Das gebrochene Herz: Rache
Geschrieben von Marystein
Sie war schon immer anders gewesen. Andere Mädchen in ihrem Alter interessierten sich für Jungs, Schminke, Filme. So was halt. Aber Lydia nicht. Sie mochte die moderne nicht sonderlich. Alles war so laut, schnell, hektisch. Immer musste es das neueste, beste, schnellste, das teuerste sein. Ähnlich war es mit dem Leben. Niemand hiehlt inne um das Leben zu genießen. Jeder wollte gewinnen, doch wo ein Sieger war, war auch immer ein Verlierer. Das hatte Lydia schon früh gelernt, denn sie war einem Waisenhaus aufgewachsen. Das Leben dort war nicht schlecht, aber nicht immer leicht. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall kurz nach ihrer Geburt umgekommen.
Seit einigen Jahren ging sie auf ein Gymnasium in der Stadt. Freunde hatte sie kaum. Im Unterricht saß sie in der letzten Reihe und war meist still, obwohl sie alles wusste, wenn ein Lehrer sie mal dran nahm. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihre Mitschüler sie gar nicht wirklich sahen. Sie war das stille, blasse Mädchen, mit den hüftlangen, glatten schwarzen Haaren und eisblauen Augen, das zwar immer da war, aber nie was sagte.
Nun stand die Klassenfahrt nach London an. Lydia mochte die Stadt. Sie war noch nie da gewesen, aber die Bilder sahen toll aus. Am Sonntag sollte es losgehen. Am Samstagabend, nach dem Abendessen, rief die Oberschwester des Waisenhauses, Schwester Katherina, Lydia zu sich. „Da ihr nach London fahrt, sehe ich mich gezwungen dir etwas zu sagen“, eröffnete die Oberschwester das Gespräch. Lydia sah sie überrascht und erwartungsvoll an. Schwester Katherina zögerte einen Moment bevor sie weitersprach. „Deine Eltern sind auf einem Friedhof in London beerdigt. Ich habe dir die Adresse rausgesucht. Vielleicht möchtest du sie besuchen?“ Sie reichte dem Mädchen einen Zettel. „Danke“, sagte Lydia tonlos und nahm den Zettel. Dann verließ sie das Zimmer. „Viel Spaß bei der Klassenfahrt!“, rief Schwester Katherina ihr nach, doch Lydia hörte die Worte wie durch Watte. Sie konnte ihre Eltern besuchen! Kamen ihre Eltern aus London? Das würde ihren Nachnamen erklären. Smith.
Das war alles ein Schock für Lydia. Ohne groß darüber nachzudenken, führten ihre Schritte sie in ihr Zimmer. Sie zog sich einen warmen Pulli über und schlich auf den Dachboden. Der Weg war ihr vertraut, darum konnte sie die knarzenden Stufen ohne Probleme überspringen und gelang ohne bemerkt zu werden auf den verstaubten Dachboden. Sie öffnete das letzte Fenster auf der linken Seite und stieg auf das Dach des Waisenhauses. Es gab dort einen kleinen Balkon, von dem niemand außer ihr wusste. Hier kam sie immer hin, wenn sie nachdenken musste. So auch heute. Sie setze sich hin und blickte hinauf zu den Sternen. Der Himmel war wolkenlos in dieser Nacht und die Sterne konnte man gut erkennen. Sie schienen so nah, doch sie waren so weit weg. Lydia fand die Sterne genauso faszinierend, wie die Natur. Es gab so eine große Vielfalt an Tieren und Pflanzen. Und die Sterne am Himmel waren unzählbar.
Es war kalt in dieser Nacht, doch das störte das Mädchen nicht. Sie dachte über das nach, was Schwester Katherina ihr gesagt hatte und auf einmal war sie aufgeregt, dass Grab ihrer Eltern zu besuchen. Sie blieb noch lange draußen sitzen, dachte nach und beobachtete die Sterne. Irgendwann wurde es Lydia aber doch zu kalt und sie ging in ihr Bett.
Am nächsten Morgen stand Lydia mit ihren Klassenkameraden am Busbahnhof. Die Stimmung war ausgelassen. Als der Bus kam, stieg die Klasse quatschend ein. Lydia saß am Fenster, der Platz neben ihr blieb frei und so hatte sie während der langen Fahrt ihre Ruhe. Als sie spät am Abend in London ankamen, war es schon dunkel und alle fielen direkt ins Bett. Die lange Fahrt war für alle anstrengend gewesen.
Am nächsten Morgen, nach einem ausgiebigen Frühstück, machte die Klasse eine Stadtrundfahrt mit einem der roten Doppeldeckerbusse. Den Nachmittag verbrachten sie in der Jugendherberge. Manche spielten Kicker oder Billard oder unterhielten sich über den Tag. Auch Lydia beteiligte sich ein wenig an den Gesprächen, doch nach kurzer Zeit zog sie sich zurück. Sie war aufgeregt und irgendwie auch nervös.
Ein neuer Tag brach an und am Vormittag besuchten sie das London Eye und die Tower Bridge. Den Nachmittag hatten sie zur freien Verfügung. Also machte Lydia sich auf den Weg zu der Adresse, die ihr Schwester Katherina aufgeschrieben hatte. Direkt neben dem Friedhofstor war ein kleines Häuschen. Ein alter Mann saß in dem Häuschen und lächelte Lydia an. „Guten Tag junge Dame. Wie kann ich ihnen helfen?“. Siedend heiß fiel Lydia ein, dass sie gar nichts für das Grab ihrer Eltern hatte. Aber hinter dem Mann standen Kerzen in einem Regal, die er offenbar verkaufte. „Ich hätte gerne eine von den mittleren Kerzen“. Der Mann gab ihr eine und sie bezahlte. Sie hatte sich schon umgedreht, als ihr auffiel, dass sie gar nicht wusste wo das Grab ihrer Eltern lag. Noch einmal wandte sie sich zu dem Mann um. „Ich würde gerne das Grab meiner Eltern besuchen. Aber ich weiß nicht, wo es ist“, sagte sie. „Wer waren denn ihre Eltern, Miss?“, erkundigte sich der Friedhofswächter. „John Smith. Meine Mutter hieß mit Vornamen Isabella, aber ihren Nachnamen weiß ich nicht.“ „Sie sind also die Tochter der beiden? Ich kann ihnen zeigen wo das Grab ihrer Eltern ist. Folgen sie mir bitte“, meinte der Friedhofswächter und führte Lydia quer über den Friedhof.
„Ich kannte ihre Mutter sehr gut. Sie war besonders.“ „Woher kannten sie meine Mutter denn?“ „Wie waren sehr gute Freunde. Seit ihrem Tod kümmere ich mich um ihr Lebenswerk. Du siehst ihr sehr ähnlich. Die Augen. Ihre Haut war auch so blass wie deine. Ihre Haare aber waren nicht so glatt wie deine. Ihre Locken standen ihr immer vom Kopf ab.“ Die Stimme des alten Mannes verklang, er lächelte selig, in Erinnerungen schwelgend. Nach einiger Zeit unterbrach Lydia das Schweigen zögerlich: „Ich habe leider keine Bilder von meinen Eltern. Darf ich fragen, was sie mit ‚ihrem Lebenswerk‘ meinten?“ Der Friedhofswächter schüttelte kurz den Kopf, als müsste er seine Gedanken kurz ordnen und erwiderte dann: „Ich muss dir das zeigen, es lässt sich nicht in Worte fassen. Wir sind gleich da“. Damit beschleunigte er seine Schritte noch einmal. Kurz darauf erreichten sie einen einzelnen, abseitsstehenden Grabstein. Darauf stand:
John Smith
Gestorben an den Folgen eines Verkehrsunfalls am 17.2.1999 im Alter von 17 Jahren.
Vor dem Grab stand eine einzelne Rose mit wunderschönen, schneeweißen Blüten. Sie rankte sich um den Grabstein. Lydia kniete sich neben das Grab und entzündete die Kerze. Einige Minuten saß sie schweigend vor dem Grab ihres Vaters. Dann erhob sie sich und blickte den Friedhofswächter fragend an, der respektvoll einige Schritte weiter weg stand und auf Lydia wartete. „Wo ist das Grab meiner Mutter?“ „Sie ist auch hier begraben“ „Aber-?“. Der Friedhofswächter unterbrach sie. „Ich weiß, ich weiß. Aber mit deiner Mutter war das kompliziert. Sie war kein Mensch, nein, sie war ein Engel.“. Verwirrt blickte Lydia den Mann an. Als er nichts erwiderte, fragte sie ihn ungläubig: „Sie meinen das ernst? Ein Engel? Mit Flügeln und so?“ „Ja. Aber sie und dein Vater haben sich geliebt. Als er starb, konnte sie nicht ohne mehr ihn leben. Ihr Herz brach entzwei und sie starb. Als sie starb, wuchs diese Rose.“ „Wow“ sagte Lydia nur. Diese Geschichte, konnte sie wahr sein? Sie klang so erfunden, aber in den Augen des alten Mannes sah sie nur Wahrheit. Warum sollte er sie auch anlügen? Ihr schossen die Tränen in die Augen. Sie musste sich setzten. Ihre Beine kamen ihr mit einem Mal wie Wackelpuddig vor.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder halbwegs gefasst hatte. Mit zitternden Knien stand sie auf. „Können sie mir das Lebenswerk meiner Mutter zeigen?", fragte Lydia den alten Mann stotternd. „Natürlich mein Kind, komm mit mir.“ Er führte sie zu einem Tor. Er holte etwas aus seiner Tasche. Was genau konnte Lydia nicht erkennen, sie war auf dem Weg wieder in Tränen ausgebrochen und sah jetzt alles nur noch undeutlich durch den Schleier der Tränen. Plötzlich spürte sie Schmerz zwischen ihren Schulterblättern explodieren. Dann wurde alles schwarz.
Wie sich herausstellte, war der alte Mann der Vater der Exfreundin von John Smith gewesen. John hatte seiner Tochter das Herz gebrochen und er hatte Rache gewollt. Darum hatte er die arme Lydia erstochen. Im Nachhinein tat ihm das sehr leid, und er stellte sich der Polizei freiwillig. Er kam lebenslänglich ins Gefängnis wegen Mord.
Zu dieser Geschichte gibt es 8 Kommentare
Einen Kommentar hinterlassenIch mag deine Kurzgeschichtenreihe. Während ich es lese, habe ich bunte Bilder vor meinen Augen. Mein Fehler war, dass ich erst mit dem zweiten Teil angefangen habe, darauf folgte der erste und dann der dritte. So wurde ich in die Story reingeworfen, aber nach und nach habe ich den Zusammenhang mitbekommen. Diese Geschichte ist so schön. Allerdings wusste ich gern, was in der Kindheit von Vater falschgelaufen ist, das er so gewalttätig ist. Wäre es nicht eigentlich die Aufgabe der wütenden Ex alle umzubringen? Oder ist die zwischen dem zweiten und dem dritten Teil gestorben? LG Brianna
Die Fortsetzung ist draußen!!!
Ohhh wOW !! Deine Geschichte ist mega gelungen. BITTE schreib noch eine FORTSETZUNG !!! Es ist etwas traurig was passiert, aber sie ist perfekt und mega spannend !!! :>
Ja, tu das unbedingt, Marystein! Wir sind nämlich echt gespannt...
Hi! Ich freue mich, dass euch beiden die Idee so gut gefällt! An Marystein: BITTE INFORMIERE CAMILLA UND MICH, WENN DIE NÄCHSTE GESCHICHTE ERSCHEINT!!!
Es freut mich, dass beide Teile so gut angekommen sind und ich werde deiner Idee, Marie-Luise, nachgehen und mir was dazu überlegen. An Camilla: ich bin letztes Jahr im Dezember 13 geworden.
Oh, Marystein! Fantastisch! Danke für diese Fortsetzung, die dem 1. Teil echt Konkurrenz macht! Ich liebe solche Geschichten, die verschiedene Hauptrollen und verschiedene Geschichten sind, aber doch sehr miteinander verwoben sind. So eine hab ich sogar auch mal geschrieben. Ich denke mal, es wird keinen dritten Teil geben? Falls doch oder du noch etwas anderes geschrieben hast, würde ich mich wirklich, wirklich, wirklich, wirklich freuen, wenn es hier erscheinen würde. Noch eine Frage am Rande: wie alt bist du? Viele Grüße, Camilla
WOW! Okay, nimm zurück, was ich gesagt habe!!! Ich habe gesagt (oder besser geschrieben) "ich finde dein Ende perfekt für diese Geschichte, es muss keine Fortsetzung geben", aber diese Geschichte ist so mega toll! Sie ist zwar traurig, aber einfach so wunderschön! Schreibe bitte noch viele Geschichten, und schreib bitte, wenn du eine neue veröffentlichst!!! Vielleicht schreibst du auch mal eine Geschichte über die Tochter des Mannes! Vielleicht wieso ihre und Johns Beziehung scheiterte! Aber das ist nur so eine Idee, der du nicht nachgehen musst! Mia-Luise