Igraine Ohnefurcht

Igraine Ohnefurcht

Zauberer-Tochter Igraine träumt von einem Ritterleben. Ein falscher Zauberspruch stellt alles auf den Kopf und plötzlich steckt sie mittendrin in einem echten Ritterabenteuer.

Auf Burg Bibernell ist wirklich was los! Jeder Stein hat sein Geheimnis, und selbst der Burggraben birgt mehr als nur Wasser mit Entengrütze. Hier wohnt Igraine mit ihrem großen Bruder und ihren Eltern. Zu Igraines Leidwesen beschäftigt sich ihre Familie lieber mit der Zauberei als mit den ritterlichen Pflichten. Igraine möchte nämlich nichts lieber, als eine berühmte Ritterin werden! Doch dazu muss sie erst einmal ein richtiges Abenteuer bestehen. Das lässt auch nicht lange auf sich warten: Kurz nach Igraines Geburtstag wird die Burg von Feinden belagert! Ihre Eltern sind leider keine Hilfe, denn durch einen kleinen "Zauber-Unfall" haben sie sich ausgerechnet in Schweine verwandelt. Aber Igraine hat die rettende Idee ...

Bis zum Abend hatten alle auf Bibernell Bertrams schlechte Nachrichten vergessen. Die Geburtstagsvorbereitungen waren in vollem Gange. Aus dem Turmfenster trieb immer wieder bunter Rauch über den Hof, und Igraine schlich noch einige Male die Turmtreppen hinauf, um an der dicken Eichentür zu lauschen. Schließlich erwischte Albert sie, weil genau vor der Tür ihr Helmvisier zuklappte. Durch die ganze Burg jagte er sie bis in ihr Zimmer. Dann verschloss er die Tür mit einem Zauberspruch und machte sich laut pfeifend wieder auf den Weg zum Zauberzimmer.

Sobald er weg war, versuchte Igraine aus dem Fenster zu klettern, aber als sie einen Fuß auf die Brüstung setzte, spannen drei fette, giftgrüne Spinnen ein Netz vor ihrer Nase. Albert wusste genau, wovor seine kleine Schwester Angst hatte. Und Igraine konnte nur noch dasitzen und auf ihren Geburtstag warten.

Irgendwann, als der Mond schon über dem Burgturm stand, zog sie ihr Kettenhemd aus und legte sich aufs Bett. Während Sisifus auf ihrem Bauch schnurrte, lauschte Igraine den seltsamen Gesängen, die der Nachtwind vom Turm herüberwehte. Erst grübelte sie nur über ihr Geschenk nach, aber plötzlich musste sie wieder an Bertrams besorgtes Gesicht denken. Sie versuchte sich diesen Gilgalad vorzustellen und seinen Burgvogt mit den Eisenstacheln auf der Rüstung. Jetzt würde vielleicht doch bald etwas passieren auf der Bibernellburg, aber Igraine war sich nicht sicher, ob sie sich darauf freuen sollte.

Unruhig, den Kopf voll schwerer Gedanken, drehte sie sich auf dem Bett von einer Seite auf die andere. Ob die Baronin wirklich auf Wallfahrt gegangen ist, ohne sich von Lancelot zu verabschieden, dachte sie noch. Dann schlief sie ein.

Mitten in der Nacht schrak sie davon auf, dass Albert die Tür aufstieß und mit einer Laterne in ihr dunkles Zimmer trat. "Was ist?", fragte Igraine verschlafen und schob Sisifus von ihrem Bauch herunter. Albert räusperte sich verlegen und strich sich rosa Puderzucker aus dem wirren Haar. "Ähm, ja, also", er räusperte sich noch mal, "es ist uns ein kleiner Zauberfehler unterlaufen, ein Versprecher, so was kann passieren, weißt du ..." Wie der Blitz sprang Igraine aus dem Bett, lief zum Fenster und sah hinaus. Aber der Burghof lag ganz friedlich und still im Mondlicht, und der Turm war auch nicht schiefer als sonst.

"Was für ein Fehler?", fragte sie und drehte sich misstrauisch zu Albert um. "Ist mein Geburtstagsgeschenk geplatzt?" "O nein. Nein, nein!" antwortete Albert hastig. "Dein Geburtstagsgeschenk ist fertig. Es ist – ähm – es ist wunderbar geworden, nur, nur ...", er fuhr sich schon wieder durchs Haar, "nur als wir ihm den letzten Schliff geben wollten, da hat Mama sich versprochen, und da ist es eben passiert." "Was?", rief Igraine. "Was ist passiert, zum Teufel?" "Das wirst du gleich sehen", sagte Albert, nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her durch die stockdunkle Burg, über den mondhellen Hof und die Turmtreppen hinauf, bis sie vor der Tür des Zauberzimmers standen.

Mit zerknirschter Miene stieß Albert sie auf. Die Zauberbücher liefen in heller Aufregung durcheinander, fuchtelten mit den Armen und brabbelten vor sich hin. Zwischen Gläsern voller Blätter, Blüten und zermahlenen Steinen standen zwei Schweine, ein schwarzes und ein rosarotes. "Hallo Honigkind", sagte das schwarze Schwein mit der wunderbar weichen Stimme der schönen Melisande. "Ziemliches Schlamassel das, was?", sagte das rosa Schwein mit der Stimme von Sir Lamorak.

Igraine schnappte nach Luft, riss die Augen so weit auf, dass sie ihr fast aus dem Kopf sprangen – und brachte keinen Ton heraus. "Dein Geschenk ist schon so gut wie fertig", sagte Sir Lamorak. "Es fehlte nur noch eine Kleinigkeit. Seid doch mal bitte still, Bücher!" Die Zauberbücher setzten sich beleidigt auf den Teppich und schmollten. "Sieh mal, Honigkind", sagte das schwarze Schwein und trippelte zu einem riesigen Paket, das in Sir Lamoraks Zaubersessel lag. "Albert hat es noch schnell verpackt, bevor er dich geweckt hat. Willst du es jetzt oder nach dem Frühstück auswickeln?" Verdaddert guckte Igraine erst das riesige Paket und dann ihre borstige, ringelschwänzige Mutter an. "Ich pack es lieber aus, wenn ihr euch wieder zurückverwandelt habt, Mama", sagte sie. Die Zauberbücher brachen in spöttisches Gelächter aus.

Als ich begann, "Igraine Ohnefurcht" zu schreiben, hatte ich mit "Drachenreiter" gerade mein erstes laaanges Buch beendet, und Igraine sollte eigentlich nur an die 60 Seiten lang werden. Geschriebene Erholung nach einem Jahr auf dem Drachenrücken, kaum mehr als ein Spiel. Eine kleine Liebeserklärung an das Buch, das ich mit auf die einsame Insel nehmen würde, wenn ich nur eines einpacken dürfte: Terence Hanbury Whites "Der König auf Camelot", das ich mit 16 in der wunderschönen Ausgabe von Klett-Cotta las.

"Der König auf Camelot" ist bis heute für mich der beste fantastische Roman, der jemals geschrieben wurde und die beste Nacherzählung des Artus-Mythos, die ich kenne.

Also — inspiriert von Merlins lebendigem Zuckertopf — begann ich von den Zauberbüchern auf Bibernell zu erzählen, von dem Mädchen, das so viel lieber ein Ritter als ein Zauberer werden will (ich glaube, ich wäre auch lieber ein Ritter — hm, nein, vielleicht wäre ich am liebsten beides zur gleichen Zeit!), und aus 60 geplanten Seiten wurden mehr als 200. Ich zeichnete meine besten Illustrationen (ich glaube, erst die Reckless-Illustrationen sind wieder genauso gut), und mein Mann und ich layouteten das ganze Buch, verteilten Mäuse und Zauberbücher auf den Seiten und gestalteten das ganze Buch zusammen, was ich noch nie so ausführlich getan hatte.

"Igraine Ohnefurcht" ist eins meiner heimlichen Lieblinge unter all den Büchern, die ich inzwischen geschrieben habe. Ich habe oft über eine Fortsetzung nachgedacht und ich liebe den Traurigen Ritter, der nicht möglich wäre ohne T.H.Whites Lancelot, der denkt, dass er ein schlechter Mensch sein muss, weil er ein so hässliches Gesicht hat.

In Bamberg gab es eine wunderbare Theaterfassung, und ich habe noch andere fantastische Inszenierungen gesehen, eine mit echten Pferden und einer Rutsche, auf der die Bücher einen Hang hinunterschlitterten.

Ziemlich unvergesslich.

Also — an manchen Tagen wäre ich gern Igraine oder der Traurige Ritter. Oder hätte einen Riesen wie Gawain, der mich hochhebt und etwas herumträgt.

Und ich hoffe, ihr alle lest irgendwann "Der König auf Camelot" und liebt es ebenso wie ich, denn es hat alles, was eine gute Geschichte haben sollte.

Es ist unendlich komisch und unendlich traurig und sehr weise.