel 8

Dunkle Tränen fallen vom Himmel
Schwarze Tränen vorm Gesicht
Nichts als Geschichten aus der Ferne
Viel davon gehört, bei uns gibt es die nicht
Und plötzlich wird man Teil von einer
Einer Szene, die sich keiner wünscht
Was soll ich tun, was soll ich machen?
Jeder schaut nur zu, doch keiner hilft

Hörst du die Schreie, kannst du die Schläge denn nicht spüren?
Siehst du die Opfer?
Du kannst die Pflicht nicht ignorieren
Siehst du die Täter, geh hin, verlier nicht dein Gesicht
Der Staat vergibt, dein Gewissen verzeiht dir nicht

Du stehst geschockt, kannst kaum noch atmen
Die Sraße färbt sich blutig rot
Nun verstummen all die Schreie
Schützte hier ein Engel, kam hier der Tod
Mut zum Handeln, Mut zum Helfen
Nicht nur Reden, du bist dran
Zeig Flagge, zeig jetzt, dass du da bist
Steh deine Frau, steh deinen Mann
Jeder schaut nur auf sich selber
Auf die anderen schauen wir nicht
Und ein Rechtsstaat ist kein Rechtsstaat
Der die Opfer so vergisst
Große Sünde, kleine Buße
Andere leiden ein Leben lang
Und ich schaue nicht länger zu
Und mach den Anfang

Hörst du die Schreie, kannst du die Schläge denn nicht spüren?
Siehst du die Opfer?
Du kannst die Pflicht nicht ignorieren
Siehst du die Täter, geh hin, verlier nicht dein Gesicht
Der Staat vergibt, dein Gewissen verzeiht dir nicht

~FreiWild~


Es gab so gut wie niemanden mehr, der so wie wir war, und keinen Schaden von Ihnen mit sich tragen musste. Sie hinterließen auf jeder schmutzigen Haut ihr Zeichen, egal ob alt oder jung. Selbst das kleinste Kind wurde von Ihnen gezeichnet.

"Was für eine Gabe besitzt du?" es schien mir so als ob ihm diese Frage die ganze Zeit schon auf der Zunge gebrannt hatte, doch er bemühte sich so beiläufig wie möglich zu klingen als er sie stellte. "Soll ichs dir zeigen?" Seine Augen funkelten neugierig, und fast schon beeindruckt blickte er mich an. Vincent hatte gerade meinen Verband befestigt und trat nun einen Schritt zurück. "Ja."

Ich schloss meine Augen, meine Gedanken mussten klar und sortiert sein. Nur Emotionen die mir dabei halfen durfte ich mit einfließen lassen. Das war eigentlich schon der ganze Trick. Konzentrierte Falten bildeten sich auf meiner Stirn und für einen kurzen Augenblick erinnerte ich mich daran wie Lisette mir immer gesagt hatte dies zu verhindern.  > Sonst siehst du eines Tages ganz schrumpelig aus. <

Nun löschte ich alle Erinnerungen und Gedanken, die mich nur schwächer machen würden. Klar und stark musste ich sein. Und dann griff ich Vincent mit meiner Gabe an. Es ging so schnell das er keine Kraft hatte sich zu wehren oder auch nur einen Hauch Chance gehabt hätte sich rechtzeitig in Verteidigungsposition zu bringen. Er stürzte auf den weichen Boden, und als ob sich eine unsichtbare Würgeschlange um seinen Hals schlingen würde schnappte er verzweifelt nach Luft. Sein Körper rollte wild auf dem Boden hin und her, die vollkommen schutzlosen Arme schlugen um sich, doch erfassten nichts.

Hilflos. Wie sollte er da nur je wieder raus kommen? Sein Kopf wurde rot, und in wenigen Sekunden wäre er tot. Einfach erstickt.

Niemand würde es draußen mit bekommen, es würde sehr schnell und leise von dannen gehen, Vincents Hals war so zugeschnürt das nicht ein einziger Ton aus seiner Kehle dringen konnte.

Ich rief buntes Leben in mich zurück und die unsichtbare Schlange lies Vincent wieder frei. Gierig rang er nach Luft. Seine Augen starrten verstört in meine, erst jetzt sah Vincent mich das erste Mal mit Respekt und Ehrfurcht an. Tja, wer war nun das kleine hilflose Mädchen?

"Und was hast du für eine Gabe?" ich lächelte Vincent schwach an, es war eine Art Entschuldigung für das was ich ihm gerade angetan hatte. "Habe keine." antwortete er mir und wirkte irgendwie beleidigt. Gerade als er den Mund öffnete um wieder etwas zusagen kam ich ihm flink zuvor, "Wieso das nicht?" meine Stimme klang etwas gelangweilt, mehr als ich wollte. Nicht, das Vincent in meinen Augen nun weniger Wert war nur weil er keine Gabe besaß, aber irgendwie wirkte er für mich nun sehr schwach. Seine Augen blickten mich kühl an.
"Weil ich kein Mensch bin."

Kein Mensch?

Mein Herz fing schneller zu schlagen an, was war er dann? Waren sie vielleicht doch Feinde für mich? Schließlich konnte ich nicht wissen, ob auch sie Talente besaßen. Nein, Drew war sicherlich kein Feind.

Als ihm mein verwirrter Blick auffiel erklärte er mir mit gereizter Stimme:
"Ich bin ein Bändiger."

Meine Augen wurden größer, und auch mein Mund stand erstaunt offen. Ein Bändiger!? Als Kinder hatten meine Brüder und ich immer gespielt, dass wir welche wären. Die meiste Zeit rannten wir über Felder und durch Wälder, kämpften und vergaßen dabei allem um uns herum. Meine Mutter hatte mir und meinen Geschwister immer die fast schon vergessenen Legenden der Bändiger erzählt. Bändiger, die Wächter der Menschen. Unsere Beschützer. Was war nur aus Ihnen geworden? Von einem auf den nächsten Tag waren sie einfach verschwunden. Doch laut einer der wohl berühmtesten Legenden, waren die Bändiger von ihren eigenen Freunden, den Menschen, verraten worden. Ein Krieg war aus gebrochen. Die Bändiger wurden von den Menschen einfach hinterrücks umgerannt.

Hinterhältig.

Kein Bändiger wäre je auf die Idee gekommen das die Menschen Sie in Wirklichkeit hassten, und viel mehr als Gefahr statt als Schutz ansahen.

"Kannst dus mir zeigen?" meine Stimme hauchten die Worte, voller Bewunderung. Vincent wirkte etwas überrascht von meiner plötzlichen Begeisterung für ihn. In dem fahlen Licht der Taschenlampe leuchteten seine samtgrünen Augen stolz und sahen in meine. Stumm nickte er, doch mit kriegerischer Haltung öffnete er das Stoffsäckchen das an seinem Gürtelbund hing, erst jetzt fiel es mir wirklich auf. Mit einer sehr geschmeidigen und eleganten Art, die mir mehr als nur fremd war, lies er die Erde die sich darin befand hinaus gleiten. Mit, in meinen Augen, komischen Bewegungen ließen seine rauen Hände die Erde durch die Luft schweben.

Zeitlos.

Als ob die Welt sich nicht weiter drehen würde, wie in einem Traum der so unwirklich und echt zugleich war das man am liebsten niemals aufwachen wollte.

Es war das erste Mal das ich einen Bändiger sah, oder überhaupt einen der mir seine Begabung auch noch so faszinierenden vorstellte, und doch schien es nicht absurd oder unmöglich.
Es war fast so als ob es das natürlichste auf der Welt wäre. Die Erde strich so nahe an meinem Gesicht vorbei, das sie mich sanft berührte und eine Spur Dreck auf meinen sowieso schon ziemlich schmutzigen Wangen hinterließ. Vincent schien ganz in seinem, wortwörtlich, Element zu sein.

Er wirkte so friedlich, und Eins mit seinem Geiste.

Stark.

Wie hatte ich nur einen Augenblick glauben können dieser junge Mann wäre verletzlich oder sogar auf irgendeine Weise schwach? Mit einer flotten Bewegung, die er bestimmt schon hunderte von Malen gemachte hatte, ließ er die ganze Erde wieder in dem Stoffsäckchen verschwinden und schnürte es fest zu. Ein Lächeln huschte über mein müdes Gesicht, ich wünschte Vincent hätte es nicht gesehen, doch dieser Moment war so tröstlich und atemberaubend für mich das ich meinen ganzen Stolz vergaß.

"Das ist unglaublich…" noch immer starrten meine Augen ihn fasziniert an.                       
"Nicht so sehr, wie deine Gabe." aus seiner Stimme konnte ich den Neid leicht heraus hören, aber ich bewunderte ihn für seine Ehrlichkeit. Nicht jeder so stolze Mensch würde das sagen.
"Was ist mit den anderen? Sind so wie ich oder auch Bändiger wie du?"

Vincent war schon dabei das Zelt zu verlassen, doch er drehte sich noch einmal um: "Wasch dich lieber und ziehe dich um, dann solltest du schlafen gehen," er deutete auf das Bett auf dem ich schon saß, "eigentlich ist das mein Schlafplatz aber heute über lasse ich ihn dir, in dem anderen schläft Bernadette." und so wie er es sagte, war ich mir nicht sicher ob es vielleicht sogar eine Art Vorwarnung war.

Bevor ich noch eine weitere Frage stellen konnte war er in der kalten Nacht verschwunden. Leises Stimmengewirr der anderen drang zu mir ins Zelt, doch leider konnte ich keines ihrer Worte verstehen.

Mit meiner Hand strich ich sanft über den nicht mehr ganz so weichen Stoff. Vor langer Zeit hatte das Kleid ein wunderschönes gelb gehabt, fast so gelb wie die Sonne. Doch nun wirkte es mehr als nur ausgebleicht, und mit all dem Dreck sah es nun viel mehr wie ein trübes braun, satt saftiges gelb aus. Bernadette hatte Recht gehabt, mein Lieblings Kleid war nur noch irgendein hässlicher Lumpen. Heute Morgen hatte Lisette es extra für mich im kalten Bach so gut wie es ging gewaschen.

> An deinem Geburtstag sollst du doch wie eine Prinzessin gekleidet sein. <
Ihre Worte waren noch so frisch. Kaum zu glauben das sie nun für immer von dieser Welt verschwunden waren. Happy Birthday Mallorie, dachte ich traurig. Was für ein Tag? Statt Geschenke und leckeren Kuchen blieb mein Magen leer und ich verlor meine Geschwister. Ich wünschte Tränen würden über meine kalten Wangen laufen, doch sie blieben verborgen. Vielleicht war ich zu müde um zu weinen, ich wusste es nicht. Nichts hätte ich mir mehr gewünscht als mir all den Schmerz von der Seele zu heulen aber mein Körper sträubte sich dagegen. Es war nicht meine Art zu weinen, Schwäche zu zeigen. Zwar wusste ich, dass es hier nicht um Stärke ging aber anscheinend war das meinen Tränen noch nicht so klar.  

Wieder fürchtete ich den Moment an dem mir bewusst wurde was passiert war, auf dem Moment an dem sich meine Tränen nicht mehr versteckten sondern ihrer Bestimmung folgen würden. Und obwohl ich mich innerlich davor fürchtete, sehnte ich mir gleichzeitig diesen Moment so sehr herbei. Es sollte ein Ende haben, diese kalte Leere in mir. Tränen sollten sie füllen damit der Schmerz endlich ein wenig nachlassen konnte.

Kapitel 9

Ich wünsch mir ich würde wissen,
wie man festhält was nicht greifbar ist.
Den Zauber eines Blicks,
Die Wahrheit eines Traums.
Das Wunder des Verstehns.
Denn würd ich wissen,
Wie man Glück in eine Flasche füllt,
Müsst ich sie nur öffnen und schon
Wäre jeder Moment wieder wahr.
Mir war ja von Anfang klar, dass es nicht dauern kann,
Und doch gibt es nichts zu bereuen.
Jedes Bild, jedes Wort lebt in mir fort.
Ich wünsch mir ich würde wissen,
Wie Erinnerung lebendig bleibt.
Wie man den Augenblick,
In dem die Sehnsucht starb,
Vor dem Vergehn bewahrt.
Und dass ich dich verlier,
Fiele mir nicht ganz so schwer,
Bliebe mir die Zeit in einer Flasche,
Die Zeit die ich hatte mit dir.

~Zeit in einer Flasche~

 

Schreie… >Mallorie! Mallorie! Hier! Hier bin ich! <
Tiefer Schmerz durch fährt meinem linken Arm.
Kann nicht rennen.
Als ob ich in einem See zu laufen versuchen würde.
Zeitlupe.
Komme nicht schneller voran. Angst erfüllte Augen starren mich an.
Hilflos.
Bin zu langsam. Komme nicht rechtzeitig um irgendwie noch helfen zu können.
Sie sind überall, stärker als wir. Sind zu viele.
Schwach, doch Ihre Technik lässt sie machtvoll erscheinen.
Weg. Alle freundlichen Gesichter wurden mit Angst beschmutzt. Fremde Augen beobachten mich, folgen mir.
Feinde. Schneller als ich.
Dunkle Wolken am Himmel, bedrohlich. Himmelsfeinde.
Schutzlos. Renne, renne, renne, und doch komme ich nicht einen Schritt vorwärts.
Möchte zu ihr, sie retten. Aus den bösen Armen befreien die sie gefangen halten.
Der Schmerz wächst.
Plötzlich ist alles stumm. Allein.
Orangefarbenes Licht glüht in der Dunkelheit.
Kommt langsam näher, wird immer größer.
Höre meine eigene Stimme panisch schreien.
Eingeengt. Wie ein Tier in die Ecke getrieben.
Langsam, ganz langsam kommt es näher. Das hässliche, grausame Licht. Es ist kein Freund, ein Feind.
Erhellt nicht einmal diese Dunkelheit.
Näher, immer näher. Bald ist es bei mir.
Mein Herz scheint zu explodieren. Versucht aus diesem Körper zu fliehen. Dem Körper an dem es gebunden ist, auf ewig.
Das orangene Licht berührt sanft meine Haut,
höllisches brennen.
Drückt sich langsam tiefer ins Fleisch.
Laute Schreie.
Werden nicht erhört. Finden keine Rettung

Plötzlich durchfährt mich ein kalter Stich an meiner rechten Wange. Er fühlt sich viel näher an als all die anderen Schmerzen die mich quälen, und auf einmal verschwinden sie langsam.

Ein Traum. Nur ein Traum, beruhigt meine innerliche Stimme mich. Erschreckt setze ich mich auf, samtgrüne Augen starren mich durchdringlich, beinahe besorgt, an. Bernadette.

Erst jetzt merke ich, dass meine Hand ihre fest umkrallt, kalter Schweiß trieft an meinem heißen Körper hinab. Meine Haut ist klatschnass als sei ich gerade Stunden lang durch den Regen gerannt. Schwer atmend blicke ich verwirrt durch das kleine Zelt, wie ein gehetztes Reh das dem Wolf gerade noch so entkommen konnte.

“Du solltest mit jemand darüber reden. Das hilft, vertrau mir.“ Blonde Strähnen hingen ihr zerzaust über die Augen, ich hatte sie ungebeten aus dem Schlaf gerissen. Sie trug eine Jogging Hose und einen einfachen Pullover als Schlafanzug. Mal wieder wurde mir klar das Vincent und Bernadette aus gutem Hause kommen mussten, auch wenn ihre Benehmen nicht das edelste war.

Ich nickte stumm, denn auch wenn mir alles andere als wohl bei dem Gedanken, jemand eigentlich fremdes etwas über diese Nacht zu erzählen, war wusste ich das kein Weg daran vorbei führen würde. Es schien nicht so, als ob Bernadette auf eine Erklärung von mir für diesen Albtraum warten würde, nein.  Nicht mit ihr sollte ich sprechen. Sicherlich hatte sie mit jemand nicht sich selbst, sondern Drew gemeint.

“Bernadette ist alles in Ordnung bei euch?“
Drews warme Stimme drang zu uns ins stickige Zelt.
“Nur ein schlechter Traum.“ erklärte Bernadette ihm wortkarg.

“Drew ist ein guter Zuhörer.“ Auch wenn es ein guter Tipp war merkte ich das Bernadette mich im Grunde nur los werden wollte, zurück in ihr warmes Bett kriechen und einfach wieder in der Welt der Träumer versinken wollte.

Wieder nickte ich nur stumm. Vermutlich wartete Bernadette auf irgendetwas, denn noch immer saß sie am Rande meines Klappbettes. “Ich werde dann mal zu ihm gehen.“ brachte ich dann doch heraus, sie nickte erleichtert und schlich lautlos wie eine Katze zurück zu ihrem sicheren Bett.

Der Zeltboden war eklig kalt als meine nackten Füße ihn sachte berührten. Die neuen Kleider die mir Bernadette gegeben hatten waren an zwei, drei Stellen zu groß, denn ich war um einiges schmaler als sie. Doch sie hielten mich überraschender Weise sehr gut warm in dieser kalten Nacht. Der Stoff war weich wie die Federn eines Huhns, als sei ich eine Raupe und der Pullover ein Kokou, genauso umhüllte er meinen kalten Körper liebevoll. Nur selten hatte ich mich so geborgen in meinen Kleidern gefühlt, ein fremdartiges Gefühl. Ich war irgendwo in einem ungeschützten Wald, auf der Flucht, ohne Familie. Vollkommen allein mit Fremden. Und doch spürte ich diese ungewohnte Geborgenheit. Vielleicht lag es an dem Wissen dass die Fremden Bändiger waren, mit ihnen würde mir nichts passieren, davon war ich mehr als nur überzeugt.

Geräuschvoll öffnete ich den Reisverschluss des Zeltes und schlüpfte in die eisige Spätherbstnacht. Das Lagerfeuer glühte nur noch knisternd vor sich hin und aus einem der Zelte kam ein gleichmäßiges Schnarchen. Ich war mir sicher, dass es zu Willow gehörte.

Es ähnelte einem schlafenden Bären im Winterschlaf. Noch immer schmerzte mein rechter Fuß fürchterlich also musste ich ihn beim Gehen schonen. Der Waldboden war noch immer feucht von dem Nachmittag regen. Drew saß auf dem Campingstuhl und kaute an einem Stück Brot herum, als er mich heran humpeln sah verzog sich sein Gesicht zu einer fragenden Grimasse.

“Du solltest schlafen Mallorie, der Tag morgen wird anstrengend.“

Stumm schüttelte ich den Kopf, allein der Gedanke  einem eigentlich vollkommen Fremden meine Leidensgeschichte zu erzählen ließ meine Worte im Hals stecken. Gentlemenhaft stand er auf und mit einer charmanten Handbewegung bot er mir an mich auf den Campingstuhl zu setzen. Dankbar nahm ich sein Angebot an.  Ich wusste nicht an was es lag aber irgendetwas an ihm zog mich in seinen Bann, gab mir das Gefühl ihm vollkommen vertrauen zu können. Noch immer konnte mir mein innerer Geist nicht sagen ob das eher Gefährlich oder sogar Gut für mich war. Aber was blieb mir anderes übrig?

Allein würde ich nicht lange überleben Sie waren viel zu stark, doch mit Drew und den anderen hatte ich gute Chancen lebend aus diesem Wald wieder heraus zu kommen ohne gleich abgeschossen zu werden. Zumindest hoffe ich das innig.

“Bernadette meinte er wäre gut über das Vergangene mit dir zu reden.“ Meine Stimme war schwach und heißer. In Drews Augen konnte ich erkennen, dass er meine Schmerzen sah.
“Ach hat sie das?“ er grinste schief. “Es ist so ganz und gar nicht ihre Art anderen Tipps zu geben.“ wieder zwinkerte er mir aufmunternd zu, doch diesmal half es nicht. Mein Bauch bebte und meine Lippen zitterten, ohne Vorwarnung liefen die Tränen nur so über meine Wangen.

Endlich.

Nun war der Moment gekommen an dem mir all das Geschehene bewusst wurde.

Ich presste mir meine Hand auf den Mund um mein lautes Schluchzen zu unterdrücken und nicht die anderen auch noch zu wecken. Eine ganze Weile verging bis ich mich langsam wieder beruhigt hatte und die Tränen nun nur noch leise und friedlich ihren Bahnen über meine kalten Wangen zogen. Drew beobachtete mich die ganze Zeit über aufmerksam.

“Ich hätte nie gedacht das mal zusagen aber Bernadette hat Recht. Wenn du darüber sprichst wird es nicht nur Wirklichkeit, ja ich weiß der Schmerz tut schrecklich weh, aber erst dann können deine Wunden anfangen zu heilen.“

Ich nickte.

Was sollte ich groß sagen außer das ich wusste, dass seine Worte stimmten. Ich holte tief Luft um einen klaren Verstand zubekommen und um nicht gleich wieder los heulen zu müssen.
Zuerst überlegte ich eine Weile wo ich anfangen sollte aber sehr schnell wurde mir bewusst, dass ich ihm einfach alles erzählen musste, egal wie lange es dauern würde. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, nun war es soweit, es gab keinen Weg drum herum, ich musste ihn gehen selbst wenn es mich innerlich zerreißen würde.

Kapitel 10

Zuerst überlegte ich eine Weile wo ich anfangen sollte, aber sehr schnell wurde mir bewusst, dass ich ihm einfach alles erzählen musste, egal wie lange es dauern würde. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, nun war es soweit, es gab keinen Weg drum herum, ich musste ihn gehen selbst wenn es mich innerlich zerreißen würde.

Alles in mir erwachte, jede kleinste Erinnerung. Es war ein warmer Sommernachmittag gewesen, die Sonne verließ gerade den Tag und wachte, weit weg auf einem anderen Fleck dieser Erde, wieder auf. Ich erinnere mich noch genau daran wie schwül es gewesen war, überall flogen lästige kleine Fliegen um meinen Kopf und stachen hin und wieder zu. Lisette war mit einem selbst geflochten Birkenkorb bewaffnet und sammelte essbare Beeren, Kräuter und Gemüse. Wir waren an diesem spätem Nachmittag noch beisammen, meistens wenn ich auf die Spur von Wild gekommen war trennten sich unsere Wege, doch heute blieben wir noch eine ganze Weile zusammen auf der Suche nach Essbarem. Meine Brüder waren ein paar Meilen weiter nördlich im Wald unterwegs, dort waren mehr Rehe und Hirsche als in dem Waldgebiet das Lisette und ich normalerweise durch streiften. Ich war eine geborene Jägerin.

Leise, Schnell, Aufmerksam.

All diese Eigenschaften hatte ich von meinem Vater geerbt, sowie mein ältester Bruder Nathan. Von ihm hatte ich auch das jagen gelernt. Wie man Spuren liest, Fallen stellt und wo sich die Tiere am liebsten aufhalten. Aber meistens waren es nur Eichhörnchen, Hasen, Vögel, Füchse und andere kleine Waldtiere die ich erlegte. Die größeren Tiere überließ ich lieber meinen Brüdern, obwohl ich einmal in einem kalten Winter einen brachtvollen Hirsch erlegte hatte. Das war vielleicht ein Fest gewesen, das ganze Dorf feierte wegen dieses wundervollen Fangs und stolz hatte Nathan mich den ganzen Abend über an seiner Seite gehalten. Dass dieser Treffer viel mehr Zufall als richtiges Können war habe ich bis heute für mich behalten, sollten sie doch glauben was sie hören wollten.

Ich schoss eigentlich immer mit Pfeil und Bogen statt mit einem vernünftigen Gewehr. Nathan hatte im Alter von fünfzehn Jahren zusammen mit unserem Papa einen brauchbaren Pfeil und Bogen gebaut, er war aus gutem Holz, das wir aus dem Wald hatten, aus Horn und echten Tiersehnen. Doch nachdem wir über die Zeit richtige Waffen gekauft hatten blieb er in der Ecke liegen. Anfangs spielte ich mit dem Bogen immer heimlich irgendwo im Wald, doch nachdem Nathan mich damit erwischte, konnte ich ihn irgendwie davon überzeugen mir das jagen bei zubringen. Da ich im Gegensatz zu Lisette nicht sonderlich talentiert darin war Kleider zu flicken oder nähen, noch weniger giftige Beeren von essbaren zu unterscheiden oder Essen lecker zu würzen sahen auch meine Eltern ein das ich für die Jagd brauchbarer war als zuhause in der Stube. Manchmal wenn Nathan zuhause blieb durfte ich sein Gewehr benutzen, doch ich musste ehrlich zugeben, dass ich inzwischen mit meinem Bogen deutlich mehr Erfolg hatte.

Meine anderen beiden Brüder Raphaél und Clément konnten mit dem Bogen überhaupt nichts groß anfangen also hatte jeder meine Brüder ein gutes Gewehr und mir blieb mein heißgeliebter Bogen.

"Hat Malo eigentlich nochmal was wegen der Sache mit dem Kuss zu dir gesagt?" Lisette hatte vertieft einen Strauch Beeren betrachtet und ihn sofort leer gepflückt als sie mir diese peinliche Frage stellte aber das war als große Schwester nun mal ihre Aufgabe.

Bei der Erinnerung an Malo huschte fast ein trauriges Lächeln über mein Gesicht. Ich blickte in Drews Augen und für einen Augenblickte erhaschte ich einen Blick hinter seine fröhliche Fassade.

Und was ich sah erschrak mich beinahe.

Purer Schmerz, Traurigkeit, große Verzweiflung und Sehnsucht.

Mir wurde wieder bewusst das ich nicht die einzige war die Verluste gemacht hatte, wenn ich Drew über das Geschehene erzählte musste ich acht darauf nehmen was ich sagte, auch ihm ging es schlecht. Vielleicht konnte ich ihm ein wenig Trost schenken.

“Wir waren jagen gewesen, meine Geschwister und ich. Meine Brüder waren nur wenige Meilen von meiner Schwester und mir entfernt im nördlichen Teil des Waldes. Das war noch in Frankreich.“ fügte ich schnell hinzu. “Nun es war sehr heiß das wir uns in den kühlen Schatten der Bäume aufgehalten hatten. Aber dann waren wir doch weiter nach oben gewandert, von dort aus hat man über den ganzen Wald eine super Aussicht, man kann auch unserer Dorf sehen und alles was den Horizont noch nicht erreicht hat. Für gefährliche Zeiten haben wir dort einen festen Wachposten. Lisette und ich sind hinauf geklettert um eine kleine Pause einzulegen.“

“Das können wir nicht machen Lisette, die Jungs verlassen sich auf uns!“ kichernd folgte ich meiner Schwester in Richtung Aussichtspunkt. “Ach ja ist klar Mallorie, als ob dich je interessiert hätte was die Jungs von uns erwarten. Außerdem haben wir schon genug gesammelt komm schon, ich will alles wissen! Also nochmal, Malo ist dir wirklich in den Wald gefolgt?“

Die Erinnerung kam so schnell in mein Gedächtnis zurück geflogen das ich nicht glauben konnte das es schon einige Monate zurück lag.

Lisette war mir so nah, noch immer.

“Ich weiß nicht mehr wie lange wir dort waren aber auf einmal verdunkelte sich der Himmel am Horizont. Es war als ob ein Schwarm riesiger Vögel am Himmel fliegen würde, die Sonne verschwand hinter Ihnen. Aber es waren keine Vögel gewesen, sondern Sie.“ Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und Drews Augen hingen neugierig an meinen Lippen. “Ich habe solche Flugzeuge noch nie gesehen. Bin mir nicht einmal sicher ob es überhaupt welche waren sie kamen so schnell auf unser Dorf zu geflogen. So als ob sich alle Mörder und Verbrecher dieser Welt dort aufhalten würden.“

“In Ihren Augen sind wir noch schlimmer als Mörder.“
Drews Stimme war nur ein leises Flüstern, doch diese wahren Worte stachen tief in meinen noch schlagendes Herz.

“Ich hab in unser Horn geblasen, eigentlich nutzen wir das als Zeichen für meine Brüder wenn wir einen guten Fang gemacht haben, Gefahr droht oder wir wieder zurück ins Dorf gehen müssen. Ein langer tiefer Ton heißt Gefahr, dann habe ich danach nochmal zwei kurze und einen langen Ton ins Horn geblasen, das bedeutet sie sollen so schnell wie möglich zurück ins Dorf.
Dann sind Lisette und ich los gerannt. Unsere Beute haben wir im Wachposten liegen gelassen. Wir waren schneller wieder im Dorf als erwartet. Ich glaube so schnell wie an diesem Tag bin ich noch nie gerannt. Obwohl, ich glaube heute Mittag habe ich dieses Tempo beinahe getoppt.“ Als sei es ein schlechter Witz lachte ich leise auf. “Meine Brüder waren schon vor uns wieder im Dorf, sie können alle drei sehr schnell rennen, und Malo -“ Ich unterbrach meine Erzählung und schluckte.

Malo.

Wie sehr ich ihn doch vermisste.

“Nur ein guter Freund von mir, er ist immer mit uns jagen gegangen.“ erklärte ich Drew meine kurze emotionale Pause.

“Er war mehr als nur ein guter Freund oder?“ es klang nicht ganz wie eine Frage, viel mehr wie eine Feststellung. Doch es schwang ein Hauch, vermutlich ein Hauch zu viel, Erfahrung mit. Ich war mir sicher das Drew nicht wollte das ich wirklich etwas von seinen Gefühlen erfuhr. Aber er schaffte es nicht zu verstecken das er auch eine mehr als nur gute Freundin verloren hatte.

“Ja.“ antwortete ich leise, fast so als ob die Worte es wiedergeschehen lassen würden. “Ich war das erste Mal dabei mich gerade zu verlieben…“ gestand ich ihm, fast so als ob er mich bei etwas erwischt hätte.

Kapitel 11

Wir übernehmen die Stadt, sie sollten sich Sorgen machen,
Aber abgesehen von diesen Problemen, denke ich, dass ich dich wohl gelehrt habe.
Dass wir nicht fortlaufen werden, und wir werden nicht fortlaufen, und wir werden nicht fortlaufen.

Und in der Winternacht segeln Himmelsschiffe.
Sie sehen herab auf die hellblauen Lichter der Stadt.
Und sie werden nicht warten, und sie werden nicht warten,
und sie werden nicht warten.
Wir sind hier um zu bleiben, wir sind hier um zu bleiben,
wir sind hier um zu bleiben.

Heulende Geister erscheinen erneut
Auf Bergen, die aus Angst gestapelt sind
Aber du bist ein König und ich ein Löwenherz.
Ein Löwenherz.

Seine Krone erleuchtete den Weg als wir uns langsam bewegten.
Vorbei an den fragenden Augen derer, die wir zurückließen.
Wenn auch weit weg, wenn auch weit weg, wenn auch weit weg
Wir sind immer noch dieselben, wir sind immer noch dieselben, wir sind immer noch dieselben.

Heulende Geister erscheinen erneut
Auf Bergen, die aus Angst gestapelt sind
Aber du bist ein König und ich ein Löwenherz.
Ein Löwenherz.

Und wenn die Welt zum Ende kommt
Werde ich hier sein um deine Hand zu halten

~Of Monsters And Men~

 

Unangenehme Stille breitete sich aus. Und wir beiden schwelgten in unwiderruflicher Vergangenheit. Wie sie wohl war? Das Mädchen dessen Herz er mit sich trug und sie seines?
Leise räusperte ich mich und holte Drew wieder in die ungewisse Gegenwart.

Schnell sprudelten die Worte aus mir heraus:
“Im Dorf hatte man den Feind natürlich frühzeitig entdeckt. Männer, Frauen und alle die kämpfen konnten machten sich bereit. Lisette rief mit einer Freundin die Kinder zu sich und sie begannen in den Bunker zu fliehen der sich tief unter unserem Dorf befand. Es ist ein ziemlich sicheres Versteck. Doch ein Mädchen haben sie vergessen…“  
Ich schluckte und unterdrückte mir die nächste Ladung Tränen. “Penelop, meine Kleine Lieblings Cousine, sie war gerade mal vier Jahre alt. Ich habe oft auf sie aufgepasst. Lisette merkte ihr Fehlen erst zu spät. Sie befanden sich schon tief unter der Erde, zu riskant wieder hervor zu kommen um ein Kind zu retten und alle anderen damit in Gefahr zu bringen. Sie griffen uns so schnell und plötzlich an das nicht viel Zeit zum Denken war. Die Waffen lagen bereit, und doch mussten wir erst einmal taktisch vorgehen. Vielleicht würden sie uns in Frieden lassen, wenn wir sie davon überzeugen konnten ganz normale Menschen zu sein.
Zumindest war das Plan A. Plan B wäre sofort anzugreifen wenn sie unser Geheimnis sicher wussten und alles vernichten wollten.“

Plötzlich verschwamm die Erinnerung. Was an dem Abend passierte war zu schnell an mir vorbei geflogen. Eine Reihe wahrloser Bilder schwebten durch meinem Kopf die ich nicht richtig zuordnen konnte. Mein inneres verdrängte die Erinnerung vor weiteren Schmerzen, doch das durfte ich nicht zulassen. Drew hatte Recht, es würde wehtun aber manchmal muss der Schmerz sein damit er eines Tages vergehen kann. Also redete ich tapfer weiter: “Ich hatte schon viel von Ihnen gehört. Wer nicht? Doch Sie wirkten noch kälter und herzloser als ich geglaubt hatte. Auf so was kann man nicht vorbreitet werden, all die Erzählungen und Geschichten bringen nichts. Erst wenn man es selbst erlebt weiß man was es bedeutet… machtlos zu sein, ausgesetzt und was wahre Angst überhaupt bedeutet.

Wir mussten alle unsere Todesangst verbergen und liefen mit verwunderten Blicken hinaus auf den Marktplatz. Dort standen schon einige von Ihnen bereit. Mir fiel sofort eine Frau ganz vorne auf. Sie hatte rabenschwarze kurze Haare die wild nach oben gestylt waren und sie trug eine dunkle Sonnenbrille die ihre Augen sicher vor fremden Blicken verbarg. Ihre Haut war ganz blass und rein. Die Augenbrauen waren kantig und streng. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sie zwei Pircings und auch an ihren Lippen hingen silberne kleine Kugeln. Amüsiert lächelte sie kalt. Sie trug eng anliegende Kleidung aus schwarzem Leder. Sie war groß und schlank. Von all dem was ich je gesehen hatte jagte mir diese Frau am meisten Angst ein. Ihr Auftreten war mir fremd, und ausgesprochen unmenschlich.“

Drews Augen sahen mich erschrocken an, und erst jetzt bemerkte ich wie sehr ich zitterte. Nicht vor Kälte, sondern aus Angst. Doch es war mir egal, ich musste all das Geschehene loswerden, mit jemanden teilen. Diese dunkle Last war für mich allein einfach zu schwer. “Rechts von ihr stand eine asiatische Frau mit olivfarbener Hautfarbe. Auch sie hatte kurze Haare. Ganz grün, die an den Haarspitzen blau wurden. Ihre Augen waren ganz seltsam schwarz um schminkt. Und an ihrem Ohr trug sie einen komischen großen Ohrring, er hatte ein eigenartiges Muster. Schwarzweiße Zacken. Und links hinter ihr war eine sehr zierliche Frau mit blonden langen Haaren, sie hatte einen geraden Pony und trug ihre Haare offen. Sie war deutlich kleiner als die Frau mit der Sonnenbrille, wirkte dadurch aber nicht ungefährlicher. Sie trug ein ganz seltsames knallrotes Kleid. Es hing sehr weit an ihrem Körper hinunter und endete kurz vor dem Boden, so das man gerade noch die hellblauen Schuhe sehen konnte die ihre Füßen trugen. Ich hatte Nathan schnell unauffällige Blicke zu geworfen und ich merkte das auch ihm diese Frauen Angst einjagten. Meine Augen hatten nach Malo gesucht, doch in der Menschenmenge entdeckte ich ihn nicht. Die drei unheimlichen Damen liefen geschmeidig und langsam auf uns zu. Hinter ihnen standen zehn Männer in engen, dunkel blauen Kleidern. Sie betonten ihre männlichen Körper gut, und man konnte jeden einzelnen Muskel sehen. Sie trugen seltsame Helme wie ich sie noch nie gesehen hatte, und jeder von ihnen besaß eine, mir wieder unbekannte, Waffe.“
Ich stoppte meine Erzählung und lies es mir wie ein Film nochmal so gut es ging vor meinem inneren Auge ablaufen.

“Nun, mit wem darf ich sprechen?“ Die Frau mit der Sonnenbrille lachte leise und ihre kalte Stimme zerriss die Luft wie ein greller Blitz. Keiner der Männer rührte sich und ich hielt nach Ami Ausschau. Er war Nathans Patenonkel und führte unser Dorf schon seit einigen Jahren an. Doch es blieb still. Und er tauchte noch immer nicht auf. Unruhiges Gemurmel schlich sich durch die Menge. Mein Herz blieb beinahe stehen als ich merkte wie Nathan sich langsam nachvorne zu ihr hin bewegte. Als er bei ihr angekommen war sagte er kraftvoll: “Mit mir.“
“Wie schön.“ Sie schenkte ihm ein kurzes ekliges Lächeln.
“Wie ist dein Name?“
“Nathan.“
“Hübsch. Und du bist sicher der Anführer von diesem -“ sie warf einen schnellen Blick auf mich und den Rest meines Dorfes. “Gesindel?“
Nathan atmete tief ein und ich wusste, dass er sich einen Wutausbruch unterdrückte. Aber auch sie bemerkte das und lächelte ihn nur selbstgefällig an. Am liebsten hätte ich sie erwürgt. So sehr und schnell stieg mein Hass in mir gegen sie auf. Was für ein hässlicher Mensch sie doch war!
“Ja, bin ich.“
“Nathan hatte mit gesprochen. Die Art und Weise wie sie sprach… ich weiß nicht, als sei sie nicht von dieser Welt.“

Drews Augen huschten nachdenklich und verwirrt von meinem Gesicht und sahen zum nächtlich bewölkten Himmel hinauf. Mit seiner Hand fuhr er sich immer wieder nervös durch sein braunes volles Haar. Manchmal setze er dazu an etwas zu sagen, entschied sich dann aber jedes Mal aufs Neue wieder dagegen. Da ich diese merkwürdige Stille nicht ertragen konnte sprach ich im Flüsterton weiter: “Anfangs dachte ich tatsächlich noch sie waren überhaupt nicht gekommen um uns zu vernichten. Ich hatte wirklich geglaubt, dass alles gut gehen wird. Sie sprach so unbeteiligt mit Nathan, als sei es ein einfacher Besuch und kein geplanter Angriff. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben, es war so… fremd. Es kommt mir so unwirklich vor, denn es war nicht richtig Wirklichkeit und doch so echt.“ Drew sah mir wieder in die Augen, sein Gesicht verriet mir das er angestrengt über meine Geschichte nachdachte und aufmerksam jedes meiner Worte verschlang und verinnerlichte.

Zu dieser Geschichte gibt es 10 Kommentare

Einen Kommentar hinterlassen
Konstantin – 28. Mai 2021

Die Geschichte ist sehr mitreißend!

Brianna – 28. Januar 2021

Der Express gehört zu den 100 besten Geschichten, die ich kenne. Ist es Zufall dass alle, die im Zug sind, vorher eine merkwürdige Begegnung, wie die mit den"Dementoren" hatten? Der Zug ist iwie gruselig. Und die ganzen komischen Verbote, z.b. Man darf keinen Kontakt zu den Jungen haben und andersherum. Bitte schreib eine Fortsetzung!!!

Minna – 16. April 2019

Bitte! Eine! Fortsetzung! Das ist eine der besten Geschichten die ich hier auf der Website gefunden habe! Schreib unbedingt eine Fortsetzung! Ich freue mich darauf !

Joanna – 2. März 2017

Feuerelfe hat recht, einige Dingen haben mir an die Harry Potter Bucher errinnert. Amsonsten war alles toll: die Geschichte, dein Stil, die Charekter... Ich finde, du sollst versuchen die Sachen die ähnlich zu Harry Potter sind ein bischen unähnlicher machen, ein Ende schreiben und dein Buch an ein Verlag schicken. schreib bitte weiter, es ist zu spannened um da aufzuhören!

Sonnenschein – 28. Dezember 2015

Ich bin begeistert! Die Atmosphäre in deinem Buch ist einfach klasse. Und dein Schreibstil klingt wunderschön. Mich würde sehr interessieren, wie die Geschichte weitergeht Lg Sonnenschein

Schneewittchen – 10. November 2013

Oh mein Gott. Also, ich bin echt baff. Diese Idee ist einfach Genial und wie du schreibst, passt richtig gut dazu!!! Bittebittebitte gibt es noch eine Fortsetzung??? lllg Schneewittchen

fire – 9. Oktober 2013

gerne gerne, jule ich glaube, ich hab dir sogar iwann mal wieder eine mail geschrieben... man könnte sich ja mal austauschen, du hast doch bestimmt auch mal wieder was neues geschrieben in den ferien, oder? ^^

Jule – 1. Oktober 2013

hey fire!!! das freut mich so von dir zu hören! ich muss dir unbedingt wieder eine mail schreiben

fire – 27. September 2013

ohhh... endlich ich hab schon wieder so viel vergessen, dass ich alles noch mal lese — jeden tag wenn ich nach hause komme, lese ich mindestens 1 kapitel ^^ ach jule, es ist sooo gut — dankeschön, auch wenn ich noch lange nicht fertig bin mit lesen

Ella – 26. September 2013

Juhuuu, der Express ist wieder da!! Er hat mir schon auf der alten Seite unglaublich gut gefallen!! Lg Ella