Die kleine Geschichte, die niemand mehr lesen wollte

Escrito por Hannah Braucks

Es war einmal eine kleine Geschichte. Sie war lustig, aber auch ein bisschen traurig. Sie war Mut machend, aber auch ein bisschen spannend. Kurzum: Sie war so, wie eine gute Geschichte eben sein muss.
Und so kam es, dass viele Menschen sie lasen: sehr alte und sehr junge Menschen. Griesgrämige Menschen und solche, die Angst vor vielen Dingen haben. Traurige Menschen, die jemanden vermissen. Und glückliche Menschen, die das Leben genießen. Ja, sie alle liebten die kleine Geschichte. Denn sie tat den Menschen gut: Die Griesgrämigen wurden ein bisschen weniger griesgrämig. Die Angsterfüllten wurden ein bisschen weniger ängstlich. Die Traurigen fühlten sich getröstet. Ja und die Glücklichen lernten ihr Glück mit anderen zu teilen.

So führte die kleine Geschichte ein Leben wie es sich jede Geschichte wünscht.

Eines Tages jedoch wachte die kleine Geschichte auf und spürte, dass etwas anders war als sonst. Ihre Seiten waren nicht mehr so strahlend weiß, die Buchstaben waren weniger leuchtend schwarz und hier und da fehlte sogar ein ganzes Wort.

„Irgendetwas stimmt nicht“, murmelte die kleine Geschichte. Sie musste sich einen Rat einholen. Und so ging sie zu einer alten Geschichte, die schon hunderte von Jahren gelesen wurde. Wenn irgendjemand der kleinen Geschichte helfen könnte, dann sie.

Die kleine Geschichte sagte: „Meine Seiten sind nicht mehr so strahlend weiß und mir fehlen Buchstaben und Wörter. Was ist denn bloß los mit mir?“

Die alte Geschichte machte ein trauriges Gesicht, holte tief Luft und antwortete:
„Die Menschen haben aufgehört dich zu lesen. Sie vergessen dich. Und irgendwann, wenn der letzte Mensch dich vergessen hat, dann wirst du ganz verschwinden.“

Die kleine Geschichte erstarrte vor Angst. Wie konnten die Menschen sie denn bloß vergessen? Das durfte nicht passieren. Schnell lief sie los, um sich den Menschen zu zeigen. Sie lief in jede Buchhandlung, in jedes Kinderzimmer, jede Schule und jedes Altenheim. Sie irrte durch die großen Cafés und die langen Züge an den Bahnhöfen - doch es war vergebens. Niemand bemerkte die kleine Geschichte. Alle Menschen schienen viel zu beschäftigt, sie schauten nicht einmal hoch, als die kleine Geschichte an ihnen vorbei huschte.

Nach einigen Stunden verließ die kleine Geschichte der Mut. Sie kauerte sich in einer dunklen Ecke nieder.
„Sie werden mich vergessen“, schluchzte sie. „Sie werden mich vergessen.“

Die Zeit verging. Jeden Morgen erwachte die kleine Geschichte und jeden Morgen waren ihre Seiten weniger strahlend weiß und ihre Buchstaben weniger leuchtend schwarz.

Irgendwann war nur noch ein einziger Buchstabe übrig.

„Morgen ist es so weit. Morgen wird mich auch der letzte Mensch vergessen haben“, weinte die kleine Geschichte. Und während sie in der dunklen Ecke darauf wartete, vergessen zu werden, spürte sie es auf einmal. Eine warme Hand schloss sich um ihren letzten, schwach leuchtenden Buchstaben. Die kleine Geschichte blinzelte und erkannte einen Jungen mit braunen, lockigen Haaren, einer Stupsnase und großen, dunklen Augen, die ganz erstaunt dreinblickten.
„Nanu“, murmelte er. „Was ist denn das?“
Der Junge hob die kleine Geschichte vorsichtig auf und betrachtete sie. Irgendwann sagte er:
„Du erinnerst mich an eine kleine Geschichte, die mir mein Großvater vorgelesen hat.“
Er schwieg einen Moment, ehe ein Leuchten in seine Augen trat. Dann begann der Junge zu erzählen. Er erzählte eine kleine Geschichte, eine Geschichte, die lustig, aber auch ein bisschen traurig, Mut machend, aber auch ein bisschen spannend ist.
Kurzum: Er erzählte eine Geschichte, die genauso ist, wie eine gute Geschichte eben sein muss. Und während er das tat, wurden die Seiten der kleinen Geschichte strahlend weiß und füllten sich mit leuchtend schwarzen Buchstaben. Als der Junge geendet hatte, lächelte er. Seine warmen Hände schlossen sich noch immer um die kleine Geschichte.
Er flüsterte: „Dich nehme ich mit. Ich muss dich weitererzählen.“

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