Flora Emberstone

Geschrieben von Lili

Die Stille vor dem Sturm

Als ich heute Morgen auf die Straße trat, lag etwas Drückendes in der Luft. Ich wusste nicht genau, was es war, aber es fühlte sich an, als würde die Welt ihren Atem anhalten. Mein Magen zog sich zusammen und ich blickte reflexartig hoch, aber der Himmel war wolkenfrei. Die Herbstsonne lächelte auf mich herab, ihre Strahlen wärmten mein Gesicht, doch ich bekam trotzdem eine Gänsehaut. Wenn es kein Gewitter geben würde, wieso fühlte ich mich dann trotzdem so unbehaglich?

Das mit den Gewittern ist nämlich so eine Sache. Seit diesem Trauma im Kindergarten, zieht sich mein Magen kurz vor Gewittern immer zusammen. Ich bin sozusagen eine lebende Wettervorhersage. Damals waren wir nämlich draußen, da hat es plötzlich begonnen zu blitzen und zu donnern. Wir konnten aber nicht rein, weil die Putzfrau grad in unserem Raum war. Da war das Gewitter ja noch weiter weg, aber ehe wir es uns versahen, war es direkt über uns. Und dann war da ein Blitz, paar Zentimeter vor meiner Nase. Das Nächste, was ich wusste, war, dass ein Baum brannte. Der Rest ist alles verschwommen. Ich weiß nur mehr, dass ich die nächsten Nächte nicht einschlafen konnte vor Angst. Naja, und seitdem kann ich Gewitter nicht ausstehen. Ich habe zwar keine Angst mehr vor ihnen, aber dieses mulmige Gefühl im Bauch kriege ich trotzdem.

"Mann, Flora, nicht schon wieder!", murmelte ich, während ich mit großen Schritten den Berg hinuntereilte. Meine Pflegemutter hätte jetzt wahrscheinlich gesagt: "Wieso sagst du Mann und nicht Frau?" Ich lächelte bei dem Gedanken daran, doch schon bald verschwand mein Lächeln, als mir auffiel, dass es mir schon wieder passiert war. Wieso schweiften meine Gedanken ständig ab? Ich habe ja keine Ahnung, wie oft sowas anderen täglich passiert, aber ich schaffe es alleine auf dem Weg zur Schule so um die 20 mal. Mindestens. Und so lange ist mein Schulweg nicht mal. Und bis zum Abend ist die Liste endlos.

So ist das eben, wenn man Flora Emberstone heißt, und vor zwei Wochen 14 wurde. Meine Gedanken schweiften ständig ab, und seit der Diagnose wusste ich auch, wieso mir das ständig passierte. Ich habe ADHS - wie die Ärztin es damals verkündete. Wofür das steht, weiß ich leider nicht genau, obwohl meine Pflegemutter vergeblich versucht hat, es mir zu erklären. Irgendwas wie Aufmerksamkeitsdingsbums-Hyperirgendwas-Störung oder so ähnlich. Auf jeden Fall sorgt es dafür, dass ich von einem Gedanken zum nächsten springe, wie ein Eichhörnchen von einem Baum zum anderen. Aber vor allem heißt es, dass ich anders bin, als die anderen und das ist nicht immer einfach. Und die Tatsache, dass ich Pflegeeltern habe, macht es nicht gerade leichter.

"Konzentrier dich!", rief ich und eine alte Dame drehte sich nach mir um. Ich verdrehte die Augen. Wieso fanden es andere bloß so komisch, wenn ich mit mir selber sprach? Es nützte wirklich, solche Sachen laut auszusprechen. Ich ignorierte die Dame und versuchte stattdessen, angestrengt den Faden wieder aufzunehmen. Und dann spürte ich es wieder, dieses seltsame Gefühl. Da bemerkte ich auch noch, dass die Vögel nicht zwitscherten. „Sind die vielleicht schon weggeflogen?“, dachte ich mir. Aber nein, so weit war es noch nicht und selbst wenn, die kleinen Vögel hier blieben, die hätten ja trotzdem gezwitschert. Nein, es gab einen ganz anderen Grund, das spürte ich. Nur welchen? Die Stille legte sich wie eine schwere Decke über mich. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte. "Dieser Morgen ist wirklich unheimlich", dachte ich, als mich nur mehr ein Zebrastreifen und eine rote Ampel von der Busstation trennten. Und gerade dann kam der Bus.

Der rätselhafte Passagier

Ich hasse Montage! Sie sind die schlimmsten Tage der Woche! Und nicht nur, weil die Schule und damit auch das frühe Aufstehen wieder beginnt. Nein, eigentlich aus einem ganz anderen Grund. An Montagen geht mir nämlich immer etwas - meistens alles - schief. Sie sind eben meine Pechtage. Und dieser hier startete auch nicht besonders toll. Zuerst diese gruselige Stille und das seltsame Gewittergefühl, und jetzt war ich auch noch daran, den Bus zu verpassen. Na super!
Trotzig stellte ich mich schon mal in Laufposition, während ich zusah, wie der Bus in der Station zum Stehen kam. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich die Ampel der Autofahrer, die zu meiner Erleichterung blinkte, dann auf Gelb und schließlich auf Rot wechselte. Wenn ich Glück hatte, würde ich vielleicht sogar den Bus erwischen. Aber nur vielleicht. Meine ganze Konzentration war nun auf die Fußgängerampel gerichtet. Ich spürte, wie meine Muskeln sich anspannten, bereit loszurennen. "Nun komm schon, mach schon, werde endlich grün!", murmelte ich, während die Letzten in den Bus einstiegen. Ein Mann neben mir hob überrascht seine Augenbraue, sogar sein Hund schien mich misstrauisch zu mustern. Ich konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. Und dann wurde die Ampel endlich grün und ich sprintete los.

Nun, ich muss sagen, es ist nicht sonderlich leicht mit einer prallgefüllten Schultasche zu laufen, doch der kleine Funken Hoffnung, den ich noch hatte, gab mir Kraft. Ich rannte so schnell ich konnte, während sich die Türen des Busses mit lautem Piepsen schlossen. Keuchend kam ich schließlich vor der hintersten zum Stehen und drückte mindestens 50 mal auf den Türknopf. Zu meiner Erleichterung öffnete sich die Tür wieder und ich stieg schwer atmend ein. Puh, das war aber knapp. Da habe ich ja noch mal Glück gehabt. Naja, das war eben der Vorteil an meinen langen, schlaksigen Beinen. Sosehr ich sie mir manchmal wegwünschte, sie retteten mir manchmal einfach das Leben. Ich konnte nämlich so schnell rennen wie eine Gazelle - so hatte es mein Pflegevater formuliert.
Müde ließ ich mich auf einen freien Platz sinken. Ich fühlte mich, als wäre ich den Halbmarathon durchgesprintet, obwohl ich nur über einen Zebrastreifen gelaufen bin. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich so fokussiert gewesen war. Und da fiel es mir - wie immer im Nachhinein - auf. Wie hatte ich es bloß schon wieder geschafft, mich so zu konzentrieren, ohne, dass meine Gedanken abgeschweift waren? Dabei hatte ich doch Konzentrationsprobleme. Meine Pflegemutter hatte es mir ein paar Mal erklärt. Sie nannte es Hyperfokussierung oder so. Es hatte auch mit ADHS zu tun und erlaubte mir, mich in bestimmte Sachen sehr zu vertiefen und in bestimmten Situationen besonders fokussiert zu sein. Was ich überhaupt nicht checkte. Mal sorgte ADHS dafür, dass meine Gedanken ständig abschweiften und mal dafür, dass ich super konzentriert war. Für mich ergibt das überhaupt keinen Sinn. Aber es hatte auch keinen Sinn über sowas nachzudenken. Ich nahm lieber meine Schultasche ab, klemmte sie mir zwischen die Beine und machte es mir bequem.

Für einen Montag begann dieser Tag gar nicht so schlecht. Klar, das Gefühl heute Morgen war schon gruselig gewesen, aber, hey, ich hatte den Bus nicht verpasst! Zufrieden schaute ich aus dem Fenster und wartete. Worauf? Na, natürlich auf die Gedanken! Die Busfahrt war weder lang, noch kurz, also genau perfekt zum Nachdenken, sogar für jemanden wie mich. Und dazu musste ich nicht mal besonders viel tun, sondern mich einfach zurücklehnen und auf die Gedanken warten. Die machten sich schon selbstständig.
Plötzlich überkam mich wieder dasselbe Gefühl, wie am Weg zur Busstation. Ich schaute mich um und bemerkte, dass ein seltsamer Mann neben mir saß. Er war sehr blass, besonders um die spitze Nase. Er hatte einen schwarzen Anzug, schwarze Stiefel, eine schwarze Aktentasche, eine schwarze, verspiegelte Sonnenbrille und einen schwarzen Zylinder, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte an. Moment mal - Zylinder? Wer trug denn heute noch so etwas altmodisches? Ich schauderte und rückte weiter weg von ihm. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Mann mich beobachtete. Wie auf Stichwort drehte er sich zu mir um und starrte mich durch die Sonnenbrille an. Naja, das vermutete ich jedenfalls. Sicher konnte ich schließlich nicht sein. Trotzdem fühlte ich mich unbehaglich. Hatte dieser Typ etwa in meinen Gedanken gelesen?

Einen Moment lang starrten wir uns gegenseitig an. Schließlich, nach einer halben Ewigkeit brach der Mann die Stille. "Guten Tag junge Dame", sagte er und brachte ein schiefes Lächeln zustande. Ich wünschte, er hätte es nicht getan. Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Dieser Typ hatte eindeutig nicht viel Übung im Lächeln. Das war wohl eher ein Zähnefletschen. Und seine Zähne waren außerdem ganz kaputt und gelb. Igitt, wie grauslich! Schließlich legte ich großen Wert auf saubere Zähne, wie man an meinen strahlend weißen Zähnen unschwer erkennen konnte. Es war ein komisches Gefühl, gleichzeitig erschrocken und angeekelt zu sein und ich habe keine Ahnung, wie ich das zustande brachte. Auf jeden Fall hielt ich diesen schrecklichen Anblick nicht mehr länger aus und drehte mich im Zeitlupentempo zum Fenster um. Angestrengt versuchte ich, aus dem Fenster zu schauen, aber ich fühlte mich schrecklich unbehaglich. Dieser Mann beobachtete mich, ich spürte ganz genau seine eisigen Blicke im Rücken.

Zu dieser Geschichte gibt es 1 Kommentar

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Elli – 3. Februar 2025

Liebe Lili, danke für Deine spannende Geschichte und dafür, dass Du auf so leichte und humorvolle Weise über das Thema ADHS schreibst. Ich bin wirklich sehr gespannt darauf, was der Herr mit Zylinder und Sonnenbrille von Dir will. Bitte schicke Nachschub. Mit herzlichen Grüßen, Elli