Es klopft

Geschrieben von Franziska

Ich liege in der Hängematte und wackle mit den Zehen, als es an der Tür klopft. Nanu, wer mag das sein zu dieser Zeit? Vielleicht geht er ja wieder weg, wenn ich so tue als wäre ich nicht da. Mit angehaltenem Atem zähle ich bis drei. Nichts passiert. Ich entspanne mich und beginne wieder, mit den Zehen zu wackeln. Großer Zeh, langer Zeh, kleiner Zeh und wieder zurück. Großer Zeh, langer Zeh... Es klopft. Dieses Mal ungeduldiger. Seufzend räkele ich mich aus der Hängematte, um mich durch den dunklen Raum zur Tür zu tasten.

Geschlagene fünf Minuten später habe ich zwar nicht die Tür, dafür aber immerhin den
Lichtschalter gefunden. Im Licht der funzeligen Birne entdecke ich eine gigantische Unordnung, welche diverse blaue Flecken erklärt, die ich mir auf meinem Weg von der Hängematte bis zur Wand zugezogen habe. Etwas umsichtiger bahne ich mir nun meinen Weg und öffne die Tür. Vor mir steht steht ein Pfadfinder-Mädchen. Ein überaus kleines Pfadfinder-Mädchen. Sie trägt eine Pfadfinder-Uniform, rosa Schleifchen im Haar und, aus irgendeinem Grund, eine Pistole am Gürtel.

“Hallo, kann ich reinkommen?”, sagt das Mädchen, wobei sie von einer Zahnspange verriegelte Zähne entblößt. Ohne eine Antwort abzuwarten, schiebt sie sich an mir vorbei in meine Wohnung. Ich blinzle ein wenig perplex auf den nunmehr leeren Flur. Ich blinzle nochmal. Nichts passiert. Also schließe ich, leicht irritiert, die Tür. Das Mädchen hat sich inzwischen einen Weg durch das Chaos gebahnt, und sitzt an meinem Küchentisch.

“Erstens”, sagt es, während es eine Keksdose hervor zieht , “ist es zwei Uhr nachmittags und du bist immer noch hier. Zweitens,” und hier schiebt sich das Mädchen einen Keks in den Mund, während es mir einen wütenden Blick zu wirft, “zweitens, hast du keine Milch im Kühlschrank. Weder in diesem, noch in dem anderen. Ich esse Kekse grundsätzlich lieber mit Milch, wie du sehr genau weißt! Und drittens lebst du in einer solchen Unordnung, dass du fünf Minuten von der Hängematte bis zur Tür gebraucht hast. Einer Hängematte die du, wie ich anmerken möchte, als Bett benutzt, weil du dein echtes Bett nicht mehr finden kannst.”

Ich sehe mich um. Tatsächlich bin ich mir nicht sicher, unter welchem der Kleiderhaufen sich mein Bett befindet und Milch ist bestimmt nicht das einzige, was in meinem Kühlschrank fehlt.

“Ich will keine Kekse kaufen”, sage ich in der vagen Hoffnung, sie so wieder los zu werden.
Das Mädchen sieht mich an, als wäre ich die dümmste Person, der sie je begegnet wäre. Ein Umstand, den ich momentan für nicht vollkommen unwahrscheinlich halte.

“Sehe ich etwa aus als würde ich Kekse verkaufen?”, fragt sie.

“Naja”, sage ich, “ja. Ist das nicht, was Pfadfinderinnen normalerweise tun?”
Allerdings beschleicht mich langsam das Gefühl , dass ich es hier nicht mit einer normalen Pfadfinderin zu tun habe.

“Sehe ich etwa aus wie eine normale Pfadfinderin?”, bestätigt das Mädchen meine Vermutung.

“Keine Pfadfinderin?”, frage ich vorsichtig. Die kleine nicht so normale Pfadfinderin scheint mir leicht reizbar.

“Natürlich nicht!” faucht sie, offenbar gereizt von meiner Begriffsstutzigkeit. “Tragen
Pfadfinderinnen etwa die Strickjacke deiner Mutter und wissen, dass du in einer Hängematte schläfst?”

“Vorallem tragen sie keine Pistolen”, werfe ich ein und schiele leicht besorgt auf den klobigen Gegenstand, der immer noch an ihrer Hüfte hängt.

“Oh das”, sagt sie, als hätte sie die Feuerwaffe an ihrem Gürtel ganz vergessen. “Keine Sorge, die ist nur zur Selbstverteidigung.”

“Selbstverteidigung?”, quietsche ich, doch das Mädchen geht nicht weiter darauf ein.

“Mein Punkt ist”, fährt sie fort, “dass ich natürlich keine echte Pfadfinderin bin, genauso wenig wie das hier deine echte Wohnung ist!”

“Ist sie nicht?”

“Nein, hat deine Wohnung etwa auch keine Fenster? Oder einen Dinosaurier im Kleiderschrank?”

Ich drehe mich zu dem Dinosaurier um, der mir tatsächlich aus der geöffneten Schranktür
heraus entgegen blinzelt.

“Ich bin dein Unterbewusstsein, und das hier ist dein Gehirn, oder was auch immer davon übrig ist. Du träumst, und zwar um 2:00 nachmittags, wie ich noch einmal betonen möchte.”

Ich starre das Mädchen an. Den Traum-Part glaube ich sofort aber…

“Warum trägt mein Unterbewusstsein die Strickjacke meiner Mutter?”

“Wegen irgendeines Mutter-Komplexes, den du bestimmt finden würdest, wenn du hier mal ein wenig aufräumen würdest. Aber das ist jetzt erst mal irrelevant. Wir haben Wichtigeres zu tun. Ich bin schließlich nicht bloß hergekommen, um Kekse zu essen und dich zu beleidigen.”

“Nicht?”

“Zugegeben, das ist auch nicht schlecht.”

Mein Unterbewusstsein wird mir zunehmend unsympathischer.

“Aber ich bin hier um dir zu helfen.”

Das ist jetzt wiederum eine Überraschung.

“Du hast offensichtlich ein schwerwiegendes Problem, welches du hier unter dem ganzen
anderen Kram begraben hast. Alle deine Gedanken kreisen nur noch um dieses Problem als ihr Zentrum, und kommen ganz durcheinander. So durcheinander, dass du nicht mal mehr den Einkaufszettel findest, auf dem steht, dass du Milch kaufen sollst. Wir müssen dieses Problem ausgraben, damit du endlich wieder an etwas anderes denken kannst, als nicht daran zu denken.”

“Du willst in diesem Chaos hier herum wühlen?” frage ich ungläubig. “Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist... Wenn im Kleiderschrank schon ein Dinosaurier sitzt, will ich nicht wissen was darunter hockt.”

Das kleine Pfadfinder-Mädchen, das mein Unterbewusstsein ist, seufzt genervt: ”Genau das ist das Problem mit dir! Du denkst nicht vorausschauend. Wenn der Dinosaurier heute im
Kleiderschrank sitzt, wo ist er dann morgen? Vielleicht in der Hängematte? Und was willst du dann tun? Dich selbst in den Kleiderschrank setzen? Eins sage ich dir, wenn du das tust, bis du nur noch einen Schritt davon entfernt Narnia zu finden!”

Ich sehe offenbar nicht ausreichend schockiert aus, denn mein Unterbewusstsein fügt
hinzu: ”Narnia ist nicht das magische Zauberland, für das du es hältst du Einfaltspinsel! Was ich sagen will ist: Du bist eineinhalb Schritte davon entfernt, deinen Verstand in diesem verdammten Chaos zu verlieren. Ich bin gekommen, um zu retten, was noch zu retten ist.”

Und mit diesen Worten schließt mein Unterbewusstsein seine Keksdose, steht auf, und beginnt mit beiden Händen meine Gedankenwelt auseinander zu nehmen.

“Halt, warte mal”, rufe ich mit leichter Panik in der Stimme, welche stetig wächst, je mehr
Schund, den mein Unterbewusstsein zur Seite wirft, nur knapp meinen Kopf verfehlt. Aber mein Unterbewusstsein denkt gar nicht daran zu warten. Stattdessen gräbt es immer
energischer und je näher es dem Zentrum des Raums kommt, desto stärker wird ein
unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend.

“He”, versuche ich es nochmal. Ich ahne, dass mich in der Mitte des Raums etwas sehr Unangenehmes, eventuell physisch Schmerzhaftes erwartet. Mein Unterbewusstsein stößt jedoch weiter vor und das Ziehen in meinen Eingeweiden wird zu einem Reißen. Ich stöhne. Jetzt reichts! Mit zitternden Knien stürze ich mich in das aufgewühlte Müll-Meer um mein offensichtlich lebensmüdes Unterbewusstsein aufzuhalten. Mit dem ersten Schritt sinke ich knietief in einen Berg aus allem möglichen Unrat, von dem ich nicht glauben möchte, dass er meiner eigenen Vorstellungskraft entsprungen ist. Drei Schritte weiter und die Gedankenschnipsel scheinen sich an mich zu klammern. Ich schlage nach einer
Chipstüte, die an meinem Hosenbein zieht, blick auf und... wo ist mein Unterbewusstsein?
Rechts, links, vor und hinter mir ist nichts als Unordnung. Hat die sich etwa vermehrt? Die
Wände sind nicht mehr zu sehen. Und warum dreht sich alles? Mir wird schwindelig und ich falle zu Boden. Nur, dass da kein Boden mehr ist, sondern nur mehr und mehr und mehr… Ich ertrinke in meinen Gedanken. Über mir verschwindet das Licht der funzeligen Glühbirne. Panik überkommt mich. Ich kneife die Augen zusammen.

Als ich sie wieder öffne, fällt Licht durch geschlossene Fensterläden und es riecht nach
Schweiß. Der Wecker neben meinem Bett zeigt 14:01. Wow, denke ich. Mein Unterbewusstsein ist ganz schön tough. Seufzend ziehe ich das Foto unter meinem Kopfkissen hervor. Ich muss mich wohl wirklich damit auseinandersetzen.
Und Milch kaufen.

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  • Bestie der Schatten Franziska
  • Zu dieser Geschichte gibt es 6 Kommentare

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    Annelie – 21. Oktober 2020

    Wow, eine richtig coole Geschichte! Einfach eine tolle Idee vor allem mit dem Foto am Ende, womit du nur andeutest, dass es um eine andere Person geht, aber offen lässt um wen. Wirklich toll

    Franziska – 5. Mai 2020

    Hey zusammen, vielen, vielen Dank für eure Kommentare!!! @Julia Löwenherz, Ich glaube ich habe nur ein englisches Wort verwendet. Oder findest du mehr? Ich habe so lange in den USA gelebt, dass ich, was Anglizismen angeht, ein bisschen desensibilisiert bin. Danke für den Hinweis! @Lotte Leselust, Hehehe da haben wir was gemeinsam. @Soso, Ich wollte eigentlich so tun, als wäre ich super clever und hätte das Problem absichtlich nicht benannt, damit der Leser seine eigenen Probleme auf die Geschichte projeziert. Aber tatsächlich ist mir einfach nichts Passendes eingefallen. Hast du eine Idee? Ich bin offen für Vorschläge! @Käpt‘n SunnySophie, DANKE! Nette Kommentare sind besser als Cookies and Cream @Jannes, vielen vielen Dank! Ich habe die Geschichte geschrieben als ich fünfzehn war, sie aber erst jetzt wieder gefunden und nochmal überarbeitet. Inzwischen bin ich achtzehn.

    Jannes – 1. Mai 2020

    Eine der besten Geschichten, die ich je gelesen habe! Wie alt bist du?

    Soso – 24. April 2020

    Was ist das für ein Problem, das das Unterbewusstsein unter dem Chaos finden will?

    Lotte Leselust – 15. April 2020

    Lustig! Ich versinke auch im Chaos.

    Julia Löwenherz – 14. April 2020

    Lustige Geschichte, ich würde keine englischen Wörter benutzen. LG Sophie