Der goldene Vorhang

Geschrieben von Petra Elisabeth Sirowatka

Vorwort

Eleonora Pax, 15 Jahre alt, verbringt ihre Herbstferien allein zu Hause. Die Eltern sind sieben Tage unterwegs, um ihr neues Start Up zu bewerben. An einem regnerischen dunklen Herbstnachmittag bekommt sie überraschenden Besuch. Eine Delegation des Kosmischen Komitees für verständnisvolles Miteinander braucht dringend Eleonoras Hilfe.

Die kosmische Oper ist ein Werk der Schöpfung mit unzähligen Beteiligten der sichtbaren und nicht sichtbaren Welten. Sie hat kein Ende und keinen Anfang. Wenn Du abends vor dem Einschlafen die Augen schließt und Dein Herz weit öffnest, kannst Du sie hören. Sie fließt aus ihrem Ursprung, aus der Quelle in Dich hinein. Auch am wilden Meer, im Wald oder an einem stillen Sommerabend, wenn Du in die Weite des Abendhimmels blickst, hörst Du sie ohne Anstrengung. In dem Moment, in dem Du sie wahrnimmst, alles andere für unwichtig erachtest, Dich ihr hingibst, erklingt die Ouvertüre. Eine Komposition nur für Dich, einzigartig und nicht
wiederholbar. Jeder Ton reine Liebe, gespielt vom größten Orchester des Kosmos, dirigiert vom Sein. Und plötzlich wirst Du Dir darüber bewusst, dass Du selbst einen Platz einnimmst, dass Du das Instrument, die Stimme bist, die den Klang erst zu einer vollkommenen Komposition werden lässt. Manchmal klopft das Sein mit dem Dirigentenstab auf das Pult und in einem Augenblick, der außerhalb von Zeit und Raum liegt, geht ein Schweigen durch die Weltenkathedrale und ein langes Ausatmen, bevor die kosmische Oper von Neuem beginnt.

Unerwarteter Besuch

Alles Neue begann oder alles Alte endete an einem neblig nassen, späten Oktobernachmittag, am Anfang der Herbstferien. Das Licht war dem Himmel schon fast ausgegangen. Seit Stunden regnete es, als würde eine wütende Göttin unaufhörlich riesige Eimer kalten Wassers über das blau gestrichene Haus in der Pappelstraße 33 ausschütten. Eleonora lag auf ihrem Bett. Der viel zu kleine, rosafarbene Einhornkopfhörer, den sie vor langer Zeit von ihrer Großmutter bekommen hatte, saß schief auf ihrem dunklen, glatten Haar, aber das störte sie nicht, denn heute gab es eine neue Folge von “Alwinas abgefahrenen Abenteuern“, ein Podcast für alle, denen die reale Welt nichts mehr zu geben hat, wie Alwina am Anfang stets ins Mikrofon hauchte. Eleonora liebte diese Stunde voll abstruser Albernheiten und merkwürdiger Geschichten, die nur so aus Alwinas Mund sprudelten und einen Wortteppich webten, auf dem Eleonora davonfliegen konnte, in ihre eigenen Welten, die so wenig mit der zu tun hatten, in der sie morgens aufstand, sich die Zähne putzte und zur Schule ging. Ihr Leben fühlte sich nicht mehr richtig an. Eine Nummer zu klein, dachte Eleonora oft, wenn sie nach Hause kam und sich etwas zum Essen aufwärmte. Ihr Eltern Rupert und Eva Maria waren viel unterwegs. Auch über Nacht und manchmal auch an ihr endlos erscheinenden Wochenenden. Der Podcast schien schon dem Ende entgegenzugehen, denn Eleonora tauchte aus ihren Gedanken auf und hörte nur noch den berühmten Schlusssatz: “Also all ihr abgefahrenen Abenteurerinnen und Abenteurer, unternehmt bloß nichts ohne mich.“ Ihm folgte ein mit Hall unterlegtes schauriges Lachen und wie jede Woche Werbung für Kapseln aus rein natürlichen Zutaten, die gegen Antriebslosigkeit und schlechte Laune helfen sollten.

Eleonora zog sich den Kopfhörer runter, schwang sich aus dem Bett, lief in Richtung Küche und schaltete die Deckenlampe ein. Seit Stunden hatte sie nichts mehr gegessen, doch der Inhalt des Kühlschranks enttäuschte sie. “Wenn wir schon in Deinen Herbstferien nicht hier sein können, dann sollst Du wenigstens nicht verhungern“, hatte ihr Vater lachend gesagt und versprochen, so viel Essen einzukaufen, dass es für mindestens eine Woche reicht.“ “Muss er vergessen haben“, murmelte Eleonora und schaute missmutig den welken Salatkopf, das lächerlich kleine Stück Parmesan und den Rest des indischen Essens an, dass sie sich vor zwei Tagen beim Lieferdienst bestellt hatten. Ihre Eltern Eva Maria und Rupert waren heute Morgen sehr früh mit dem Taxi zum Flughafen gefahren. Sieben Tage lang würden sie von einer europäischen Großstadt zur nächsten fliegen, um ihr Start-up zu bewerben, von dem sie sich alles versprachen. Endlos hatten sie versucht ihre Tochter zu überreden, mit ihnen zu reisen. Aber Eleonora hatte sich dagegen entschieden. “Erstens fliege ich aus Überzeugung nicht, das wisst ihr doch“, hatte sie vorwurfsvoll gesagt. “Und zweitens habt ihr sowieso keine Zeit für mich. Ich bleibe hier und rechne inzwischen aus, wie viel CO2 ihr mit Eurer Fliegerei in die Luft pustet.“

Eleonora sank mit einem tiefen Seufzer auf einen Küchenstuhl und schloss die Augen. Fünf Minuten in die Schwärze abtauchen und der Monotonie ihres 15 jährigen Lebens entfliehen. Ihr kam es vor, als würde eine unsichtbare Macht irgendwo im Universum auf einem gigantisch großen Schaukelstuhl sitzen und ihr Leben stricken. In sehr ordentlichen, gleichförmigen Reihen, die Maschen ein bisschen zu fest und ohne die geringsten Abweichungen. “Klick, klack, klick,
klack“, jetzt konnte sie sogar schon die Stricknadeln hören.

“Klick, Klack, Klick, Klack…“

Erschrocken riss Eleonora die Augen auf. Das Klicken und Klacken kam eindeutig aus dem Flur. Ganz langsam richtete sie sich auf. “Bloß kein Geräusch machen“, dachte sie panisch “und wo ist mein verdammtes Handy? Auf meinem Bett“, fiel ihr ein “Aber wenn ich es hole, dann kann man mich durch die Glastür sehen“. Einen Augenblick stand sie reglos da und wagte nicht zu atmen. Klick, klack, klick, klack, klick, klack…

“Verzeihung“ sagte plötzlich eine Stimme, “würdest Du uns für einen kleineklitzen Moment ereinlassen?“

Eleonora starrte in Richtung Flur. Das war kein Traum. Das geschah genau in diesem Moment. Sie holte tief Luft, ging entschlossen zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck. Ein sehr nasses, sehr kleines, graues Pferd, das eine viel zu große, gestreifte Küchenschürze trug und ein ebenfalls
komplett durchnässter, rothaariger Junge, ungefähr in Eleonoras Alter, standen vor ihr, umgeben von großen Pfützen. Das Geräusch, das sie für das Klappern von Stricknadeln gehalten hatte, waren die Hufe des Pferdes, die aufgeregt auf den Bodenfliesen tänzelten.

“Excusez moi“ quiekte das Pferd (in Eleonoras Kopf drehten sich die Gedanken so schnell, dass ihr schwindlig wurde). “Bist Du Eleonora Pax, die verfahrene Abenteurerin, die sich nach einer bisschen Verwechslung sehnt?“

Der Junge, der bisher noch nichts gesagt hatte, verdrehte dramatisch die Augen.

“Cookie, du meinst Abwechslung.“

“Naturellement Estragon“ erwiderte das Pferd, das augenscheinlich nicht nur sprechen konnte, sondern auch auf den Namen Cookie hörte.

“Du heißt Estragon?“

“Ja“, antwortete der Junge mit einem breiten Lächeln. “Estragon D. Goldmann. Und das“, er zeigte auf das Pferd, “ist Cookie das Küchenpferd.“

“Wollt Ihr reinkommen?“ Eleonora zeigte in Richtung Küche. “Ich könnte uns einen Tee machen.“

“Sehr gerne“, antwortete Estragon, aber bevor er einen Schritt machen konnte, drängte Cookie ihn rücksichtslos zur Seite, trabte in die Küche und einmal um den Tisch herum.

„Küsschen sind meine große Passion“, wieherte sie begeistert. “Ich mach uns une petite chose zu essen.“

“Leider ist gar nichts im Kühlschrank, meine Eltern haben vergessen einzukaufen.", räumte Eleonora ein bisschen schuldbewusst ein.

“Kein Problem, meine magnifique Macarons“, rief Cookie, “isch abe alles dabei“.

Mit einer geschickten Bewegung zog Cookie mit ihrem Maul einen weißen Stoffzipfel aus ihrer Küchenschürzentasche, der länger und länger wurde und sich aufblähte wie ein Segel, um dann sanft auf dem Tisch zu landen.

“Und nun“, rief Cookie, “Camembert und Marzipan, Schokocreme ganz vegan, Croque-Monsier und Marmorkuschen, wollen wir alles mal versuchen, ganz zum Schluss noch ein paar Ärbsen“.

Cookie zögerte und sagte etwas verlegen: “Isch vergesse immer wieder, dass sich auf Ärbsen nichts reimt… Ganz zum Schluss noch etwas Mais und als Nachtisch gibt es Eis.“

Ein hoher schriller Ton sprang durch die Küche wie ein kleiner Gummiball, prallte gegen das Fenster, sauste knapp an Eleonoras Kopf vorbei und explodierte in tausend Farben genau über dem Tisch. Als das unerwartete Feuerwerk sich gelegt hatte, traute Eleonora ihren Augen nicht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solch eine Fülle fantastischer Speisen gesehen.

Estragon D. Goldmann zwinkerte Eleonora zu und flüsterte: “Sonst zieht sie das Essen einfach so aus ihrer Schürze. Das mit dem Zauberspruch hat sie sich nur für Dich ausgedacht.“

Gleich vorne am Tisch erhob sich ein Gebirge aus Schokoladencreme mit Gipfeln von weißen Sahnespitzen, es gab einen Wald, dessen Baumstämme augenscheinlich aus dunklem Brotteig gebacken waren und herrlich dufteten. Die Blätter aus Pistazien und grünen Oliven waren kunstvoll auf ihre filigranen Äste gesteckt. Eine Blumenwiese lud ein, Früchte und Blüten in allen Farben zu kosten oder frische Wildkräuter zu pflücken. Ein sprudelnder Wasserfall ergoss sich in einen azurblauen See, auf dem kleine Boote schwammen, die angefüllt waren mit den köstlichsten Leckereien. Eleonora erkannte indische Samoas, knusprige Falafel Bällchen, mexikanische Tacos, neapolitanische Pizzastücke und ihr Herz machte einen Hüpfer, Puff Puffs. Die frittierten Quarkkugeln, die sie von einer Reise mit ihren Eltern nach Nigeria kannte und so sehr liebte. Die ganze Welt war hier kulinarisch vertreten und alles war frisch, wie eben zubereitet. Es dampfte und duftete und sah ganz und gar wunderbar aus. Eleonora schaute Cookie an, die ihr ermunternd zunickte, dann gab es kein Halten. Elegant schlitterte sie auf ihren Strümpfen zum Schrank, riss die Tür auf, holte drei sehr große Teller heraus und Messer und Gabeln für Estragon und sich aus der Besteckschublade. Estragon, Cookie und Eleonora drehten Runde um Runde um den Küchentisch und angelten sich ihre Lieblingsspeisen. Sie merkte, was für einen Hunger sie gehabt hatte und seufzte vor Vergnügen, nachdem sie die dritte Portion Puff Puffs verdrückt und nun mit vollem Mund einen der Brotbäume mampfte. Cookies kleines Pferdemaul steckte zur Hälfte im Schokoladengebirge und Estragon aß sich gefühlt zweimal um den ganzen Planeten. Abrupt hielt Eleonora inne und schüttelte sich kurz, so als wäre sie aus einem tiefen Schlaf erwacht. Sie hörte den Regen heftig gegen die Fenster schlagen. Draußen schien alles so, wie vor einer halben Stunde, aber hier in der Küche ihres Zuhauses, aß sie Speisen, die wie aus Nichts auf dem Küchentisch erschienen waren, mit einem Jungen, der den seltsamen Namen Estragon trug und den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Nicht zu vergessen Cookie. Ein Pferd, das mit französischem Akzent sprach, als wäre es das Normalste auf der Welt.

“Was wollt Ihr hier und wo kommt Ihr her?“ Eleonora klang ein bisschen zittrig, während sie abwechselnd auf Estragon
und Cookie schaute und versuchte, ihrem Blick etwas Strenges zu geben.

“Das wird aber auch Zeit“, sagte eine näselnde, leicht verschnupfte Stimme, die aus Estragons Richtung kam, “wir sind schließlich nicht zu unserem Vergnügen hier“.

Eleonora ließ vor Schreck ihre Gabel fallen.

“Ist noch jemand hier?“, fragte sie entgeistert?

“Nein, niemand", erwiderte Estragon, “das ist nur Herr Besserwisser“.

“Niemand, so eine Unverschämtheit ist mir in meiner gesamten Laufbahn als ZVdVuBH2 nicht widerfahren.“

Die Stimme spuckte das Wort Unverschämtheit aus, als würde es nach etwas Ekelhaftem schmecken.

“Wer spricht da und was ist ZVdV Dingsda “

Eleonora brach ab, weil sie den Rest der Abkürzung vergessen hatte.

“Wenn ich mich vorstellen dürfte“, sagte die Stimme etwas freundlicher, um gleich darauf in scharfem Ton fortzufahren “Estragon, Du weißt, was zu tun ist“.

Estragon seufzte und zog betont gelangweilt etwas aus der Brusttasche seiner grünen Jacke, um es vor Eleonoras Gesicht zu halten. Sie musste zweimal hinschauen. Vorsichtig zwischen zwei Fingern hielt Estragon einen Bleistift. Aber nicht irgendeinen. Dieser Stift war akkurat gekleidet in einem graphitgrauen Anzug, einer hellgrauen eng gebundenen Fliege und einem dunkelgrauen Hut und… er war sehr lebendig. Das zierliche Gesicht schmal, die Augen dunkel und die Mundwinkel leicht nach unten gebogen, ähnelte er ihrem immer schlecht gelaunten Geschichtslehrer Dr. Winkel.

“Mein Name ist Besserwisser, Berthold Besserwisser und ZVdVuBH2 bedeutet: Zweiter Vorsitzender der Vereinigung unabhängiger Bleistifte Härtegrad 2.“

Er streckte ein dünnes Ärmchen aus und Eleonora nahm seine Hand sehr behutsam in die ihre.

“Mein Name ist Eleonora Pax,“, flüsterte sie und sah sich vorsichtig in der Küche um.

Herr Besserwisser verstand sie sofort.

“Wir sind zu dritt und mehr kommen auch nicht. Es war schon schwierig genug, uns drei durch den Vorhang zu schleusen“.

“Zeit einzupacken, Cookie“, meinte Estragon mit einer Spur des Bedauerns und schnappte sich das letztes Pizzastück, bevor Cookie den Zipfel der Tischdecke wieder ins Maul nahm, ihn in ihre Schürzentasche zurücksteckte und das Tuch samt allen Speisen in das Innere der Tasche hineingezogen wurde, wie das Kabel eines Staubsaugers und mit einem leisen Ploppen verschwand.

Eleonora atmete tief durch. Was passierte hier. Was würde Alwina dazu sagen? So oft hatte sich Eleonora gewünscht, dass etwas unglaublich Aufregendes in ihrem Leben geschieht. Doch jetzt fühlte es sich merkwürdig an. Beängstigend. Als würde sie Zentimeter für Zentimeter auf einen Abgrund zugehen. Es wurde sehr still in der Küche. Selbst der Regen ließ nach.

“Eleonora“, sagte Herr Besserwisser und es klang feierlich. “Sind Sie bereit, mit uns zu kommen, ohne zu wissen, wohin, ohne zu wissen warum.“

Eleonora fügte in Gedanken hinzu: “und bis der Tod uns scheidet“ und ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken.

“Dann antworten Sie mit ja“, endete Herr Besserwisser.

“Ja“, hörte sie jemanden sagen und dann wurde Eleonora klar, dass sie selbst es gesagt hatte. Estragon zog einen kleinen, schwarz glänzenden Würfel aus seiner Hosentasche und hielt ihn vor Eleonoras Stirn. Der Würfel löste sich von seiner Hand und begann ganz sacht um ihren Kopf zu schweben wie ein Mond um seinen Planeten. Runde um Runde. Eleonora versuchte ihm mit den Augen zu folgen, aber Estragon legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter.

“Das ist ein Deputator, eine Erfindung aus unserer KI-Werkstatt. Du willst doch nicht, dass Deine Eltern sich Sorgen machen?“ Er lächelte sie schief an. “Solange Du fort bist, wird ein Ersatz für Dich einspringen und mit Deinen Eltern kommunizieren.“

“KI Du meinst künstliche Intelligenz“, stellte Eleonora fest, die sich sehr für dieses Thema interessierte.

“Nein“, lachte Estragon, bei uns heißt es Kindliche Intelligenz.

Herr Besserwisser mischte sich ein. “Seit langem wissen wir, dass die schöpferische Intelligenz von Kindern bei weitem alles übertrifft, was Eure KI zuwege bringt. Den Deputator zum Beispiel hat ein neunjähriges Zwillingspaar erfunden, zwei Mädchen namens Kumiko und Kaori. Er macht unzählige Aufnahmen Deines Äußeren, zeichnet Deine Energielinien auf, Deine Art Dich zu bewegen, Deine Mimik, Deine Stimmlage in verschiedenen Emotionen und generiert plausible Gesprächssituationen mit Deinen Eltern. Der Deputator kreiert eine exakte Kopie Deines Selbst. Allerdings hat Deine Stellvertreterin ein Verfallsdatum. Aber für eine Woche müsste es reichen.“

Der Würfel umkreiste in rasantem Tempo Eleonoras Körper, als wollte er sie in einen unsichtbaren Kokon weben und gab ein Brummen von sich, dass sich anhörte wie ein äußerst schlecht gelauntes Insekt. Estragon bat sie, einige Sätze zu sprechen, die typisch für ein Telefonat oder Videochat mit ihren Eltern waren. Sie dachte kurz nach und legte los. Sofort bekam sie einen genervten und leicht aggressiven Ton: “Ja, ich habe heute schon etwas gegessen.“

Eleonora musste kurz grinsen, riss sich dann aber zusammen und sprach weiter.

“Ja, Papa, die Mülltonne habe ich gestern rausgestellt. Nein, ich habe keine Lust, Tante Alvira zu besuchen.“

“Noch ein bisschen Tochter-Eltern Small Talk“, rief Estragon ihr zu, denn der Deputator machte einen ziemlichen Lärm.

“Wie geht es Euch, wo seid Ihr gerade hat schon ein Investor angebissen?“, leierte Eleonora herunter.

Der Deputator wechselte seine Farbe in ein leuchtendes Grün, wurde langsamer und langsamer und landete mit einem erschöpften Piepsen auf Estragons ausgestreckter Hand.

“Ja, ich habe heute schon etwas gegessen.“

Eleonora drehte sich erschrocken herum und schlug die Hände vor den Mund. Dort stand das exakte Abbild ihres Selbst. Die dunklen, ungekämmten Haare, das blasse Gesicht mit den grünbraunen Augen, ihre schmale, etwas nach vorne gebeugte Gestalt. “So sehe ich also aus“, dachte Eleonora überrascht.

“Deine Stellvertreterin wird sich nur dann manifestieren, wenn Deine Eltern anrufen", erklärte Herr Besserwisser, “die restliche Zeit hält sie sich im Deputator auf.“

Wie aufs Stichwort wurde “Eleonora die Scheinbare“ immer durchsichtiger, ihre Farben verblassten, bis sie schließlich ganz verschwand. Cookie, die sich ihrem Gefühl nach vornehm zurückgehalten hatte, gab ein perlendes Wiehern von sich und rief: “Allez hop, meine petits biscuits, wir müssen uns wirklisch beeilen. Pat und Buttervogel warten schon auf uns.“

In Elenoras Kopf war nichts mehr an seinem Platz. Ein unerwarteter Angriff auf ihre sorgsam aufgereihten Vorstellungen und Ansichten über die Welt und das Leben hatte alles in ein einziges Chaos verwandelt. Tausend Fragen warteten ungeduldig darauf, darauf beantwortet zu werden. Und doch wusste sie, es war nicht die richtige Zeit, um Fragen zu stellen. Ein Abenteuer, vielleicht das größte ihres Lebens, begann genau jetzt. Estragon nahm Herrn Besserwisser zwischen Daumen und Zeigefinger und nickte ihm zu. Der kleine, graue Bleistiftmann kniff hoch konzentriert seine Augen zusammen, öffnete sie für einen kurzen Moment und sagte streng: “Estragon verschwende mich nicht. Nur die nötigsten Striche, Du weißt warum.“

Estragon atmete tief durch und mit einer einzigen, eleganten Bewegung zeichnete er mit Berthold Besserwissers Bleistiftspitze mitten in die Küche der Familie Pax, an einem regnerischen, kalten Oktober Abend den Umriss einer Tür mit einer feinen Linie aus goldenem Licht.

“Wir haben exakt 3 Minuten Zeit, dann schließt sich das Tor wieder.“

Berthold Besserwisser, der zur Hälfte in Estragons Brusttasche steckte, schaute auf eine klitzekleine Uhr an seinem Handgelenk.

“Eleonora, wir brauchen Ihr Handy sofort.“

Sie lief in ihr Zimmer, schnappte sich das Telefon und wolle gerade umkehren, da blieb sie für einen Moment stehen. Sah auf das dunkle Holzregal mit den zerlesenen Büchern ihrer Kindheit, die sie alle Wort für Wort auswendig kannte, auf ihr gemütliches Bett, mit den bunten Kissen von ihrer Mutter genäht, den kleinen Schreibtisch mit der Snoopy Leselampe. Hier fühlte sie sich sicher. Sicher vor den hämischen Bemerkungen ihrer Mitschüler, die sie für versponnen und schräg hielten, sicher vor den nervigen Fragen ihrer Eltern, warum sie nie eine Freundin oder einen Freund nach Hause brachte und sicher vor ihren Ängsten, die verlässlich jeden Morgen schon an der Gartenpforte auf sie warteten, um sie den ganzen Tag zu begleiten.

“Eleonora“, rief Cookie aus der Küche, mein Erzblatt, noch une minute“.

Eleonora gab sich einen Ruck, flitzte los und warf Estragon das Handy zu, der er geschickt auffing und neben den Deputator legte. Mit einer Hand krallte er sich in Cookies silberne Mähne, mit der anderen hielt er Eleonoras Handgelenk fest. Dann standen sie zu viert vor dem goldenen Türrahmen, der sich hin und her bewegte, als würde ein Küchensturm aufziehen. Herr Besserwisser fing an zu zählen: zehn, neun, acht. Eleonora schaute auf ihre Füße.

“Mist, ich habe keine Schuhe an“, rief sie und versuchte sich aus Estragons Klammergriff zu befreien, aber er hielt sie eisern fest. Herr Besserwisser zählte unbeirrt weiter, ohne auf sie zu achten.

“Sieben, sechs, fünf, “

“Muss ich nichts mitnehmen“, fragte Eleonora hastig, “werden meine Eltern sich mit der Fake Elli zufriedengeben, soll ich noch mal“…

“ vier, drei, zwei …“

Die Eins hörte Eleonora nicht mehr. Sie war mit etwas Wichtigerem beschäftigt. Mit Überleben.

Zu dieser Geschichte gibt es 3 Kommentare

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Karlita – 15. August 2024

So bildhaft, liebevoll und unglaublich spannend geschrieben- hoffe, es geht weiter!

Petra Elisabeth – 15. August 2024

Liebe Pola, das freut mich so sehr. Vielen Dank. Ich habe erst 13 Kapitel geschrieben und hoffe tatsächlich sehr, dass aus meiner Geschichte irgendwann ein Buch wird. Herzliche Grüße aus Bremen, Elisabeth

Pola – 15. August 2024

So gut geschrieben!!! Ich würde gern wissen wie es weiter geht ...

Wo kann ich das Buch bestellen?