Hinter verzauberten Fenstern

Hinter verzauberten Fenstern

Ein Adventskalender mit Bildern und ohne Schokolade? Klingt ziemlich enttäuschend. Doch wenn hinter den Fenstern mehr als nur Bilder stecken…

Es ist manchmal wirklich nicht einfach, wenn man einen kleinen Bruder hat. Julia ist neidisch auf ihren kleinen Bruder Olli. Der hat nämlich einen mit Schokolade gefüllten Adventskalender bekommen und sie nur so ein blödes Ding aus Papier.

Es stimmt schon, dass ihrer viel, viel schöner ist. Nur, was nützt es einem, wenn das Haus auf dem Kalender ganz wunderbar geheimnisvoll glitzert und schimmert, wenn man doch viel lieber einen Schokoladenkalender gehabt hätte? Julia findet bald heraus, dass der Kalender bewohnt ist und sie die Menschen, die darin leben, besuchen kann. Und das ist am Ende doch viel spannender, als so ein blödes Adventskalenderding, das nur mit Schokolade gefüllt ist.

Julia sprang die Treppe hinunter. Ihr Zimmer war das einzige unterm Dach. Zuerst hatte sie das gruselig gefunden, aber inzwischen gefiel es ihr. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal. Sie wusste, das konnte Olli ihr nicht nachmachen. Als sie atemlos die Haustür erreichte, hörte sie draußen ihre Mutter fluchen. Sie fand mal wieder den Schlüssel nicht. Julia öffnete die Tür. Mama stand verfroren und zerzaust da, inmitten von voll gepackten Taschen und Tüten. Ihr einer Arm steckte bis zum Ellbogen in einer Tasche und wühlte verzweifelt darin herum. "Stell schon mal was in die Küche", stieß sie hervor und zog den Arm aus der Tasche. Ohne Schlüssel. "Mama, hast du meinen Kalender?", fragte Julia. "Alles nach der Reihe. Ich darf doch wohl erst mal zu Atem kommen, oder?" Schlechte Laune. Sie hatte schlechte Laune. Wie erwartet.

Wortlos schleppte Julia eine Tüte in die Küche. Olli hatte es plötzlich gar nicht eilig, die Treppe runterzukommen. "Wo ist euer Vater?" "Der hat sich nach der Arbeit hingelegt." "Hm." Ihre Mutter nickte und zog sich die schneenassen Sachen aus. Sie schüttelte die letzten Schneeflocken aus ihrem kurzen dunklen Haar und putzte sich die rote Nase. "So!" sagte sie dann und rieb sich die Hände. "Jetzt mach ich mir erst mal einen Kaffee. Wollt ihr Kakao?" Julia suchte mit den Augen die Taschen ab. "Mama, bitte! Wo ist der Kalender?" Ihre Mutter ging zur Kaffeemaschine und goss Wasser hinein. "Eigentlich sollt ihr sie ja erst morgen bekommen", sagte sie. Julia warf Olli einen verzweifelten Blick zu. Der schaute grinsend zurück. Er verstand es meisterhaft, ihre Mutter um seinen klitzekleinen Finger zu wickeln. Und das wusste er. "Ach, Mama, bitte!" sagte er. "Wir haben uns schon so darauf gefreut!" Große bittende Augen. Schiefgelegter Kopf. Breites – oberbreites Lächeln. Absolut unwiderstehlich! Ihre Mutter drehte sich um , sah Olli an – und musste lachen. Er hatte mal wieder gewonnen.

Mama griff in die größte Tüte, zog vorsichtig zwei Kalender heraus und legte sie nebeneinander auf den Küchentisch. Der eine sah fast genauso aus wie der, den Julia letztes Jahr bekommen hatte. Mit einem dickem Nikolaus und kleinen Engeln und Tieren und Tannenbäumen und einem Schlitten voller Geschenke. Na ja, eben wunderschön. Eindeutig ein dicker, fetter, herrlicher Schokoladenkalender. Aber der andere – Julia runzelte die Stirn – der andere sah komisch aus. Erstens war weit und breit nichts von einem Nikolaus zu sehen. Und es gab auch keine Engel oder Tiere. Es gab nur ein großes Haus. Irgendein blödes, dunkles Haus mit ein paar blöden Bäumen drumrum. Sonst nichts. Absolut nichts. Und zweitens – das war das Schlimmste, der Kalender war zu dünn. Julia fasste prüfend die Kante an. Keine Frage. Da passte nicht mal das klitzekleinste Schokoladentäfelchen rein. "So, der ist für dich", sagte Mama. Strahlend nahm Olli den dicken, fetten Schokoladenkalender entgegen. Sie hatte es gewusst. Schon als Mama den komischen Kalender auf den Tisch gelegt hatte.

Julia kniff die Lippen zusammen und warf ihrer Mutter den finstersten Blick zu, den sie zustande brachte. "Und der hier ist für dich, Julia", sagte Mama und lächelte dabei auch noch stolz. "Das ist ja überhaupt kein Schokoladenkalender", sagte Julia und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. "Den will ich nicht." Ihre Mutter guckte furchtbar enttäuscht. "Aber ich dachte ..." sie hob ratlos die Augenbrauen, "ich dachte , du bist jetzt schon zu groß für diese ..." "Ich bin doch erst neun!" sagte Julia empört und warf ihrem Bruder einen hasserfüllten Blick zu.