Zwölf Welten
Geschrieben von Miriam Christoph
Ich schwebe. Federleicht wogen meine nachtblauen Haare um mich herum wie Seegras. Im Schummerlicht des Wassers wirken sie beinahe schwarz und nur, wo das Sonnenlicht sie erreicht, kann ich ihr blaues Schimmern erkennen. Millionen Bilder prasseln auf mich ein. Das endlose Blau um mich herum verwandelt sich in ein dunkles Flaschengrün, und ich spüre den matschigen Teichboden unter mir. Mit einem Ruck tauche ich zwischen den Seerosen auf und schnappe nach Luft. Mein Herz rast und mir ist schwindelig. Schwankend stehe ich auf und wate aus dem kleinen Teich in unserem Garten, der von wilden Margeriten umgeben ist. Ich schleppe mich ans Ufer und übergebe mich in einen der Büsche. Keuchend zerre ich mich hoch und laufe zum Haus. Drei. Drei Bilder stecken in meinem Kopf fest. Triefend ziehe ich eine nasse Spur durch unsere kleine Küche bis hinauf in unser Schlafzimmer. Es ist mir egal. Ich schäle mich aus meinem nassen Kleid und ziehe ein luftiges weißes Leinenkleid mit bunten Blumenstickereien über, dann kämme ich meine Haare und flechte ein paar einzelne Strähnen zu kleinen Zöpfen.
Ich blicke in den Spiegel. Meine Haare reichen mir mittlerweile bis zu den Knien. Ich sehe müde aus, also bedecke ich meine Wangen mit Feenstaub. Zwölf kleine Planeten umkreisen meinen Kopf auf goldenen Bahnen wie eine Krone. Ich setze ein leichtes Lächeln auf, schnappe meine braune Tasche und verlasse das Haus. Obwohl die Sonne unbarmherzig herabbrennt, quillen die Straße über und das Stimmengewirr der Menschen schwirrt wie ein Lied umher. Zielstrebig schlängele ich mich durch die Massen.
Ich renne nicht. Ich will keine Aufmerksamkeit erregen. Aus dem Augenwinkel beobachte ich das bunte Treiben um mich herum. Gestaltwandler, Zeitkrümmer, Feen und andere Bewohner Sommars verkaufen allerlei Güter an bunten Ständen. Ich weiche einer Mohnhexe aus, die mit einem kleinen Fläschchen mit goldenem Inhalt vor meinem Gesicht herumfuchtelt. Ein Trank, der alle Trauer auslöscht, zumindest für einen Moment, zum Preis einer Erinnerung.
Ich ignoriere sie und folge dem Duft von Zimt und Zitronen, dem Duft von Gefahr und zugleich Hoffnung. Je stärker der Duft wird, desto schneller schlägt mein Herz. Mein Blick zuckt umher auf der Suche nach einem der Bilder in meinem Kopf. Ich schließe die Augen und lasse mich von meinem Gefühl tragen. Meine nackten Füße trommeln auf die Pflastersteine im Takt der Stimmen um mich herum. Ich höre eine Geige. Unwillkürlich folge ich der Musik und bleibe schließlich stehen. Als ich die Augen wieder öffne, stehe ich vor einer kleinen Bäckerei. Ein pastellfarbener Stand mit allerlei süßen Leckereien ist davor aufgebaut und eine kleine rundliche Frau mit roten Apfelbacken begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Augen wechseln fließend ihre Form und Farbe. Mal sind ihre Pupillen Vergissmeinnichtblau und rund, im nächsten Moment färben sie sich Zuckerwatterosa und verformen sich zu Schlitzen. Eine Seherin.
„Unsere Mondkäseküchlein sind heute im Angebot. Zwei Stück für nur einen Ihrer Träume. Ich verspreche Ihnen, Sie werden es nicht bereuen.“, sagt sie und zwinkert freundlich. „Ich bin nicht hier, um etwas zu kaufen, zumindest nichts, das man essen kann.“, erwidere ich.
Ihr Lächeln verschwindet und sie verdreht ihre Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar ist. Als ihre Pupillen wieder zurückkehren, sind sie Sonnenblumengelb und haben die Form von Sternen. Für einen kurzen Moment scheint sie zu überlegen, dann deutet sie mir mit einem Nicken an, ihr zu folgen. Ein kleines Glöckchen klingelt, als wir die Bäckerei betreten. Die Seherin führt mich an der himmelblau gestrichenen Theke vorbei in den hinteren Teil der Backstube. Schlagartig nimmt der Geruch von Zimt und Zitronen zu, während wir Einmachgläser in allen Formen, Farben und Größen passieren. Erste Regentropfen, getrocknete Libellenblüten, Herz eines gebrochenen Geistes, lese ich in verschnörkelter Schrift auf den Etiketten. Nervös und auch ein wenig neugierig folge ich der rundlichen Frau eine dunkle Treppe hinunter. Vor einer ebenhölzernen Tür hält sie an. „Warte hier.“ Mit einem leisen Quietschen öffnet sie die Tür und schlüpft hindurch. Ich warte. Es ist erstaunlich kalt. Eine Gänsehaut breitet sich über meine Arme aus. Mit einem erneuten Quietschen öffnet sich die Tür wieder und die Seherin bedeutet mir hindurchzutreten.
Fasziniert schaue ich mich in dem kleinen Raum dahinter um. Überall hängen und stehen goldene Käfige und ein Zwitschern und Summen hängt in der Luft, zusammen mit dem Geruch von Zimt und Zitronen. Ich erkenne den Raum von einem der Bilder in meinem Kopf. Die moosgrüne Tapete mit dem altmodischen Blumenmuster, die abgenutzten Kommoden, der glitzernde Kronleuchter, die goldenen Käfige und vor allem der protzige, mit grünem Samt bezogene Sessel inmitten der Käfige. Alles ist wie auf meinem Bild, nur der knochige Mann auf dem Sessel ist neu. Er trägt einen schwarzen Anzug. Aus seiner Tasche hängt eine glänzende Kette, die vermutlich zu einer Uhr gehört. Auf seinem Kopf thront ein Zylinder und seine dürren Finger krallen sich um einen dunklen Gehstock. Ein wissendes Grinsen liegt auf seinen dünnen Lippen und seine pechschwarzen Augen liegen tief in ihren Höhlen. Auf den ersten Blick sieht er aus, wie ein ganz normaler Sterblicher, doch der Schein täuscht nur allzu oft und ich werde den Teufel tun und ihn unterschätzen.
„Was sucht ein so junges und hübsches Mädchen so tief unter der Erde?“ Seine schnarrende Stimme jagt erneut eine Gänsehaut über meine Arme.“
„Ich will etwas, das nur du hast.“, sage ich bestimmt und lasse meinen Blick über die Käfige wandern. „Nein. Du brauchst etwas, das nur ich habe.“
Eine Sekunde später steht er vor mir. Ich zucke zusammen. Ein Zeitkrümmer. Dann ist er wieder weg und taucht mit einem kleinen goldenen Käfig erneut vor mir auf. „Ich habe, was du willst und ich bin auch bereit, es dir zu verkaufen. Für einen passenden Preis versteht sich.“ Ein raues Lachen klettert seine Kehle empor und verwandelt sich in ein heißeres Husten. „Nenne mir deinen Preis.“ Ich versuche, gelassen zu wirken, doch sein hinterlistiges Grinsen verrät, dass er mich durchschaut. „Wie wäre es mit einer deiner liebsten Erinnerung, oder zwei Tagen deiner Lebenszeit? Wann und wo auch immer ich es verlange. Zu wenig. Nein, mein Gefühl sagt mir, dass du zu allem bereit wärst, um zu bekommen, was du willst.“ Langsam schleicht er um mich herum. „Gib mir eine Welt.“ Gierig greift er nach den Planeten, die meinen Kopf umkreisen. Erschrocken weiche ich zurück. Nein, diese Welten sind ein Teil von mir. Ich kann sie ihm nicht geben. Jede einzelne habe ich anhand einer Erinnerung, eines Gefühls erschaffen. „Nenne mir einen anderen Preis.“, zische ich. „Eine Welt für den letzten fliegenden Schlüssel.“ Er lässt den kleinen Käfig vor meinen Augen baumeln. Darin schwirrt ein filigran gearbeiteter Schlüssel. Hektisch schlägt er mit seinen schwarzen Rabenflügeln. Ich brauche diesen Schlüssel. Jeder, dem ich die Erlaubnis erteile eine meiner Welten zu betreten, kann diese nach Belieben wieder verlassen. Ich kann niemanden dazu zwingen, für immer dort zu bleiben und doch ist es meine einzige Möglichkeit. Ich brauche diesen Schlüssel, um eine meiner Welten für immer zu verschließen, oder wenigstens so lang, bis sich die Prophezeiung erfüllt. Ich brauche diesen Schlüssel, um sie zu retten. Mit einer Hand greife ich nach einem meiner Planeten. Er ist dunkelblau und umgeben von kleinen weißen Schäfchenwolken. Ein silberner Mond umkreist die Kugel mit einem leisen Surren. Der Planet der Träume. All meine Sehnsüchte, Träume und Wünsche haften dieser Welt an. Mit zitternden Fingern strecke ich dem Alten meine Welt entgegen. Eine stille Träne rollt über meine Wange, als er sie mit seiner knochigen Hand umschließt und mir den fliegenden Schlüssel überreicht. Schnell stecke ich ihn in meine Tasche. „War mir ein Vergnügen, mit Euch Geschäfte zu machen.“ Er tippt sich an den Hut und verschwindet.
Wie in Trance verlasse ich die Bäckerei. Sofort brechen die aufgeregten Stimmen der Marktbesucher über mich herein. Ich fühle mich, als hätte ich einen Teil meiner Seele verkauft. Wut macht sich in mir breit. Wut auf den tyrannischen Bastard, der für all das verantwortlich ist. Entschlossen gehe ich weiter. Ich werde ihn aufhalten, koste es, was es wolle. Alles, was ich dafür brauche, sind drei Gegenstände, und den Schlüssel habe ich bereits. Erneut schließe ich meine Augen und lasse mich von dem Bild in meinem Kopf die Straße entlangführen, bis meine Füße auf einem weichen Untergrund zum Stehen kommen. Ich öffne die Augen und blicke auf ein Meer wilder Blumen und Kräuter. Ich stehe auf einer weichen Fußmatte aus Wolle und lausche dem Summen der Bienen, die durch den Laden fliegen. Eine kleine Fee mit Schmetterlingsflügeln bringt mich ohne ein Wort in einen bunten Garten, in dessen Mitte eine Quelle sprudelt. Ich stelle keine Fragen. In der Quelle steht eine hübsche Frau. Ihre blonden Locken ringeln sich bis zu ihren Knöcheln und sie trägt ein meerwasserblaues Sommerkleid. Auf ihrer Nase tanzen tausende Sommersprossen und wenn sie sich bewegt, glitzern silberne Schuppen auf ihrer Haut. „Komm zu mir.“ Ihre Stimme legt sich über mich wie eine schwere Decke und meine Füße folgen ihrem Befehl. „Ich habe auf dich gewartet.“, flüstert sie, als ich vor ihr stehe und in den Tiefen ihrer Augen versinke. „Was du von mir willst, ist äußerst wertvoll.“ Zärtlich legt sie eine Hand an meine Wange. „Ich gebe dir ein Jahr meines Lebens.“, hauche ich. Ihr glockenhelles Lachen perlt über meinen Geist und ein Gefühl des Glücks macht sich in mir breit. „Naives, kleines Mädchen. Meine Gabe ist weitaus wertvoller als ein Jahr deines erbärmlichen Lebens.“ Sie packt mein Gesicht und ich stolpere zu ihr in die Quelle. Das Wasser umspült meine Beine und hangelt sich am Stoff meines Kleides nach oben. „Ich möchte etwas sehr viel Kostbareres.“ In ihren Augen zieht ein Sturm auf und ich winde mich aus ihren Händen. „Ich gebe dir fünf Jahre meines Lebens und meine größten Ängste.“ Erneut wirft sie den Kopf in den Nacken und lacht, doch diesmal klingt das Lachen wie das Klirren von berstendem Glas. „Dein Leben ist mir egal und deine Ängste kann ich dir an der Nasenspitze ablesen. Was ich will, ist eine eigene Welt.“ Ich wusste es. Tief in meinem Inneren wusste ich es. „Eine Welt für ein neues Leben.“, säuselt sie und wickelt eine meiner Haarsträhnen um ihren Finger. Unwillkürlich lege ich meine Hand auf die leichte Wölbung meines Bauchs. „Woher wusstest –“, setze ich an, unterbreche mich dann jedoch selbst. „Eine Welt für deine ungeborene Tochter.“, zischt sie.
Die Kugel in meiner Hand schimmert weiß und einzelne Schneeflocken wirbeln um sie herum. Mein erster Kuss. Meine erste Liebe. All die Erinnerung an den kalten Wintertag, an dem er mir seine Liebe gestand. Mein Herz zerreißt beinahe, als ich ihr meine Welt überreiche. Im Gegenzug pflückt sie eine der perlmuttfarbenen Perlen aus ihrem Haar, hält sie an ihre Stirn und überreicht sie mir. Ich stecke sie zu dem fliegenden Schlüssel in meine Tasche und rausche ohne ein weiteres Wort davon. Wie ich ihn doch hasse. Ein Schlüssel und eine Perle. Ich rufe das Bild zu mir, dass mich zu meinem letzten Gegenstand bringen soll. Ich erkenne den Ort wieder und sofort zieht sich alles in mir zusammen. Ich blicke in den Himmel. Der Mond macht sich bereits auf den Weg. Ich muss mich beeilen. Mit großen Schritten lasse ich die vollen Straßen hinter mir. Außer Atem erreiche ich das sandsteinerne Herrenhaus, das mir einst so vertraut war und mich jetzt schlucken lässt. Langsam schleiche ich über den knirschenden Kies, bis ich an der großen Eingangstür ankomme. Mein Herz wird schwer und meine Augen brennen. Meine Hand zittert, als ich sie hebe, um zu klopfen. Die Narbe ist einfach noch zu frisch und ich lasse meine Faust wieder fallen. Ein Schluchzen entfährt mir. Mit einem Knall öffnet sich die Tür vor mir. Ein junger Mann mit schwarzem Haar, das in seinem Nacken zu einem Zopf gebunden ist, steht vor mir. Dunkle Ringe liegen unter seinen Augen. „Ida, was tust du hier?“, fragt er schroff. „Ich, ich muss ihn aufhalten. Er wird sie umbringen.“, keuche ich und presse meine Hand auf meinen Bauch. Tränen strömen ungehindert über meine Wangen. „Um ihn aufzuhalten – “ „Ich habe den Schlüssel und die Perlen.“, unterbreche ich ihn. „Gib mir nur den Kompass und ich halte ihn auf.“, flehe ich. Ich erkenne Mitleid in seinem Blick. Ich brauche kein Mitleid. Ich brauche den Kompass. Der Kompass, der mir zeigen wird, wo er ist. „Bitte, ich gebe dir mein halbes Leben dafür. Lass mich ihn nur aufhalten.“ Er zieht mich ins Haus und schließt die schwere Tür. „Ich will dein Leben nicht.“, sagt er nüchtern. Ich wusste es. Ohne zu zögern, greife ich nach einem Planeten und reiße ihn aus seiner Bahn. Es ist mir egal. Ich muss meine Tochter retten. Er steht einfach nur da. „Nimm ihn.“, schreie ich ihn an und reiße einen weiteren Planeten aus seiner Bahn. Welt für Welt reiße ich mich auseinander. „Ida, hör auf!“ Er nimmt mir die Planeten aus den Händen uns setzt sie behutsam zurück in ihre Laufbahn. Dann zieht er mich an sich. „Ich will dein Leben und deine Welten nicht. Lass mich dir helfen. Alles, was ich von dir will, ist dass du mich mitnimmst. Zusammen können wir meinen Bruder aufhalten.“ „Ich habe ihn geliebt.“, wispere ich und vergrabe meinen Kopf an seiner Schulter. „Ich weiß, und er hat dich auch geliebt, aber irgendetwas hat ihn zerstört. Wir bringen ihn wieder zurück.“ „Versprichst du es mir?“ „Ich verspreche es.“
Zu dieser Geschichte gibt es 2 Kommentare
Einen Kommentar hinterlassenDeine Geschichte, wow
WOW!!! Einfach wow, anders kann man es nicht bezeichnen