Gewitternacht

Geschrieben von Motte

Vorwort

Hallo, ich bin Motte und würde mich sehr freuen, wenn diese kleine Geschichte auf der Website veröffentlicht wird und ich vielleicht ein paar Rückmeldungen dazu bekomme :)

Prolog

Es begann mit ein paar Tropfen, die vom grauen Himmel auf das dichte Blätterdach fielen. Schon eine ganze Weile hatte man zusehen können, wie sich graue Wolken vor die Sonne schoben und schließlich den Himmel bedeckten. Nun endlich schien es so weit zu sein.

Schnell prasselten immer mehr Tropfen auf die Erde nieder und durchdrangen nach und nach die schützenden Schichten der Blätter. Die Vögel waren schon lange verstummt und auch sonst war bis auf das stete Trommeln des Regens kein Laut zu vernehmen. Auch sehen konnte man niemanden, bis auf zwei Menschen, die sich, die Hände schützend über dem Kopf erhoben, auf der Suche nach einem Schutz vor dem Regen rennend einen Weg durch das Gestrüpp bahnten.

Immer dicker wurden die Tropfen und plötzlich ertönte ein Donnern. Kurz blieben die Menschen, ein Mann und eine Frau, vor Schreck stehen, liefen dann aber, als eine Weile darauf das grelle Licht eines Blitzes die nassen Pflanzen erleuchtete, gehetzt wieder los. Der Regen lief ihnen in Bahnen durch das Haar und über das Gesicht, und ihre Kleidung war völlig durchnässt. Ohne es zu merken bewegten sie sich auf einen gewaltigen Berg zu, der bedrohlich aus dem Wald herausragte.Wieder donnerte es und viel kürzer darauf als beim letzten Mal folgte der Blitz. Diesmal spaltete er einen hohen Baum, der lichterloh in Flammen aufging. Der rotorangene Schein des Feuers war bis zu den beiden Menschen zu sehen, die nun fast den Fuß des Berges erreicht hatten. Mit dem nächsten Donnerschlag stolperten sie auf steinigen Grund und als etwa eine halbe Minute darauf ein gezackter Blitz den Himmel erhellte begann das Paar bereits verzweifelt bergan zu hetzen.

Mittlerweile brannte ein weiterer Baum, auch wenn das Feuer dank des strömenden Regens Schwierigkeiten hatte sich auszubreiten. Ein Felsvorsprung bot sich als passender Unterschlupf für den Mann und die Frau, die sich darin vor Kälte und Nässe zitternd aneinander drängten. Den Donner, der kurz darauf erklang trennten nur ein paar Sekunden vom Blitz, von dem nur wenig zu erkennen war, da der Regen jegliche Sicht verhinderte.
Der nächste Blitz schlug direkt auf der Spitze des Berges ein und wurde von einem ohrenbetäubenden Donnern und Krachen begleitet. Gesteinsbrocken in der Größe von Elefanten flogen durch die Luft und rissen die Bäume, auf deren Wipfeln die landeten, um. Auch der Felsvorsprung wurde von Geröll erfasst und begrub die beiden Menschen unter sich.

Es schien, als würde der Berg aufbrechen. Hätte jetzt jemand den Berg aus einiger Entfernung beobachtet, dann hätte er die gewaltige glühende Silhouette, die sich daraus emporhob und streckte erkannt. So aber blieb sie ungesehen. Einzig ihr grausames Brüllen war bis weit hin zu vernehmen und ließ die Umgebung in Angst und Schrecken erstarren.

Kapitel 1

Viele Meter entfernt schreckte ein Mädchen aus dem Schlaf. Verwirrt öffnete sie die Augen und tastete im dunkeln nach dem Schalter der Nachttischlampe. Sie hieß Perdita und war 12 Jahre alt. Müde rieb sie sich über das Gesicht und setzte sich im Bett auf. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte 10:24 an und durch die Wand zum Zimmer ihres großen Bruders drangen Geräusche des Fernsehers. Perdita schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Verschlafen tapste sie zum Fenster und schob den Vorhang ein Stück zur Seite um nach draußen schauen zu können. Auf der Straße war bis auf eine schwarze Katze, die in einem Hauseingang saß und sich die Pfoten leckte niemand zu sehen. Das einzige Licht kam von einigen Straßenlaternen und ihre Spiegelungen auf dem nassen Asphalt verrieten, dass es vor kurzer Zeit noch heftig geregnet hatte. Beim Anblick der vielen Tropfen an der Fensterscheibe schweiften Perditas Gedanken sofort zu ihren Eltern, die für ein paar Tage in die naheliegenden Wälder um Zelten gefahren waren. Hoffentlich hatte es bei ihnen nicht auch geregnet! Für die Zeit dieses kurzen Urlaubs hatten Perdita und ihr Bruder Aaron das Haus ganz für sich allein gehabt. Dennoch freute sich Perdita auf die Rückkehr ihrer Eltern am nächsten Tag, da Tiefkühlpizza und Mikrowellenessen zwar ab und zu toll war, man es auf Dauer aber irgendwann nicht mehr sehen konnte. Mit einem leisen Seufzer setzte sich Perdita auf die Fensterbank, zog ihre Beine an sich und beobachtete die Tropfen, die an der Scheibe ihre Bahnen zogen und auf dem Weg weitere, kleinere Tropfen einsammelten. Erst viel später schlief sie mit dem Kopf am harten Fensterrahmen ein.

Am späten Nachmittag des nächsten Tages saß Perdita unruhig auf ihrem Bett und rief zum wiederholtem mal ihre Elten an. Wieder erreichte sie niemanden. Frustriert und etwas nervös legte sie das Handy zur Seite und rieb sich den Nacken, der seit sie am Morgen auf der Fensterbank aufgewacht war wehtat. Eigentlich hatten Perditas Eltern gegen 13:00 Uhr ankommen wollen, doch jetzt war es schon nach fünf und immer noch waren sie nicht aufgetaucht. Hibbelig sprang Perdita vom Bett auf und lief zum Zimmer ihres Bruders. Dort angekommen klopfte sie. Sie musste eine Weile warten dann schob sich sein verstrubbelter Kopf durch die Tür.
Genervt sah er sie an:„ Was ist?“, fragte er.
„Mama und Papa sind immer noch nicht da, dabei wollten sie doch schon mittags hier sein“, sprudelte es aus Perdita heraus.
„Na und?“, Aaron sah sie verständnislos an.
„Ich kann sie nicht erreichen!“, sagte Perdita eindringlich.
„Die werden schon noch kommen. Bestimmt sind sie einfach nur etwas später losgefahren oder wollen noch einen Tag bleiben. Mach dir keine Sorgen“, versuchte Aaron sie halbherzig zu beruhigen.
Es funktionierte nicht.
„Bei dem Wetter!? Und außerdem hätten sie dann ganz sicher angerufen“, erwiderte Perdita skeptisch
„ Können wir nicht zu ihnen fahren? Du weißt doch wo sie sind. Was, wenn ihnen etwas passiert ist?“
„Nein können wir nicht! Erstens wäre das total übertrieben und zweitens muss ich lernen“, mit diesen Worten wollte er ihr die Tür vor der Nase zumachen, was ihm jedoch nicht gelang, da Perdita den Fuß dazwischen gestellt hatte. Sie wusste, dass ihr Bruder keine Zeit hatte, immerhin machte er bald sein Abitur, aber alleine konnte sie nunmal nicht zu ihren Eltern fahren.

Es dauerte noch eine Weile, dann hatte sie Aaron so weit, dass sie, wenn ihre Eltern nicht innerhalb der nächsten Stunde auftauchten oder anriefen, nach ihnen sehen würden.

Natürlich gab es kein Zeichen und so saßen die Geschwister eine Stunde später im Auto und fuhren am Ortsausgangsschild vorbei. Je weiter sie sich von der Stadt entfernten und je näher sie den Wäldern kamen, desto mehr Geäst und Blätter lagen auf den noch feuchten Straßen. Hier musste es sehr stürmisch gewesen sein, dabei hatte der Wetterdienst doch Sonnenschein und Windstille versprochen. Die Sonne sank immer tiefer und als sie endlich den Parkplatz erreicht hatten herrschte Dämmerung. Außer ihnen parkten nur zwei weitere Autos hier. Das eine sah sehr alt und rostig aus und schien jederzeit auseinanderzufallen. Das andere gehörte ihren Eltern. Sofort sprang Perdita aus dem Auto und lief zu dem ihrer Eltern hinüber. Sie linste durch die Fenster und rüttelte an den Türen. Sie waren verschlossen.
„Und hast du etwas gefunden?“, fragte Aaron.
Perdita schüttelte den Kopf :„Nein das Auto ist zu und ich glaube sie waren seit sie hier angekommen sind nicht mehr da, weißt du, wo ihr Zelt ist?“.
„Nee keine Ahnung und wir werden es auch ganz bestimmt nicht suchen das kannst du dir gleich abschminken“, antwortete Aaron.
Perdita sah ihn fragend an :„Warum?“.
„Warum?!“, ihr Bruder sah sie ungläubig an:„ Was glaubst du, wie groß das Gebiete hier ist? sie zu suchen würde ewig dauern!“
„Aber wir müssen sie suchen. Wenigstens so lange, bis es ganz dunkel ist“, bettelte Perdita.
Aaron raufte sich die Haare :„Na gut aber dann fahren wir wieder nach Hause ich will echt nicht im dunkeln durch den Wald laufen!“.
Perdita nickte eifrig.

Nachdem sie nochmal bei ihren Eltern angerufen hatten (auch diesmal ohne Erfolg) machten sie sich auf den Weg. Zunächst blieben sie auf einem großen Wanderweg, verließen diesen jedoch bei der ersten Gelegenheit, da sie sich sicher waren, dass ihre Eltern das Zelt an einem abgeschiedeneren Ort aufgeschlagen hatten. Nach einer Weile ging auch von diesem Weg ein weiterer, kleinerer ab und die Geschwister folgten ihm. Noch ein paar mal bogen sie ab, bis es schließlich immer dunkler wurde und sie beschlossen zum Auto zurückzukehren. Sie bemerkten schnell, dass sich das als schwieriger als erwartet herausstellte, da sie durch das ständige Abbiegen irgendwann die Orientierung verloren hatten. Zu Anfang waren sie noch zuversichtlich in die richtige Richtung zu laufen, als sie jedoch immer weniger erkennen konnten und die Umgebung ihnen immer unbekannter vorkam, sahen sie schließlich ein, sich verlaufen zu haben. Unsicher blieben sie stehen. Perdita blickte sich ängstlich um und rückte näher an ihren Bruder heran. Da die beiden sich sicher waren an diesem Tag nicht mehr zurück zum Auto zu finden sondern sich nur noch weiter zu verlaufen, beschlossen sie die Nacht hier zu verbringen. Es würde zwar kalt und auch etwas gruselig werden, doch allzu gefährlich konnte es nicht sein, schließlich hatten ihre Eltern in der letzten Zeit auch hier übernachtet. So liefen sie noch eine Weile, bis sie einen geeigneten Platz fanden, an dem sie sich niederließen.

Von allen Seiten drangen Geräusche auf sie ein. Da waren das Rascheln und Knacken im Unterholz, das Rauschen des Windes in den Bäumen und die Laute aller möglichen Waldbewohner vom Piepen einer Maus, bis zum Grunzen eines Wildschweins. Einmal glaubte Perdita sogar in der Ferne das Heulen eines Wolfes zu hören. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.

Es dauerte noch lange, bis Perdita einschlief, aber schließlich tat sie es doch noch. Dicht an ihren Bruder gekuschelt und mit den Geräuschen der Nacht im Ohr.

Erst viel später erwachte sie wieder. Ihr war kalt, doch das war es nicht, was sie geweckt hatte. Der wahre Grund war eine Gestalt, die wütend mit einer tiefen, rauen Stimme vor sich hinmurmelte und etwas am Boden untersuchte. Sie stand nur ein paar Meter entfernt, schien von den Geschwistern aber nichts gemerkt zu haben.

Stocksteif vor Angst saß Perdita da und wusste nicht, was sie tun sollte. Das einzig sinnvolle, was ihr einfiel war Aaron zu wecken. Also richtete sie sich so leise, wie sie nur konnte ein Stück auf. Sie wollte sich gerade etwas zur Seite drehen, da zerbrach ein Stock unter ihrer Hand. Wie ein Pistolenschuss hallte das Geräusch durch die nächtliche Stille. Mit vor Schreck geweiteten Augen saß Perdita da und beobachtete, wie sich die Gestalt aufrichtete, umsah und dann mit bedrohlich langsamen Schritten auf sie zukam.

Kapitel 2

Immer weniger trennte die Gestalt von den Geschwistern und mit jedem Schritt, den der Fremde auf sie zutrat, krallten sich Perditas Fingernägel tiefer in Aarons Arm. Am Rande ihres Bewusstseins wunderte sie sich, dass er noch nicht längst aufgewacht war.

Einen halben Meter vor ihnen entfernt blieb der Fremde stehen. Seine Silhouette ragte hoch über ihnen auf und der abnehmende Mond hinter ihm warf seinen Schatten direkt auf die Geschwister. Perdita konnte das Gesicht der Person nicht erkennen, da sie es unter einer Kapuze verbarg, doch dafür hörte sie ihren Atem, der zwar ruhig und gleichmäßig ging, ihren Körper aber dennoch ganz kalt werden ließ. Der Fremde war eindeutig ein Mann, das verriet seine Statur, die muskulös und geschmeidig zugleich wirkte.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, in der sich die Beiden nur anstarrten und nicht regten; auf der einen Seite Perdita, an den Wurzeln eines Baumes sitzend, dicht an ihren Bruder gedrängt, und auf der anderen Seite der Fremde, breitbeinig vor ihr stehend und mit den Händen tief in den Taschen seines Mantels. Dann, endlich hob der Fremde eine Hand und schob die Kapuze zurück. Dies tat er ebenso langsam, wie er zuvor auf sie zugekommen war. Nun konnte man seine Haare erahnen. Die meisten waren streng zurückgezogen, nur ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihm ins Gesicht.
Als er die Hand wieder in der Manteltasche versenkt hatte, begann er schließlich zu sprechen: „Wer bist du und was suchst du hier?“.
Perdita schien unter dem Klang seiner einschüchternden Stimme förmlich zu schrumpfen.
Sie brauchte ein paar Anläufe, dann krächzte sie kaum hörbar: „P...Perdita ich“, sich schluckte einmal laut: „… wir haben uns verlaufen.“
Der Fremde nickte bedächtig, er schien zu überlegen.
„Und wer ist der junge Mann neben dir?“
Er zeigte auf den schlafenden Aaron. Kurz schoss es Perdita durch den Kopf zu lügen, doch dazu fand sie einfach nicht den Mut und außerdem hatte sie das Gefühl, dass der Fremde sie ohnehin durchschauen würde. Es kam ihr vor, als würde sein Blick sie durchdringen.
Also öffnete sie wieder den Mund und antwortete diesmal ein wenig lauter: „Das ist mein Bruder, er heißt Aaron.“
Wieder nickte der Fremde und wieder dachte er nach, dann sagte er unerwartet: „Versuch noch ein wenig zu schlafen, es dauert nicht mehr lange, bis die Sonne aufgeht und der morgige Tag wird lang werden. Du solltest ausgeschlafen sein.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und lief wieder zu der Stelle, wo Perdita ihn das erste Mal gesehen hatte.

Wie in Trance nickte sie.

In dieser Nacht würde sie nichts und niemand wieder zum Einschlafen bringen. Das dachte Perdita zumindest, doch am nächsten Morgen erwachte sie aus einem tiefen Schlaf. An einen Traum konnte sie sich nicht erinnern. Obwohl, sie hatte das Bild einer furchteinflößenden Gestalt, die mit ihr geredet hatte, vor Augen, bei Nacht, im Wald. Je näher sie darüber nachdachte, desto klarer wurden die Erinnerungen. So klar, dass die Illusion, dass die Ereignisse ein Traum gewesen waren, augenblicklich zerplatzte. Vorsichtig öffnete Perdita die Augen. Richtig, sie saß im Wald. Über ihr raschelten die Blätter und zu ihrer linken schnarchte ihr Bruder. An ihrem Rücken spürte sie die Rinde des Baumes und ihr rechtes Bein war eingeschlafen. Nur von dem Fremden war nichts zu sehen, jedenfalls auf den ersten Blick. Perdita hatte schon erleichtert aufgeatmet, da sah sie ihn. Er saß mit gesenktem Kopf im Schatten einer großen Kiefer und blickte ihr direkt in die Augen. Sie konnte sein Gesicht zwar nicht erkennen, dennoch war sie sich dessen vollkommen sicher. Erschrocken richtete sie sich auf und presste sich gegen den Baumstamm. Der Fremde erhob sich und ging auf sie zu. Von einem plötzlichen Gefühl getrieben stand Perdita ebenfalls auf. Beinahe knickte sie um, doch es gelang ihr auf wackeligen Beinen das Gleichgewicht zu halten. Zu ihren Füßen lag immer noch ihr Bruder und schlief seelenruhig. Den Blick starr auf den Fremden gerichtet stupste sie Aaron mehrmals an. Zu Anfang leicht, dann als er nicht aufwachte immer fester.
„Spar dir die Kraft, er wird nicht aufwachen“, der Fremde hatte wieder die Kapuze aufgesetzt, die von seinem Gesicht nichts zu erkennen übrig ließ.

Er blieb stehen: „Komm, ich sagte doch bereits es wird ein langer Tag werden. Wir müssen los.“
Perdita bewegte sich nicht einen Millimeter. Sie sammelte all ihren Mut, dass fragte sie mit brüchiger Stimme: „Warum wird er nicht aufwachen und wer sind sie überhaupt?“.
Der Fremde sah sie unverwandt an: „Er ist zu alt und nenn mich einfach Dorran.“
Perdita sah irritiert zurück: „Was meinen sie damit?“, ihre Stimme zitterte ganz leicht.
„Das erkläre ich dir zu einem anderen Zeitpunkt, komm jetzt es ist schon viel zu spät“, der Fremde wandte sich zum gehen, doch Perdita stand immer noch da und sah ihn nur an.
„Ich zeige dir, wo deine Eltern sind, du suchst sie doch, nicht wahr?“
Perdita nickte leicht. Diese Worte schienen sie umzustimmen. Sie machte zögerlich einen Schritt nach vorne.
„Aber was passiert mit Aaron?“.
„Er wird so lange schlafen, bis ich ihn wecke. Ihm wird nichts passieren“, fügte der Fremde noch hinzu, so als wüsste er, dass Perdita genau das hören wollte.
Aus irgendeinem ihr unergründlichen Grund glaubte sie ihm. Sie machte ein paar weitere Schritte auf ihn zu. Mit jedem wuchs ihre Angst vor ihm ein wenig mehr, doch sie lief tapfer weiter. Als sie nicht mehr weit von ihm entfernt war blieb sie auf einmal abrupt stehen. Vor ihr am Boden war ein riesiger schwarzer Fleck. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es sich um verbrannten Waldboden handelte. Alles; Laub, Stöcker, Bäume und jegliches Gestrüpp, waren nicht mehr da.

Mit großen Augen besah sie sich die mit feuchter Asche überzogene Stelle. Zuerst war es ihr gar nicht aufgefallen, nun aber stellte sie fest, dass den verbrannten- eine saubere Kante vom bewaldeten Boden trennte. Perdita war sich ganz sicher; das hier hatte sich Dorran in der letzten Nacht angesehen.
Fragend hob sie den Kopf und vergaß fast ihre Angst vor dem Fremden:„ Was ist hier passiert?“
„Komm mit, dann werde ich es dir erzählen“, Perdita glaubte eine Spur Ungeduld aus der kalten Stimme herauszuhören.
Sie konnte sich nicht erklären, woher ihr Entschluss kam, doch sie spürte, wie sich ihre Beine wieder in Bewegung setzten, um den verbrannten Bereich herum liefen und dem Fremden in den Wald folgten.

Weg von ihrem Bruder und weg von einem Weg.

Einige Stunden lang liefen sie schweigend durch die Bäume. Zuerst kam der große, muskulöse Mann und dann in ein paar Metern Abstand Perdita.

Der Boden, über den sie gingen, wurde immer überwucherter und das Gestrüpp immer dichter. Perdita schlug sich tapfer, dennoch musste sie immer wieder Pausen einlegen, gerade dann, als sie anfingen immer steiler bergan zu wandern. Es war eine äußerst mühselige Angelegenheit.

Irgendwann blieb Dorran stehen und Perdita wischte sich erleichtert den Schweiß von der Stirn. Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel und auch wenn die hohen Bäume Schatten spendeten, war es am Boden unglaublich heiß und schwül.

Perdita ließ sich auf einem großen Gesteinsbrocken nieder. Ihr war nicht nur schrecklich heiß, sie war außerdem erschöpft und hatte großen Hunger. Immerhin war sie seit dem Morgen auf den Beinen und hatte noch nichts gegessen.

Ganz so, als hätte er ihre Gedanken gelesen kam Dorran auf sie zu und und reichte ihr sowohl ein Stück Brot, als auch eine Flasche Wasser.

Hin und hergerissen zwischen Skepsis und Hunger beäugte sie den Fremden.
„Iss, ich werde dich nicht vergiften“, sage er und wandte sich wieder zum gehen: „Kannst du dabei laufen?“.
Eigentlich war Perdita viel zu müde, doch sie traute sich nicht mit einem Nein zu antworten. So stemmte sie sich wieder hoch und trottete weiter.

Ihr Weg wurde schnell steiler und der Untergrund steiniger. Der Wald schien mit jedem ihrer Schritte lichter zu werden, dafür lagen immer mehr Brocken aus Stein herum. Als kaum noch Bäume auf dem felsigen Grund Halt fanden ,hielt der Fremde wieder an. Er stand direkt vor einigen großen Steinen.
„Du wolltest wissen, wo deine Eltern sind?“.
Perdita sah ihn stirnrunzelnd an. Sie hatte das Gefühl, dass sie das, was er ihr gleich offenbaren würde nicht wissen wollte. Dennoch wiegte sie langsam den Kopf auf und ab.
Dorran musterte sie nachdenklich:„ Dann tritt einen Schritt zur Seite.“
Perdita gehorchte und beobachtete, wie er ihr folgte, ein wenig weiter vor ihr zum stehen kam, sich zu dem Steinhaufen umdrehte und die Kapuze vom Kopf schob. Nun konnte Perdita endlich seine Haare erkennen. Sie waren schwarz und glatt und er hatte sie am Hinterkopf zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden. In seinem Nacken lagen ein paar Strähnen, die sich befreit hatten.

Der Fremde senkte den Kopf, so schien es Perdita zumindest, auch wenn sie sein Gesicht nicht sehen konnte, und fixierte das Geröll mit den Augen.

Eine Weile passierte gar nichts, dann, wie aus dem Nichts, lösten sich ein paar der unteren Steine und rollten den Hang hinunter. Es folgten weitere, bis sich schließlich eine donnernde Lawine ergab. Verschreckt stolperte Perdita ein paar Schritte zurück und hielt sich die Arm vors Gesicht. Erst als das Rumpeln verklang wagte sie wieder hinzusehen.

Die Luft war von Staub erfüllt und Perdita musste ein paar mal husten. Dann lief sie auf die nun freie Stelle zu. Sie konnte Dorrans Umriss erkennen, der auf dem Boden kniete. Sie wagte sich näher, bis sie neben ihm stand. Unmittelbar vor ihnen erhob sich eine Felswand.

Zu ihren Füßen lagen zwei Körper.

Bei ihrem Anblick vergaß Perdita alle Fragen, die sie Dorran noch kurz zuvor hatte stellen wollen.

Es war ihr egal, was die Lawine ausgelöst, oder woher der Fremde gewusst hatte, dass sie hier suchen mussten. Das einzige, was zählte waren die beiden leblosen, staubbedeckten Leiber mit ihren seltsam abgewinkelten Gliedern und dem getrockneten Blut auf der Haut.

Das hier waren ihre Eltern.

Sie hatte sie gefunden, jedoch ganz anders, als sie es erwartet hatte.

Perdita hob die Hand zum Mund um einen Schluchzer zu ersticken. Die Welt um sie herum verschwand hinter einem Schleier aus Tränen. Das Letzte, was sie mitbekam war, dass sie kraftlos zu Boden sank.

Dann verlor sie dankbar das Bewusstsein.

Kapitel 3

Als Perdita wieder zur Besinnung kam, spürte sie als erstes eine große, kalte Hand in ihrem Nacken, die ihren Kopf stützte. Dann merkte sie den steinigen Boden, der ihr unangenehm in den Rücken drückte und schließlich beschlich sie das merkwürdige Gefühl von einem stechenden Blick durchleuchtet zu werden. Erschrocken schlug sie die Lider auf und glotzte für ein paar Sekunden in eisige, blaue Augen.

Solche Augen hatte sie noch nie gesehen. Auf den ersten Blick wirkten sie ganz normal, jedoch nur so lange, bis einen die Unnahbarkeit und lähmende Kälte, die von ihnen ausging, erwischte. Perdita wurde fast wieder schwarz vor Augen. Erst, als sie die tiefe Stimme fluchen hörte und dann die Kapuze sah, die schnell in das Gesicht und über die Augen gezogen wurde, wusste sie, dass es der Fremde war. Ein Anflug von irrationaler Erleichterung überkam sie, die sofort wieder verschwand, als sie sich erinnerte, wo sie war und was kurz zuvor (oder war viel Zeit vergangen?) geschehen war. Augenblicklich wurden ihre Glieder etwas schwerer und ihr Gehirn weigerte sich auch nur einen Gedanken zu fassen, der zuließ, dass die schrecklichen Ereignisse zur Realität wurden. Am liebsten hätte Perdita einfach wieder das Bewusstsein verloren. Leider nur funktionierte das nicht, denn die Hand in ihrem Nacken zwang sie sich aufzusetzen. Schlaff und wie betäubt ließ Perdita sie gewähren und fand sich kurz darauf mit dem Rücken gegen den Fels gelehnt wieder. Von hier aus konnte sie die Unglücksstelle zum Glück nicht sehen, was sie immerhin ein wenig erleichterte.

Lange, so kam es Perdita zumindest vor, saß sie so da und spürte, wie die Wahrheit Stück für Stück, wie dicke, schwere Steine auf sie einstürzte. Ihre Eltern lebten nicht mehr, sie waren tot, sie waren von Felsen erschlagen worden.

Bald kamen die Tränen zurück. Zu Anfang liefen sie Perdita stumm über die Wangen, dann wurden sie immer zahlreicher und schließlich wurde Perditas Körper von heftigen Schluchzern geschüttelt. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatte, doch irgendwann setzte die Erschöpfung ein und die Tränen versiegten und ließen nichts, bis auf salzige Spuren und ein zerbrochenes Mädchen zurück.

Dorran hatte sie die ganze Zeit in Ruhe gelassen, nun aber kam er vorsichtig auf sie zu und kniete sich vor ihr hin.
„Es tut mir aufrichtig Leid, was mit deinen Eltern geschehen ist.“ Seine Stimme klang beinahe sanft. „Ich weiß, was für ein Schock das für dich sein muss, glaub mir das weiß ich. Aber was wäre, wenn ich dir helfen könnte, ihren Tod ungeschehen zu machen?“. Perdita sah ihn verwirrt an. Ganz langsam drangen seine Worte durch die Watte, die ihr Gehirn zu umschließen schien. Je mehr sie von ihrem Sinn erfasste, desto größer wurden ihre Augen. „Das können sie?“.

Die Hoffnung, die Perditas Herz erfasste, ließ praktisch gar keinen Zweifel zu und die leise Stimme verstummen, die ihr unaufhörlich zuflüstern wollte, dass niemand die Toten zurück ins Leben holen konnte. Außerdem beschlich sie wieder das merkwürdige Gefühl, keine Wahl zu haben, als dem Fremden zu glauben.
Dorran nickte bedächtig. „Wenn wir unseren Weg fortsetzen und sofort aufbrechen…“

Wie aus dem Nichts war Perdita voller Tatendrang. Sie rappelte sich auf, fuhr ein paar mal mit den Fingern durch die Haare und sah den Fremden (sie wusste nicht, warum sie ihn immer noch so nannte, denn so fremd war er ihr gar nicht mehr) erwartungsvoll an. Beinahe glaubte sie zu spüren, wie ein Lächeln unter der Kapuze entstand und daraus hervorleuchtete, jedenfalls bildete sie sich das ein.

Dann setzten sie ihren Weg fort. Dank ihrer Hoffnung und etwas Brot und Wasser hielt Perdita gut durch auch, wenn sie äußerst steil bergan kraxelten und keine Bäume mehr Schatten spendeten. Zum Glück stand die Sonne schon sehr tief.

Nach einiger Zeit, in der sie geschwiegen hatten und Perdita Dorran hinterhergehechelt war, wurde es ihr zu still und sie fragte: „Wie wollen sie meine Eltern zurückbringen?“. Mittlerweile hatte sie so gut wie keine Angst mehr vor ihm.
„Ich weiß, wodurch sie gestorben sind“, antwortete Dorran in seiner rätselhaften Art. Perdita standen zwei große Fragezeichen in den Augen.
„Das weiß ich auch, sie…“, Perdita holte tief Luft, es fiel ihr schwer es auszusprechen „ …sie sind von Steinen erschlagen worden, aber wobei hilft das?“. Es blieb so lange still, dass Perdita schon dachte, sie würde keine Antwort mehr bekommen, doch da sagte Dorran: „Was denkst du, warum sie genau an diesem Ort waren, fernab von einem Weg, und die Steine, denkst du sie sind einfach so abgebrochen und ins Rollen gekommen?“.
Perdita zuckte mit den Schultern während sie versuchte, nicht zu weit hinter Dorran zurückzubleiben, was immer schwieriger wurde, da der Weg mehr und mehr Klettern verlangte.
„Ich weiß nicht, aber solche Unfälle passieren doch ab und zu.“
Dorran blieb stehen und drehte sich zu ihr um: „Das war kein Unfall, glaub mir, ich kenne den Grund und es ist ein anderer.“
„Und woran liegt es dann?“ Noch bevor Perdita die Frage zuende ausgesprochen hatte wusste sie, dass Dorran ihr darauf nicht antworten würde, zumindest noch nicht und sie hatte Recht.
„Das wirst du später erfahren, aber jetzt müssen wir erstmal den Gipfel des Berges erreichen, bevor die Sonne untergeht“, kam es zurück. Damit war das Gespräch beendet und es ging ohne eine Unterhaltung weiter.

Als sie oben ankamen war die Sonne kurz vor dem Untergehen. Auf den letzten Metern war die Strecke immer beschwerlicher und gefährlicher geworden, und nachdem Perdita sich endlich das letzte Stück hochgezogen und erschöpft fallen gelassen hatte, war ihr Körper schweißgebadet.

Dorran schien keine Pause zu brauchen, er lief geradewegs weiter und blieb vor etwas stehen. Es dauerte nicht lang und schon konnte Perdita ihn wieder fluchen hören. Müde, aber erleichtert am Ziel angekommen zu sein kämpfte sie sich auf die schlappen Beine und gesellte sich zu Dorran. Dort angekommen sah sie, worüber er geflucht hatte und schnappte erstaunt nach Luft.

Es war ein gewaltiges, tiefes, dunkles Loch. Perdita konnte den Boden nicht erkennen, doch sie war sich sicher, dass er mindestens zwanzig, dreißig Meter unter ihnen lag. Der Umfang des Loches umfasste fast den gesamten Gipfel. Es schien, als sei die Spitze des Berges einfach verschwunden und habe diese Höhle freigelegt. Ein Schauder lief Perdita über den Rücken. Was war hier passiert?

Sie riss den Blick von der dunklen Tiefe los und sah Dorran fragend an. Dieser schien sie jedoch gar nicht zu bemerken. Er hatte aufgehört zu fluchen und stattdessen den Kopf nach Westen gewandt, wo die Sonne kurz vor dem Untergang war. Perdita tat es ihm nach.

Zuerst fiel ihr die wunderschöne Aussicht auf. Weithin sah man die vielen Grüntöne der Baumwipfel, die vom Licht der untergehenden Sonne angestrahlt wurden. Ab und zu ragte ein Felsen aus dem grünen Meer herraus und reflektierte das Gold der Sonne.

Dann stachen ihr die vielen, leeren, schwarzen Flecken zwischen den Bäumen ins Auge. Der erste lag gar nicht weit vom Berg entfernt und war der Anfang einer langen Kette, die fast wie Fußspuren im Sand aussah und bis zum Horizont führte. Ganz am Ende der Spur, direkt vor dem glühend roten Ball, der die Sonne war, bewegte sich ein riesenhaftes Etwas.

„Was... was ist das?“, fragte Perdita erschrocken.
„Das“, sagte Dorran mit ruhiger Stimme und schirmte sich die Augen mit der Hand ab, „ist der Grund für den Tod deiner Eltern.“

Kapitel 5

Mit großen Augen und von Zweifeln durchtränkt starrte Perdita Dorran an. Wie meinte er das? Was war das überhaupt und wie konnte es für den Tod ihrer Eltern verantwortlich sein? Dorran schien ihr verwirrtes Gesicht zu bemerken, denn er setzte zu einer Erklärung an.

"Was genau es ist, ist schwer zu sagen, fest steht, dass es ein lebendes Wesen ist." Er überlegte kurz, dann fügte er mit düsterer Miene hinzu: "Es kommt… wir kommen von weit her und… und ich habe es erschaffen."

Noch nie zuvor hatte Perdita Dorran in einem Satz stocken hören. Er sagte immer alles klar und deutlich, doch dieses Zugeständnis musste ihm unglaublich schwer fallen. Kein Wunder, so wie Perdita das sah. Es dauerte eine Weile, bis sie den Sinn seiner Worte fassen konnte. Jedoch hatte sie schon seit dem Moment, wo er des Nachts auf sie zugekommen war, gespürt, dass er anders war und war so von seiner Antwort etwas weniger geschockt. Gerade wollte sie dazu ansetzen Fragen zu stellen, um sich mehr Informationen zu beschaffen, da fuhr Dorran fort.

"Es ist schon lange her, dass ich es erschuf, das war nicht mal auf dieser Welt und ich bereue es zutiefst. Gäbe es einen Fehler, den ich ungeschehen machen könnte, so wäre es dieser."

Das wurde immer merkwürdiger, doch seltsamerweise kam es Perdita gar nicht so vor. Viel mehr war es, als hätte sie das alles schon gewusst, seit sie ihm zum ersten Mal begegnet war und hätte nur noch nicht darüber nachgedacht.

"Und woher kommen sie dann und… und wie meinen sie das?", fragte Perdita und wunderte sich, dass sie die erste Frage noch nicht längst gestellt hatte. Es beschlich sie das eigentümliche Gefühl, als hätte Dorran irgendwie verhindert, dass sie darüber nachdachte oder gar sprach und es erst jetzt zugelassen.

"Ich kann nicht viel sagen, denn es wurde mir sehr wirksam verboten, aber so viel geht: Ich komme aus einer anderen Welt, wo wir Dinge, die euch nicht möglich sind, z.B. etwas anderes zu steuern oder zu beeinflussen, tun können. Ihr würdet es als übernatürlich bezeichnen. Das einzige, was wir dafür brauchen, ist etwas Wissen von dem, worum es geht und Blickkontakt."

Perdita lief ein Schauder über den Rücken. Es machte Sinn. Hatte Dorran sie nicht gleich als erstes gefragt, wer sie und ihr Bruder waren und was sie in der Nacht im Wald taten? Und war Aaron nicht erst dann nicht mehr aufgewacht, als Dorran etwas über ihn wusste? Und diese ständigen unerklärlichen Gefühle, dass sie ihm glaubte oder vertraute, ohne zu wissen warum sie das eigentlich tat? Argwöhnisch sah Perdita Dorran von der Seite an: "T... tun sie das jetzt auch? Laufe ich deshalb nicht schreiend weg?".

Perdita glaubte ihn glucksen zu hören, doch dann sagte er ganz ernsthaft: "Nein Perdita, das kommt voll und ganz von dir selbst, glaub mir, du hast viel Mut und ein gutes Gespür dafür, was richtig und was falsch ist."

Perdita wollte gerade etwas erwidern, da sprach Dorran weiter: "Das ermöglichte mir, es", er machte eine wage Handbewegung in die Richtung des Wesens, das immer noch erstarrt am Horizont stand, "zu erschaffen, denn du musst wissen, ich war, bzw. bin immer noch sehr stark, heute demonstriere ich es nur nicht mehr. Das habe ich in meiner Jugend für alle Zeiten genug getan."

Es kam Perdita so vor, als hingen sein Kopf und die Schultern ein wenig mehr.

"Damals war ich sehr übermütig, ich wollte allen zeigen, was ich konnte und wie viel mächtiger ich als sie war. Das war ich auch, doch so unendlich viel dümmer." Für einige Zeit vergrub Dorran den Kopf in den Händen.

Irgendwann fragte Perdita vorsichtig mit leiser Stimme: "Und was haben sie nun getan? Ich meine, was ist passiert, wieso entstand es?".

Dorran ließ die Hände sinken, richtete sich etwas auf und straffte die Schultern: "Es war kurz nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte. Ich fühlte mich mächtiger und stärker, als ich es mir jemals erträumt hatte, ich fühlte mich, als könne ich alles schaffen. Also beschloss ich, etwas Gewaltiges, etwas Unvergessliches zu vollbringen. Und das tat ich. Wie ich vorging kann ich dir nicht erklären, denn es ist unglaublich kompliziert und vieles weiß ich selbst nicht mehr, doch am Ende war es da. Ich dachte, ich hätte es geschafft, denn es war gewaltig und es war unvergesslich und allein ich konnte es kontrollieren, doch das Gefühl dieser unbändigen Macht tat mir nicht gut. Es stieg mir zu Kopf und brachte immer mehr Schlechtes an mir zutage. Ich mutierte zu einem Monster und richtete viel, viel Unheil an. Erst heute ist mir klar, dass es", wieder ein Wedeln mit der Hand zum Horizont, "nichts als eine Verkörperung des Schlechten in mir ist, doch hinterher ist man immer schlauer. Nach und nach wurde die Spur der Verwüstung, die wir, oder besser ich mit meiner Erschaffung als Werkzeug hinterließen immer auffälliger, bis es den wichtigsten aus meinem Volk zu viel wurde. Sie gingen zu mir und drohten, dass, sollte ich das Wesen nicht verschwinden lassen, sie uns beide verbannen würden. Naiv wie ich war nahm ich sie nicht ernst, ich dachte, niemand könne mir etwas anhaben. Solang zumindest, bis ich eines Morgens an einem fremden Ort aufwachte. Ein Stück entfernt fand ich das Wesen vor und zum ersten Mal die Finsternis und Kälte, die von ihm ausgingen. Das war der erste Hinweis, dass ich weit von Zuhause entfernt war. Bald darauf wurde mir bewusst, dass ich mich in einer anderen Welt befand, in der ich viel weniger konnte. Mit der Zeit verzweifelte ich und mir wurde klar, was ich für Fehler gemacht hatte, nur war es dafür bereits zu spät. Ich wollte das Wesen vernichten, nur war es viel schwieriger, als es zu erschaffen, denn wie soll man einfach das Schlechte in einem verschwinden lassen? Es heraufzubeschwören ist tausend Mal einfacher, denn in irgendeiner Weise ist es ja immer schon da. So also schloss ich es in diesem Berg ein, bis es schließlich in der letzten Nacht einen Weg fand sich zu befreien."

"Warum? Wie kam es hinaus?", sagte Perdita, der aufgefallen war, dass Dorran dieses Detail ausgelassen hatte.

"Das liegt daran, dass ich nun endlich bereit bin."

Verwirrt und auch etwas genervt zog Perdita die Stirn kraus. Für sie machte das keinen Sinn, doch sie startete gar nicht erst den Versuch es zu begreifen, denn so wie sie Dorran kannte, würde er ihr nur mit noch mehr Rätseln antworten.

Stattdessen fragte sie: "Und was machen sie jetzt dagegen?"

"Jetzt", sagte Dorran und drehte den Kopf zu ihr, "jetzt esse ich erstmal etwas."

Perditas verdutzten Blick ignorierend entfernte er sich ein paar Schritte vom Abgrund und ließ sich auf einen großen Stein nieder.

Eine Weile blieb Perdita stehen und blickte in die Ferne, dann folgte sie Dorran und blieb vor ihm stehen: "Aber was wollen sie jetzt dagegen tun, ich meine, ganz in echt?".

"Ich muss nichts mehr tun. Ich muss nur noch warten", antwortete Dorran rätselhaft wie eh und je.

Im Geiste verdrehte Perdita die Augen: "Wie meinen sie das?".

"Ich meine, dass ich bereits alles Nötige getan habe. Ich habe meine Fehler endlich voll und ganz akzeptiert."

Perdita fiel etwas ein: "Und warum sollte ich mitkommen und... und warum nur ich und Aaron nicht?".

"Das sagte ich dir bereits, er ist zu alt, denkst du, er hätte meine Geschichte geglaubt, sie verstanden?".

"Nicht wirklich, aber dann können sie ihn doch dazu bringen oder nicht?".

"Ja, das könnte ich wohl, aber genau das ist das Problem, er würde es nicht wirklich glauben. Ich aber muss mir meine Fehler wirklich eingestehen und dazu brauche ich so etwas wie einen Zeugen. Glaubst du, jemand, der nicht aus freiem Willen handelt, wäre dazu geeignet?".

Langsam schüttelte Perdita den Kopf: "Wohl eher nicht. Aber wie sollen denn jetzt meine Eltern wiederkommen?".

"Hab noch etwas Geduld. Glaub mir, spätestens Morgen wirst du sie Wiedersehen," antwortete Dorran und stand auf. "Und jetzt schlaf am besten noch ein wenig. Vor Sonnenaufgang wird wahrscheinlich nichts geschehen."

Als die Sonne aufging schlief Perdita noch und so bekam sie nichts mit. Sie sah nicht, wie die ersten schwachen Strahlen ihr Licht auf die starre Gestalt des Wesens warfen, sah nicht, wie das Wesen von ihnen ausgebleicht wurde und in kurzer Zeit zu einer leeren Hülle wurde und sah nicht, wie diese von einer schwachen Brise erfasst wurde und zu Staub zerfiel. Wie ein vertrocknetes Blatt, das nach langer Zeit der Ruhe berührt wird.

Auch bemerkte sie nichts von den letzten paar größeren, zusammenhängenden Staubpartikeln des Wesens, die durch die Luft trieben und sich Stück für Stück dem Berg näherten. Erst, als die ersten sie in der Nase kitzelten öffnete sie für einen Moment die Augen. Als sie das nächste mal die Augen aufmachte waren die Stein unter ihrem Körper und die angenehm frische Luft um sie herum verschwunden. Stattdessen lag sie in ihrem Bett. Es war dunkel und draußen auf die Straße fiel heftiger Regen.

Noch etwas verträumt fragte sie sich, wie es wohl ihren Eltern erging, die für eine Weile zum Zelten weg gefahren waren und am nächsten Tag zurückkommen wollten. An etwas anderes konnte sie sich nicht erinnern. Es war, als wäre nichts geschehen.

Epilog

Auf einem hohen Berg, etwas eine Stunde vom Haus des Mädchens entfernt, stand ein Mann im prasselnden Regen. Er trug einen Mantel mit einer großen Kapuze, die seinen Kopf unerkenntlich machte und war von einer kalten Aura umgeben. Dennoch, seine gesamte Erscheinung wirkte friedlich und entspannt. Sein verträumter Blick lag auf den vielen Bäumen und anderen Pflanzen, die am Fuß des Berges den Boden bedeckten und sein Geist war scheinbar an einem ganz anderen, wundervollen Ort. Mit langsamen Bewegungen schob er sich die Kapuze vom Kopf, schloss die Augen und streckte das Gesicht dem Himmel entgegen. Es schien, als würden die vielen Tropfen, die an ihm hinabrannen, all das Kalte und Abstoßende von ihm fort waschen und ihn rein davon zurücklassen. Nach einer Weile zog er abwesend den Mantel aus, ließ ihn zu Boden gleiten und löste den Dutt, der sein Haar zusammenhielt. Nun fiel es ihm leicht gewellt bis knapp über die Schultern. Ein paar Strähnen klebten an seinem nassen Gesicht, doch er ließ sich nicht davon stören. Dann schritt er auf die Kante des Berges zu und setzte sich. Dort verharrte er und schien auf etwas zu warten.

Es passierte langsam, ganz langsam. Zunächst konnte man nichts erkennen, doch dann wurde sein Gesicht faltiger, seine Haare ergrauten und seine Gestalt beugte sich. Als er schließlich das Alter eines gebrechlichen Neunzigjährigen erreicht hatte, drehte er sich auf die Seite und schloss die Augen. Es sah aus, als würde er schlafen, doch in Wirklichkeit war er weit, weit weg. In Wirklichkeit war er zurückgekehrt in eine Welt, aus der er vor langer Zeit einmal verbannt worden war.

Nun hatte sie ihn zurückgenommen.

Zu dieser Geschichte gibt es 16 Kommentare

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Motte – 18. Februar 2022

Hallo Meise, erstmal danke für deinen nette Kommentar und ich bin 16, wie alt bist du denn, wenn du es sagen möchtest? LG Motte

Meise – 9. Februar 2022

Das ist echt, echt super, Motte! Darf ich dich fragen, wie alt du bist? Das würde ich nämlich sehr gerne wissen.

Motte – 3. Juni 2021

Hihi dann werde ich es wohl, falls es irgendwann Mal den (sehr unwahrscheinlichen) Fall gibt, dass ich eine Leseprobe brauche, als solche benutzen. Bis das nächste Kapitel kommt wird es wahrscheinlich noch ein bisschen dauern, da ich noch nicht so ganz sicher bin, wie es weitergehen soll... LG Motte

Camilla – 1. Juni 2021

Bitte schreib weiter, ich bin sooo gespannt! LG, Camilla

Camilla – 31. Mai 2021

Oh, WOW. Motte, dieses Kapitel ist NOCH besser als das zweite, was eigentlich überhaupt nicht möglich sein kann!!! Wenn ich das als Leseprobe irgendwo gelesen hätte, wäre das Buch schon lang in meinem Besitz Schreib unbedingt weiter, LG, Camilla

Motte – 25. Mai 2021

Ohh danke Camilla Es freut mich, dass dir diese Geschichte so gefällt und ich werde auf jeden Fall weiter schreiben und bin auch schon dabei es wird aber noch etwas dauern bis das nächste Kapitel kommt es soll ja auch zu den anderen passen... LG Motte

Camilla – 24. Mai 2021

WOW! Das 2. Kapitel (finde ich persönlich) sogar noch besser als das erste, weil... es einfach so supertoll ist! Die Charaktere sind sehr gut beschrieben und ich möchte jetzt UNBEDINGT wissen, wie es weitergeht! Bitte, schreib weiter, Camilla

Motte – 20. Mai 2021

Na dann ich habe sie gerade losgeschickt, sie dürfte also bald da sein LG Motte

Camilla – 20. Mai 2021

Natürlich ist der spannend! Die ganze Geschichteist spannend, ich freue mich schon auf die Fortsetzung LG, Camilla

Motte – 19. Mai 2021

Wow Camilla vielen vielen Dank für deinen mega netten Kommentar, so etwas über seine Geschichten zu lesen macht einen echt glücklich!!! Eigentlich war ich mir mit dem Kapitel nicht ganz so sicher, aber dann war es ja wohl doch ganz gut... Das nächste Kapitel sollte eigentlich bald kommen, ich muss es nur noch etwas überarbeiten und schicke es dann los. Und ja, du hast recht, die Leute aus dem Prolog sind ihre Eltern, der Schuss am Ende war allerdings nur als ein Vergleich gemeint, ich hoffe der Cliffhanger ist trotzdem noch spannend genug?! GLG Motte

Camilla – 18. Mai 2021

Oh, Motte, WOW! Ich kann garnicht in Worte fassen, wie toll dieses Kapitel ist! Das erste Kapitel ist für mich ja fast besser als der Prolog, was echt schwer ist, denn auch der ist suuuper. Du spielst ja mit den Wörtern, als wären es... keine Ahnung, aber du machst das unglaublich toll! Und dieser Cliffhanger am Ende, ich möchte sofort weiterlesen. Ich habe (dummerweise ) erst in der Mitte des ersten Kapitels verstanden, dass die Leute aus dem Prolog die Eltern sind. So ist es doch, oder? Und jetzt möchte ich unbedingt wissen: ist jemand von dem Schuss verwundet worden? Oder sogar gestorben? Vielleicht Aaron? Bitte schreib weiter, ich bin sooo unglaublich gespannt, wie es weitergeht, das GLAUBST DU NICHT!!! Schreib noch ein Kapitel, noch eins und noch eins, bitte! LG, Camilla

Motte – 16. Mai 2021

Hi Luise, danke für deinen lieben Kommentar ich habe mich sehr darüber gefreut

Luise – 13. Mai 2021

Hi Motte, deine Geschichte ist wirklich sehr schön und spannend geschrieben und auch dein Stil ist sehr schön!!!

Motte – 8. Mai 2021

Danke für die netten Kommentare, dann setze ich mich mal an eine Fortsetzung

Rhea – 6. Mai 2021

Sehr spannende Geschichte, das Gewitter ist sehr glaubwürdig beschrieben, würde mich  über eine Fortsetzung freuen ...Lg Rhea

Camilla – 4. Mai 2021

Motte, das ist eine echt tolle Geschichte geworden! Sie ist spannend, weil man von Anfang an in eine verzweifelte Situation geworfen wird. Das Gewitter hast du mit den Details sehr glaubwürdig beschrieben und so bin ich sehr gespannt auf eine Fortsetzung! LG, Camilla