Selyas Weihnachten

Geschrieben von Franziska Peipp

„He! Stehen bleiben! Was soll das?“, ertönte die wütende Stimme des Standbesitzers. Doch Selya dachte nicht im Entferntesten daran, presste den Kiefer noch enger zusammen, begann schneller zu rennen. Auch wenn der Mensch sie nicht einholen konnte, andere versuchten des Öfteren sie aufzuhalten. Aber dieser Fang war wichtig, nicht nur für sie, sondern für viele andere Leben. Den ausgestreckten Händen mancher Menschen ausweichend, schlug sie einen Haken nach dem anderen und gelangte schließlich in eine kleine, dunkle Gasse, die sich weit entfernt von all dem Trubel, Gestank und den Stimmen befand. Hier war es durchaus angenehmer und ruhiger. Kein Störenfried weit und breit. Trotzdem achtete Selya genauestens auf die Umgebung, ehe sie in einen kleinen Spalt zwischen zwei Häusern schlüpfte. Der Boden unter ihren, vom Teer wunden, dunklen Pfoten, begann weicher und erdiger zu werden. Wie angenehm es doch mit jedem Mal war, das vertraute Terrain zu betreten. Leises Fiepen begrüßte sie und vier kleine Gestalten lösten sich aus den Schatten. Ein menschliches Auge hätte nur die Umrisse sehen können, doch für Selya bestand kein Problem darin jedes einzelne Haar im Fell ihrer Jungen zu erkennen. Sie zuckte zur Begrüßung leicht mit den hellen Schnurrhaaren. Ungeduldig wuselten die Kleinen zwischen ihren Beinen herum, starrten mit großen blauen Augen auf das noch leicht triefende Stück Fleisch, das Selya dem Händler direkt vom Grill gestohlen hatte. Lange Zeit war es her, dass sie etwas derart Gutes bekommen hatten. Und nun grenzte es schon fast an ein Wunder, dass sie es hatte ergattern können. Denn normalerweise achteten die Standbesitzer des Marktes gut auf ihr Fleisch, in dem Wissen, dass Katzen oder Tauben davon stehlen konnten. Aber ihre Taktik, die Menschen für eine Zeit lang zu beobachten, um das Verhalten einschätzen zu können, war aufgegangen. Dadurch war es Selya möglich gewesen, den perfekten Moment abzupassen, um an den Grill zu schleichen und das saftigste Stück Fleisch zu stehlen. D

och besonders zu dieser Zeit, waren viele von den Menschen abgelenkt. Von den Lichtern, der Stimmung, dem Geruch nach Zimt, Zucker, Gebäck und dem Stress, den sie sich machten. Fehlte nur noch der Schnee. Wobei dieser eigentlich immer ein wenig verspätet eintraf. Aber er gehörte dazu, zu diesem Moment oder vielmehr einmaligen Zeitpunkt. Schließlich ging es auf eine ganz besondere Zeit zu, die es nur einmal in zwölf Monden gab. Eine Zeit, die sogar die Tiere herbeisehnten. Ein Fest, das die Welt für wenige Tage zur Ruhe kommen ließ. Alles war friedlich, versöhnlich und glücklich. Etwas, das eigentlich immer so sein sollte. Natürlich befand sich Selya auch des Öfteren im Streit mit anderen Straßenkatzen, aber eine derart starke Rivalität oder sogar Hass wie zwischen so manchen Menschen, gab es dort nicht. Sie führten keine Kriege. Ein ungeduldiges Maunzen riss sie aus ihren trübseligen Gedanken, lenkte die Aufmerksamkeit wieder gänzlich auf die halbwüchsigen Jungen, welche mit mondförmigen blauen Augen zu ihr aufblickten und nach der Mahlzeit verlangten. Kaum hatte das Stück Fleisch den Boden berührt, begann Selya sich ein Maul voll davon abzutrennen, ehe sie sich zurück zog, um die Jungen zu beobachten. Spielerisch rangen sie um den besten Bissen. Immer wieder wurde die kleine Nalla von den älteren Brüdern zur Seite geschubst. Einschüchtern ließ sich die junge Kätzin davon jedoch nicht, versuchte sich zwischen den größeren Körpern hindurchzuschlängeln, um ebenfalls an einen Bissen zu gelangen. Der Lohn war ein pfotengroßes Stück Fleisch, mit welchem sie sich zu Selya zurückzog und begann, mit den kleinen Zähnchen davon abzubeißen. Mit vor Stolz geschwellter Brust betrachtete sie ihre jüngste Tochter, die hungrig das ergatterte Stück verschlang. Nalla hatte sich an ihre Worte erinnert. Niemals aufzugeben, immer einen Weg zu finden und an die eigenen Fähigkeiten zu glauben. Denn diese Welt war nicht einfach, und in manchen Wochen fiel es sehr schwer zu überleben.

Die Menschen hatten es einfach, ihre Beute lag in den Supermärkten und sie mussten es nur abholen konnten. Fast nichts erjagten sie selbst. Einzig das Geld. Diese kleinen glitzernden Scheiben, die anscheinend einen hohen Stellenwert besaßen. Und der wurde nie vergessen, auch an Weihnachten nicht. Die Geschenke, die sie einander überreichten, mussten oft wertvoll sein. Viele von ihnen schienen nicht zu begreifen, um was es während dieser Zeit wirklich ging. Was wirklich wichtig war und das einzige Gut auf der Welt, das wahrlich glücklich machen konnte. Liebe, Nähe, Freundschaft, Familie… all das und natürlich die Feier der Geburt eines ganz wichtigen Menschleins. Das vor vielen abertausend Monden gelebt und Hoffnung verbreitet hatte. Selya war eine Straßenkatze, kein Mensch, und wusste somit nicht viel von Gott und Jesus. Aber sie war sich sicher, dass diese beiden sehr gute Wesen waren und auch nicht ganz menschlich. Das Wirken von Jesus sollte den Leuten ein Vorbild sein, wie sie mit ihren Mitmenschen umzugehen hatten. Sie sollten verzeihen, lieben, lachen und weinen können. Viel Gutes hatte er getan, und manchmal hatte Selya das Gefühl, dass es nicht gänzlich ihre Fähigkeiten waren, die ihr immer dazu verhalfen, so manche Mahlzeit zu fangen. Womöglich gab es da wirklich jemanden, dem es wichtig war, dass es ihrer kleinen Familie gut erging, sie in dieser kleinen Stadt überlebten und ein gutes Leben hatten. Vor allem jetzt, nachdem sie alleine für die Jungen zu sorgen hatte.

Der Vater war vier Monde zuvor vom Stadtjäger erschossen worden. Direkt vor Selyas Augen. Damals hatte sie die Kleinen säugen müssen und war nur mitgegangen, weil Billys Jagd erfolglos geblieben war. Tagelang. Die Jagd zu zweit war erfolgsversprechender als allein. Und so hatte sie die Kleinen schweren Herzens alleine lassen müssen. Nalla und ihre Brüder wussten bisher nichts vom Tod des Vaters. Der Vorteil dabei war, dass sie auch kaum eine Erinnerung an ihn besaßen. Schließlich waren sie sehr klein gewesen, hatten Tag und Nacht geschlafen, waren nur durch den Hunger aufgewacht. Eines Tages würde Selya es ihnen erzählen, wenn sie alt genug waren, zu verstehen. Vielleicht war es auch Billys Vertrauen in die Menschen gewesen, das ihn unvorsichtig hatte werden lassen. Schließlich war er einst ein Hauskater gewesen, ehe sein Herrchen gestorben und die Tochter ihn aus dem Haus gejagt hatte. Und dennoch hatte er sie gemocht, versucht das Gute in ihnen zu sehen und einen Teil ihrer Werte an Selya vermittelt. Zuvor hatte sie große Abneigung gegenüber dieser Rasse verspürt, hatte sie doch ihr ganzes Leben lang kämpfen müssen und sich gar nicht vorstellen können, wie gut sich eine sanfte, warme Hand auf dem Fell anfühlte. Billys Erzählungen hatten ihre Meinung ein wenig geändert. Ein Grund, weshalb sie mehr von der Weihnachtszeit und den Menschen wusste, als so manch andere Katze. Ein Wissen, das sie an ihre Jungen weitergab. Wie wichtig Zusammenhalt, Liebe und Freundschaft waren. Und es bewährte sich in dem Moment, als Eyo, der Älteste, sich von der Seite seiner Brüder löste und zu Nalla schlich. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie ihn. Ein kleines Stückchen Fleisch hatte er ihr aufgehoben, in dem Wissen, dass seine Schwester, nicht mehr als einen Bruchteil von der Beute abbekommen hatte. Ihm schlossen sich nun auch die anderen an. Schnurrend und dicht aneinandergeschmiegt saßen die vier nun da und beobachteten die Jüngste beim Fressen. Wärme der Zuneigung und des Stolzes schlichen sich in Selyas Brust, als sie ihre Jungen beobachtete. Dankbar für jedes einzelne Leben. Alle vier hatten sie etwas von Billy. Dem gutherzigen grauen Kater, der nun von einem anderen Ort aus über sie wachte, und sie konnte es fühlen, dass er glücklich war. Denn es gab schließlich auch jemanden, der auf ihn aufpasste. Auf sie alle. Und das allein gab ihr die nötige Hoffnung.

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