Eine andere Geschichte

Geschrieben von Alwine Ladner

Samuel war schon immer ein Träumer. Nie würde er zugeben, dass er am liebsten woanders wäre, als hier zu sein, mit ihr, in dieser kleinen, stickigen Hütte. Das Frühstück roch wunderbar. Der Speck brutzelte fleißig vor sich hin. Schon bald waren die Eier fertig zum servieren. Genau das störte ihn so gewaltig. Dabei hätte er das ganze auch selbst
zubereiten können. Es wurde ihm alles serviert, so als ob er ein Gast wäre in diesem Haus
und nicht Teil dieser Familie. Heute würde er gehen. Heute, so beschloss er, würde er sich eine neue Heimat suchen. War er denn nicht Samuel, der Zweitgeborene seiner Mutter? “Sie hat noch einen Sohn. Soll dieser doch das Haus hüten, die Mutter ernähren, wenn sie nicht mehr kann und diese dummen Hühner füttern!” Er würde nicht gehen um anderen weh zu tun, sondern um all den Verpflichtungen zu entfliehen und um seine unsichtbaren Wunden zu lecken. Er würde auch nichts mitnehmen, was ihn an andere erinnerte. Er hatte nicht viel. Das bisschen Besitz passte in einen Sack und eine kleine abgenutzte Ledertasche seines Erzeugers. Er würde einfach verschwinden, so als hätte es ihn nie gegeben. Aber so war es ja auch. Niemand wusste von seiner Existenz. Nur zwei Menschen auf dieser Welt wussten, dass er überhaupt geboren wurde. Der dritte, der davon gewusste haben sollte, hat sich bereits vor seinem Erscheinen verabschiedet. Samuel konnte ihn nicht fragen, warum er es getan hatte. Er hätte Samuel nie zeugen dürfen. Sein Geburtsland war grausam zu denjenigen, denen man das Leben nicht gönnt. Und was war das nur für ein Leben, voller Verstecken und Angst entdeckt zu werden.

Er lebte in einem Zimmer unter dem Haus. Sein Bett stand in einer Ecke, sein Tisch in der
anderen. Ein Fenster gab es nicht. Die einzigen Lichtstrahlen fielen durch den winzigen
Spalt in der Decke. Die Falltür war gleichzeitig Tür und Fenster zu seiner kleinen Welt. Staub und Dreck atmete er 15 Jahre lang ein. Klare, kalte Luft füllte seine Lungen für einige
Stunden am Abend, wenn er seinem älteren Bruder im Hof half. Oder zum Essen hochkam.
Er las Bücher, unzählige Male. Immer wieder die gleichen Zeilen über Pferde und Wälder.
Und wenn er eine Seite fertig gelesen hatte, schloß er die Augen und träumte sich genau an diese unbekannten und magischen Orte, wo er noch nie gewesen sein konnte. Und er hob seinen Kopf und spürte den leisen Regen auf seiner Haut. Die Tropfen raschelten an seinem Hut, rollten langsam herab und fielen an seinem Gesicht vorbei. Sie nahmen die Tränen mit, die seine Wangen durchnässten. Er wollte nicht traurig sein und vergrub die aufkommenden Gefühle tief unter seinem Herzen.

Und schon stand Samuel vor einer neuen Aufgabe. Wie sollte er denn jetzt weiter träumen,
wenn all seine Bücher dort unten liegen blieben. Würde sein Bruder diese finden und lesen? Unwichtig. Uninteressant. Unwahrscheinlich. Denn er war schon zu weit gegangen. Der Speck hatte seinen Duft verloren. Die Eier wurden auch ohne ihn gar. Als er aufstand und ging, bemerkte er nicht, dass seine Mutter nur so tat, als ob sie ihn nicht sah und hörte. Sie ließ ihn ziehen. Mütter wissen ganz genau wann es Zeit ist Abschied zu nehmen. Aber auch ihm wollte sie nicht von ihrem schweren Herzen erzählen. Als Samuels letzte Träne bereits getrocknet war und der Regen im Boden versickerte, war seine Mutter bereits tot. Das konnte er nicht wissen und würde es auch niemals erfahren. Er lächelte in sich hinein, froh entkommen zu sein. Frei weiterzukommen. Die Sonne wärmte sein Gemüt und so schritt er voran, gefolgt von seinen eigenen Gedanken und Vorahnungen. Als er zurück blickte, sah er sein Haus nicht mehr. “Besser so”, dachte er und ging einfach weiter. Wo er auch ankommen würde, so würde er Frieden finden. Und sein neues Ich erschaffen.

Jahre später dachte er zum ersten Mal an seine Heimat. Was wäre geschehen, wenn er sich
seinem Schicksal gefügt hätte. Wenn er doch nur keinen Mut in sich gespürt hätte. Er hätte
wahrscheinlich sehr getrauert und wäre grimmig geworden auf seine letzten Tage. Heute träumte er sich seine mögliche Zukunft so schön, wie er es sich nur vorstellen konnte. Seine Mutter lebte und er war nie an diesem Fleckchen Erde geboren worden. Er hatte dort
nie existiert. An seinem neuen Haus setzte er sich so oft es ging auf die einzige Stufe und
schloss seine Augen. Hier war er allein, aber glücklich. Samuel ging um zu bleiben. Samuel
war hier.

Zu dieser Geschichte gibt es 2 Kommentare

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Alwine Ladner – 17. April 2020

Vielen Dank, Julia!

Julia Löwenherz – 10. April 2020

Das ist eine sehr schöne Geschichte. Du hast sie ausführlich geschrieben und gute Wörter benutzt! LG Julia