Mare increati

Geschrieben von Rouven Gotthardt

Der Mann, der sich Kaito nannte, ging einem Handwerk nach, für das es keinen Namen gab. Das war nur passend, denn er handelte nicht mit Waren, sondern mit ihrer Abwesenheit. Er sammelte das Echo von ungesagten Worten.

Seine Zeit war die Dämmerung. Jener Moment zwischen den Atemzügen des Tages, wenn das letzte Licht am Horizont verblutete und der Mond begann, die Welt in kaltes Silber zu tauchen. Die Luft roch dann nach feuchtem Knochen, nach Salz und einer unbestimmbaren, uralten Traurigkeit.

Seine Wohnung war ein Nest aus Stein und Stille, hoch oben in die zwölfte Rippe eines riesigen Walfisches geschlagen. Unter ihm lag Origo, eine Stadt, die kunstvoll in die versteinerten Knochen des Giganten gehauen worden war, ein Labyrinth aus Gassen, die im fahlen Schein von Moosen leuchteten.

Niemand wusste mehr, wann der Leviathan gestrandet war. Nur die Legenden raunten von unvorstellbaren Millennien, die es her war, dass der Koloss durch die endlosen Weiten des Mare increati zog.

Erst lange danach, in einer jüngeren Zeit, waren die Meister des Mare gekommen. Vom fernen Sitz der Nascenz aus herrschten sie nun über Origo, und ihre Edikte waren laute Geräusche in einer Welt, die Kaito zu ignorieren versuchte. Ihre Gesetze waren in Stein gemeißelt, doch das Schweigen des Wals war älter.

Sie müssen verstehen, werter Leser, was dieses Meer ist, das wir das Mare increati nennen. Nennen Sie es nicht Ozean. Das ist ein Wort für Wasser und Salz, für Dinge, die sind. Das Mare ist anders. Es besteht aus allem, was niemals war und nie gewesen sein wird.

Es ist die endlose Summe aller Möglichkeiten, die den falschen Abzweig nahmen. Die Reiche, die auf dem Reißbrett eines einzigen Zögerns vergingen. Die Liebesbriefe, die im Feuer landeten, bevor die Tinte trocknen konnte. Die stillen Gebete, die der Himmel nie erhörte, und die Armeen, die nie marschierten, weil ein General im entscheidenden Moment auf sein Herz hörte anstatt auf einen kalten Befehl seines Herrn.

Wenn man zu lange an seinem schwarzen Obsidianufer steht, spürt man den Druck. Es ist nicht die Schwere von Wasser, sondern die von ungelebten Leben. Man hört das Flüstern von Träumen, die zu ehrgeizig waren, und die bleierne Schwere von Taten, für die der Mut fehlte. Es ist das Gedächtnis des Zögerns. Die Chronik des beinahe Möglichen.

Jedes Echo, das Kaito jagt, ist nur ein Tropfen aus diesem endlosen Meer. Ein winziger Splitter der großen, universalen Reue, der für einen Augenblick an die Küste der Realität gespült wird.

Und deshalb ging er dorthin, Nacht für Nacht. Bewaffnet nur mit seinem Netz aus gesponnenem Mondlicht. Es war kühl, schwerelos und schien aus eigener Kraft ein schwaches Licht auszusenden. Das Netz war ein Erbstück, gewoben von den legendären Mondweberinnen, einer Gilde, die längst verschwunden war, und es war das einzige Artefakt, das fähig war, das Immaterielle zu fassen, das Nichts zu fangen und in eine beständige Form zu zwingen.

Mit dem Netz über der Schulter stieg er die in den Fels gehauenen Stufen hinab zum Ufer des Stillen Ozeans, der keine Wasserfläche war, sondern eine Manifestation der reinen Abwesenheit. Seine Wellen waren lautlose Verschiebungen in der Realität, ein gezeitenloses Auf und Ab der Leere, das gegen das glänzend schwarze Ufer schlug. Man sagte, ein unachtsamer Schritt hinein führe nicht zum Ertrinken, sondern zur Auslöschung. Die Stille würde einen nicht nur zum Schweigen bringen, sondern die eigene Geschichte, das eigene Sein, Note für Note aus der Symphonie der Existenz löschen. Kaito hatte als Junge gesehen, wie ein Vogel, der zu tief flog, in der Luft verpuffte – erst sein Gesang, dann seine Farbe, dann seine Form, bis nichts mehr übrig war.

Er wartete. Seine Sinne waren nicht auf Geräusche, sondern auf deren exakte Negation geeicht. Er lauschte in die Stille hinein, suchte nach den feinen Dissonanzen in der Leere. Er wartete auf die präzise Form des Zögerns vor einer Liebeserklärung, einen Moment, der die Luft kräuselte wie ein Hitzeschleier. Er
suchte den scharfkantigen Hohlraum, den ein ungesagter Vorwurf in der Atmosphäre hinterließ, eine Wunde in der Realität. Oder die sanfte, warme Delle einer nie ausgesprochenen Entschuldigung, die wie ein schwaches Echo von Wärme in der Kälte der Stille hing. Dies waren die wertvollsten Echos, die seltensten
Exemplare für seine Sammlung.

Die meisten Tage waren repetitiv, eine Übung in Geduld. Er fing kleine, alltägliche Leerstellen: das ungesagte „Danke“ eines mürrischen Händlers, das verschluckte Kichern eines Kindes, das eine Grimasse schnitt. Er untersuchte sie kurz, würdigte ihre kleine, unbedeutende Tragik und ließ sie wieder frei in den Ozean, wo sie sich auflösten. Er suchte nach den Echos, die ein Leben hätten verändern können, den fundamentalen Absenzen, die das Fundament einer Seele bildeten.

Denn seit Jahren suchte er nach einem ganz bestimmten Echo. Es war das Herzstück, das seiner Sammlung fehlte, der Abschluss seines Lebenswerks. Ein
Echo, das so alt und so mächtig war, dass er seine Existenz nur als eine kalte Stelle in seinem eigenen Herzen spürte, eine permanente innere Leere. Es war sein eigenes Echo. Das Echo des Satzes, den er an Elara hätte richten sollen, in jener Nacht, als sie Origo für immer verließ: „Ich habe hier meinen Platz, und er ist nur dann vollständig, wenn du ihn mit mir teilst.“ Die Worte waren in seinem Hals geformt, aber nie ausgesprochen worden. Die Leere, die sie an ihrer Stelle
hinterlassen hatten, war der Urknall seines neuen Lebens gewesen, der Moment, der ihn von einem Mann, der liebte, zu einem Mann machte, der die Abwesenheit katalogisierte. Er war nicht nur ein Sammler; er war ein Jäger auf der Spur seines eigenen, größten Versäumnisses.

Diese Nacht war unfruchtbar. Die Stille war flach und ausdruckslos, eine monotone Oberfläche ohne die verräterischen Kräuselungen, nach denen er suchte. Das Mare bot ihm nichts an als seine eigene, spiegelglatte Gleichgültigkeit. Frustriert und mit leeren Händen machte sich Kaito auf den Rückweg durch die verschlungenen Gassen von Origo, die im fahlen Licht der fahlen Morgensonne lagen.

Sein Weg führte ihn unweigerlich über den Marktplatz, das paradoxerweise pulsierende Herz der stillen Stadt. Hier wurden keine Waren des täglichen Bedarfs
gehandelt, sondern die Essenz des Lebens selbst. Eine Frau mit Augen aus poliertem Bernstein, deren Namen Lyra war, saß hinter einem Tisch, auf dem versiegelte Tonkrüge in verschiedenen Größen standen. Sie war die Verkäuferin der Träume. Man konnte einen Krug erwerben – für den Preis einer echten, wertvollen Erinnerung –, ihn nachts am Bett öffnen und für ein paar Stunden ein anderes Leben führen. Ein Held sein, ein verlorenes Kind wiederfinden, fliegen können.

Lyra nickte Kaito mit einem wissenden Lächeln zu. „Die Stille ist heute hartnäckig, nicht wahr?“, sagte sie, ihre Stimme wie das Rascheln trockener Blätter. „Nichts für dich dabei gewesen? Vielleicht ein Traum zur Erholung? Ich hätte heute etwas Besonderes. Die Nacht am Hafen, als Ihr Schiff den Hafen verließ. In diesem Traum hier rufst du ihr nach.“

Kaitos Herz zog sich zusammen. Lyras Angebot war präzise und grausam. „Du weißt, dass ich keine Träume kaufe, Lyra“, erwiderte er mit festerer Stimme, als er sich fühlte. „Ein Traum ist eine Fälschung des Gewesenen. Ich befasse mich mit der Realität des Niemals-Gewesenen.“ Ein Traum von diesem Moment wäre eine süße Lüge, die die Reinheit meines Schmerzes und die Wichtigkeit meiner Suche beflecken würde.

Ein Stück weiter saß Silas, ein alter Mann, dessen Gesicht eine Landkarte aus Falten war und dessen Finger von der Arbeit mit seinem Handwerk fleckig waren. Er tauschte polierte Kieselsteine gegen vergessene Erinnerungen. Es war ein einfacher Handel: Man gab ihm eine Erinnerung, die schmerzte, eine Last, die man nicht mehr tragen wollte. Er nahm sie mit einer sanften Berührung an der Schläfe entgegen und sperrte sie in einen der glatten, runden Steine. Im Gegenzug erhielt man einen anderen Stein, der die vage, angenehme Erinnerung eines Fremden enthielt – das Gefühl von Sonnenstrahlen auf der Haut, der Geschmack einer perfekten Frucht.

Silas sah Kaito kommen und hielt ihm einen milchig-weißen Stein hin. „Ich sehe die Leere in deinen Händen, Kaito. Sie passt zur Leere in deinen Augen“, krächzte er. „Nimm dies. Die Erinnerung an einen perfekten Sonnenaufgang über einem Meer, das singt. Ein Moment reinen, unbelasteten Glücks. Tausch ihn gegen eines deiner Echos. Selbst das kleinste. Gib mir das Zögern vor einer kleinen Lüge, und der Stein gehört dir.“

Kaito blickte auf den Stein, dann auf Silas. „Du verstehst meine Arbeit nicht, alter Mann“, sagte Kaito leise. „Du löschst die Vergangenheit. Ich gebe ihr eine Form. Mein Schmerz, meine Leere... sie gehören zu mir. Sie zu verhandeln, hieße, mich selbst zu verhandeln.“

Silas seufzte und ließ den Stein sinken. „Du bist der einzige Mann, den ich kenne, der ein Museum für seine Wunden baut, anstatt sie heilen zu lassen.“

Kaito antwortete nicht. Er ließ die Händler hinter sich, ihre Angebote wie Sirenenrufe, die ihn von seinem Kurs abbringen wollten. Ihr Weg war der der Linderung, seiner der der Vollständigkeit. Sein Frieden lag nicht in der Fülle von Träumen oder fremdem Glück, sondern in der lückenlosen Aufzeichnung der Leere. Und diese war noch lange nicht komplett. Mit schnellen Schritten machte er sich auf den Heimweg um den Tag mit seinem gnadenlos sengendem Licht in seiner
Wohnung, die gleichzeitig sein Archiv war zu verschlafen.

Als der volle Mond am Horizont aufging und sein silbriges Licht über die Knochenlandschaft warf, spürte Kaito eine Veränderung in der Luft. Eine tiefe, vibrierende Unruhe ging vom Stillen Ozean aus. Es war kein Beben und kein Wind, sondern eine Verdichtung der Stille selbst. Die Abwesenheit wurde tiefer,
aggressiver, fast greifbar. Ein stiller Sturm zog auf.

Die Bewohner von Origo kannten die Zeichen. Eine spezielle, aus einem Schulterblatt des Wals gefertigte Platte hoch oben am Rückgrat der Stadt begann, lautlos zu vibrieren und erzeugte eine unterschwellige Frequenz, die allen Unbehagen bereitete. Lichter in den Bernsteinlaternen flackerten. Die Menschen
verbarrikadierten sich in ihren Knochenheimen, denn ein solcher Sturm konnte die Gedanken verwirren und die Erinnerung ausfransen. Die Leere sickerte durch die Ritzen und ließ einen vergessen, wer man war.

Für Kaito jedoch war es die lang ersehnte Gelegenheit. Solche Stürme waren sehr selten, und sie waren das Resultat einer Resonanzkaskade, bei der mächtige,
ungelöste Absenzen sich gegenseitig anzogen und den Grund des Ozeans aufwühlten. Alte, lange versunkene Echos wurden an die Oberfläche gespült. Echos,
die seit Jahrhunderten unberührt in der Tiefe gelegen hatten.

Ohne zu zögern, schnappte er sich sein Mondlichtnetz, das in der unheilvollen Dunkelheit heller als gewohnt zu leuchten schien, und stieg erneut die Klippen hinab. Unten angekommen sah er das Mare, eine tobende Masse aus Nichts. Lautlose Wellen aus reiner Negation türmten sich meterhoch auf und brachen an
den Obsidianfelsen. Die Luft war so dick vor ungesagten Dingen, dass es schwerfiel zu atmen.

Kaito spürte sie überall um sich herum, eine chaotische Kakophonie der Stille. Das gellende Schweigen eines verratenen Königs aus einem gefallenen Reich, das sich wie ein Feld aus Eisscherben anfühlte. Die erstickte Hoffnung eines zum Scheitern verurteilten Entdeckers, die als kalter Nebel am Boden hing. Die kollektive, unausgesprochene Angst einer ganzen Generation vor einer nahenden Katastrophe, die wie ein unhörbarer, tiefer Bass in seinen Knochen vibrierte. Es war ein Konzert des Ungewesenen, gefährlich und überwältigend.

Er tanzte am Rande des Ufers, wich den stillen Brechern aus, sein Körper war nach Jahren des Trainings eine Einheit mit den unvorhersehbaren Bewegungen der Leere. Er suchte nach einem Muster im Chaos. Dann spürte er es – ein winziges, pulsierendes Nichts, direkt hinter dem dritten Wellenkamm. Es war anders als die großen, historischen Echos. Es war frisch, fein und von einer entwaffnenden Unschuld.

Es war das Echo eines Lachens, das jemand aus reiner Höflichkeit unterdrückt hatte, um die Gefühle eines anderen nicht zu verletzen. Ein seltenes, bittersüßes
Exemplar, rein und unverdorben von Hass oder Angst. Inmitten des tobenden Nichts war diese kleine, höfliche Leere ein Anker der Zivilisation, ein Beweis für Empathie.

Vorsichtig warf er sein Netz aus. Es segelte durch die stürmische Luft und legte sich sanft über die Leere. Das Echo zitterte, als die Mondlichtfäden es berührten, und gab ein leises, melodisches Summen von sich, wie eine Stimmgabel, die mit Samt angeschlagen wird. Kaito zog das Netz langsam ein. Das gefangene Echo leuchtete in einem sanften Indigo. Er verstaute es sicher in einer Tasche an seinem Gürtel. Es war ein guter Fang, ein Moment der Anmut im Chaos. Aber es war nicht das, wofür er sein Leben riskierte. Der Sturm hatte gerade erst begonnen, sein wahres Herz zu offenbaren.

Kaito wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem tobenden Ozean zu. Das Chaos erreichte seinen Höhepunkt. Die Stille war nun so absolut, dass Kaito das Gefühl hatte, sein eigener Herzschlag könnte das empfindliche Gleichgewicht zerreißen und ihn vernichten. Er musste seine Existenz auf ein Minimum reduzieren, seine Gedanken beruhigen, fast selbst zu einem Echo werden, um hier überleben zu können.

Er bewegte sich tiefer ins Chaos, navigierte zwischen den gefährlichen Strömungen der Leere. Er wich einem riesigen Feld der Apathie aus – dem kollektiven,
ungesagten "Warum sich die Mühe machen?" einer gescheiterten Zivilisation, welches jede Motivation aus ihm herauszusaugen drohte. Er sprang über eine
scharfe Kante aus unausgesprochenem Hass zwischen zwei Brüdern, die so schneidend war, dass sie sein Netz fast zerrissen hätte. Und dann, im Herzen des
Chaos, im Auge des stillen Sturms, spürte er es.

Es war keine Welle, keine Delle, keine scharfe Kante. Es war ein Loch. Ein perfektes, absolutes Loch in der Struktur der Realität, ein Vakuum, aus dem eine unermessliche, persönliche Traurigkeit strahlte. Es zog alles auf sich zu, sog die anderen, kleineren Echos in sich hinein wie ein schwarzes Loch das Licht. Es war das Zentrum des Sturms, der Grund für die ganze Unruhe. Es war das Echo, das er sein Leben lang gesucht hatte. Sein Echo. Der ungesagte Satz.

Es leuchtete nicht. Es war die Abwesenheit von Licht, eine perlmutterne Antithese zur Farbe, die das Licht um sich herum zu biegen und zu verschlucken schien. Es strahlte eine Kälte aus, die nicht physisch war, sondern direkt die Seele gefror. Kaito wusste, dass dies seine einzige Chance sein würde. Dieses Echo würde nach dem Sturm wieder für Generationen in die unerreichbare Tiefe sinken.

Er nahm all seinen Mut zusammen und schwang das Mondlichtnetz mit einer Kraft, die aus reiner Verzweiflung und jahrelanger Sehnsucht geboren war. Das Netz flog über die tobende Stille und senkte sich auf das irreale Loch.

In dem Moment, als das Netz es berührte, explodierte die Leere nach innen. Das Echo wehrte sich mit einer passiven Aggression, einer Weigerung zu existieren, die so stark war, dass sie das Netz zurückstieß. Die Mondlichtfäden begannen zu flackern und zu reißen. Kaito spürte einen unvorstellbaren Schmerz, als würde ein Teil von ihm selbst zerrissen. Das Echo war nicht nur ein äußeres Objekt; es war ein Teil von ihm, und es kämpfte gegen seine eigene Ergreifung. Es drang in seinen Geist ein, zwang ihn, die Nacht mit Elara erneut zu durchleben. Er sah ihr Gesicht, ihre erwartungsvollen Augen, das leichte Zittern ihrer Lippe, als sie auf die Worte wartete, die nicht kamen. Er spürte die erdrückende Last seines eigenen Versagens, nicht als Erinnerung, sondern als lebendige, sich wiederholende Gegenwart.

Er schrie auf, aber kein Laut kam über seine Lippen. Sein Schrei wurde vom Mare verschluckt. Kaito klammerte sich an die Leine des Netzes, seine Knöchel weiß. Er verstand, dass er die Leere nicht mit Gewalt besiegen konnte. Er musste sie mit der Wahrheit füllen. Anstatt die Erinnerung zu bekämpfen, ließ er sie zu. Er goss alles, alles, was er war und jemals sein würde, in das Netz: nicht nur den Schmerz des Verlustes, sondern auch die Freude der gemeinsamen Zeit, das Lachen, die Berührungen, die geteilten Geheimnisse. Er füllte das Netz mit der Präsenz seiner vollständigen Erinnerung an sie, um die Abwesenheit zu überwältigen. „Du bist ein Teil von mir“, dachte er, seine Gedanken ein stummer Anker im Sturm, „und du verdienst einen Platz.“

Langsam, Zentimeter für Zentimeter, gab das Echo nach. Die schimmernde Leere wurde von den Mondlichtfäden umschlossen, die nun unter der Anstrengung
gleißend hell leuchteten. Mit einem letzten, gewaltigen Ruck, der ihn auf die Knie zwang, zog Kaito das Netz an Land. Darin gefangen lag ein zitterndes Nichts, das die Form einer einzigen, perfekten Träne hatte. Der Sturm um ihn herum legte sich augenblicklich. Der Ozean wurde wieder spiegelglatt und still. Die Jagd seines Lebens war vorbei.

Erschöpft, aber mit einer seltsamen, tiefen Klarheit im Kopf, stieg Kaito die Klippen zu seiner Wohnung in der zwölften Rippe des Wals hinauf. Die Welt um ihn herum schien schärfere Konturen zu haben, die Farben wirkten kräftiger. Die Leere, die er so lange in sich getragen hatte, war nun außerhalb von ihm, ein fassbares Objekt in seinem Netz.

Er betrat seine Wohnung. Der Raum war spärlich eingerichtet, dominiert von Reihen einfacher Holzkisten an den Wänden. Jede Kiste war sorgfältig mit Symbolen
beschriftet, die nur er verstand. Normalerweise war der Raum erfüllt von einem kaum hörbaren, polyphonen Summen – der Resonanz der gesammelten Absenzen.

Er ging an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. An der Kiste mit dem scharlachroten Schweigen eines Verrats, das eine spürbare Hitze ausstrahlte. An der Kiste mit dem smaragdgrünen Zögern einer lebensverändernden Entscheidung, das ein kühles, vibrierendes Gefühl verursachte. Er ging zu einer einzelnen Kiste, die abseits der anderen auf einem Podest aus poliertem Walknochen stand. Sie war aus dem gleichen dunklen Holz wie die anderen, aber sie war leer gewesen, seit er sie vor Jahren gezimmert hatte. Sie war für diesen einen Fang bestimmt.

Mit ritueller Langsamkeit reinigte er die Kiste von imaginärem Staub. Er öffnete das Netz darüber. Das perlmutterne Echo, die Träne aus Nichts, fiel hinein. Es gab kein Geräusch. Aber in dem Moment, als es den Boden der Kiste berührte, geschah das Wunder. Der gesamte Raum fiel in eine neue, tiefere Stille. Das Summen der anderen Echos hörte nicht einfach auf; es wurde geordnet. Die scharlachrote Hitze wurde zu einer sanften Wärme. Die smaragdgrüne Vibration wurde zu einer ruhigen Pulsation. Alle kleineren Absenzen in seiner Sammlung richteten sich nach diesem einen, zentralen Nichts aus. Die Symphonie der ungelebten Momente war nicht verstummt. Sie hatte ihren Dirigenten, ihren finalen, stillen Akkord gefunden, der allem anderen Sinn und Kontext verlieh.

Kaito schloss sanft den Deckel.

An diesem Tag schlief er nicht. Er saß nur da und lauschte. Aber zum ersten Mal hörte er keine chaotische Kakophonie der Reue, sondern eine geordnete, harmonische Stille. Der Schmerz in seiner Brust, die kalte Stelle, die Elara hinterlassen hatte, war nicht verschwunden. Aber sie war nicht mehr in ihm. Sie war
nun draußen, vor ihm, archiviert, katalogisiert und zum Zentrum seines Universums gemacht worden. Ein Teil seiner Geschichte, dem er seinen rechtmäßigen Platz gegeben hatte.

Er fragte sich nicht, was nun kommen würde. Die Frage selbst war ein Geräusch, und für Geräusche hatte er in seiner stillen Welt keinen Platz. Er war nicht länger ein Jäger, der von seinem eigenen Verlust getrieben wurde. Er war nun vollkommen das, was er sein sollte: der Hüter der Lücken, der Archivar dessen, was niemals war. Der Kurator seines eigenen, vollständigen Herzens.

Und in der absoluten, geordneten, perfekten Stille seiner Wohnung war das genug …

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